Kaveh Yazdani, MiGAZIN, Antisemitismus, Rassismus, Einwanderung, Migration
Kaveh Yazdani © privat, Zeichnung: MiG

Doppelstandards

Rassismus im Gewand von Antisemitismus-Vorwürfen

Wegen teilweise jüd:innenfeindlichen Vorfällen auf Pro-Palästina-Demos sprechen manche Deutsche wieder vom importierten Antisemitismus. In Wahrheit kaschieren sie ihre Abscheu vor Einwanderung.

Von Donnerstag, 27.05.2021, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 26.05.2021, 18:46 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

In der letzten Woche haben eine Reihe von deutschen Politiker:innen, Journalist:innen und Akademiker:innen davon gesprochen, dass es in Deutschland ein migrantisches Antisemitismus-Problem gäbe. Sie behaupten, dass der heutige Antisemitismus insbesondere von Menschen mit muslimischem Hintergrund sowie muslimischen Zuwander:innen importiert worden sei, so zuletzt CDU-Chef Armin Laschet. Diese Behauptung ist nicht neu, wurde aber vor allem im Laufe der Demos nach Israels „Operation Protective Edge“ (2014) und im Zuge der „Flüchtlingskrise“ verstärkt von der Springer-Presse und konservativen Politiker:innen propagiert. In den Mainstream-Medien ist momentan weit und breit kaum eine kritische Stimme zu vernehmen, die diesen Diskurs infrage stellt. Scheinheiliger und meinungsverengender geht es wohl kaum noch.

Einige derselben Akteur:innen, die nichtweißen Menschen – in nicht wenigen Fällen sogar zu Recht – antijüdische Tendenzen unterstellen, haben selbst in ihrer Jugend antisemitische Stereotypen verbreitet oder noch vor kurzem den Hitlergruß gezeigt, etwa ein Ex-Vorsitzender der Jungen Union. Etliche von ihnen bedienen antisemitische Verschwörungstheorien oder verharmlosen rassistische Hetzjagden und antisemitische Gewalt wie diejenige in Chemnitz im Zuge dessen auch der Besitzer eines koscheren Restaurants angegriffen wurde (z.B. Hans-Georg Maaßen und AfD Mietglieder:nnen). Oder sie sitzen abends gelegentlich mit den Großeltern, Müttern und Vätern mit Nazivergangenheit und/oder mit Bekannten und Freund:innen mit Nazisympathien, rechtsextremen Gesinnungen und rassistischem Gedankengut am (Stamm)tisch, ohne ein kritisches Wort über deren Antisemitismus zu verlieren. In vielen deutschen Familien hängt ein Schleier des Schweigens über den Aktivitäten der eigenen Familienmitglieder während der NS-Zeit. Im Gegensatz zu den Protagonist:innen der 68-Bewegung, die sich kritisch mit der Nazivergangenheit ihrer Zeitgenoss:innen auseinandersetzten, ist es heute wieder häufig tabu, über die Rolle der Eltern und Großeltern zu sprechen. Doch wenn sich Migrant:innen jüd:innenfeindlich äußern, ist die Empörung vergleichsweise groß.

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„Unter dem Deckmantel von Antisemitismus-Vorwürfen stellen er und Gleichgesinnte nicht nur ihre rassistischen oder vorurteilsbehafteten Weltanschauungen zur Schau, sondern enthüllen dadurch zugleich ihre unverhohlene Doppelmoral.“

Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein, der zuletzt Menschen mit Migrationshintergrund und politisch links zu verortenden Personen des Antisemitismus bezichtigte, bagatellisiert und schweigt zu den jüngsten Vorfällen in der eigenen Partei. Unter dem Deckmantel von Antisemitismus-Vorwürfen stellen er und Gleichgesinnte nicht nur ihre rassistischen oder vorurteilsbehafteten Weltanschauungen zur Schau, sondern enthüllen dadurch zugleich ihre unverhohlene Doppelmoral. Auch Horst Seehofer und NRW Innenminister Herbert Reul fordern auf der einen Seite ein hartes Vorgehen gegen Antisemitismus, verhindern aber auf der anderen Seite wissenschaftliche Untersuchungen zu Rechtsextremismus und Antisemitismus innerhalb der Polizei.

Es ist eine Schande und nicht tolerierbar, wenn Synagogen angegriffen, Jüd:innen beschimpft und Parolen wie „scheiß Jude“ skandiert werden. Die Vermengung von Jüd:innentum und der israelischen Regierung ist nicht nur falsch und unsinnig, sondern ignoriert auch die Tatsache, dass viele Jüd:innen selbst zu den schärfsten Kritiker:innen Israels gehören.

Wenn nun aber Rechtsradikale, viele Konservative, einige Liberale und Grüne und selbst manche Linke gemeinsam in den Kanon einstimmen und die Einwanderung begrenzen wollen (z.B. Sahra Wagenknecht) oder – weil eine nicht unbedeutende Anzahl von Muslim:innen antijüdische Ressentiments hegen – vor dem „islamischen Antisemitismus“ warnen (z.B. Michael Wolffsohn und Gregor Gysi), schnellere Abschiebungen fordern (z.B. der frühere BND-Präsident Gerhard Schindler, CSU-Politiker Joachim Herrmann, Alexander Dobrindt und Markus Söder, Die Linke-Osnabrück, zahlreiche „Antideutsche“ und AfD Politiker:innen) und neue Hürden für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft fordern (z.B. Cem Özdemir), ist das nichts als Heuchelei. Auf einer Israel-Solidaritätskundgebung vom 20.5.21 hat Özdemir sogar die Aussage von Golda Meir – Ministerpräsidentin Israels von 1969 bis 1974  – zitiert: „Frieden wird es erst geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen“ und erntete dafür den tosenden Applaus der Demo-Teilnehmer:innen. All dies räumt nicht nur dem „migrantischen Antisemitismus“ den Vorrang ein, sondern verstärkt bzw. dient oftmals als Vorwand dafür, auch berechtigte Kritik an Israel zu delegitimieren und/oder dem anti-muslimischen und anti-palästinensischen Rassismus Vorschub zu leisten. Zudem kaschieren viele dabei ihre Abscheu vor steigender Zuwanderung hinter der vorgeblichen Angst vor dem „importierten“ Antisemitismus.

Wer heute als Deutsche:r aufgrund der jüngsten Vorkommnisse von misslungener Integration muslimischer Menschen spricht, sollte sich vielleicht erst einmal an die eigene Nase fassen und nicht den Jüd:innenhass von Nichtweißen dazu nutzen vom Antisemitismus und Rassismus der gesellschaftlichen Mitte abzulenken, wie es momentan gerade geschieht. Die aktuellen Nachwirkungen der NS-Diktatur und das Wiederaufleben faschistischer Tendenzen der weißen Mehrheitsgesellschaft sind bei weitem besorgniserregender als die Jüd:innenfeindschaft migrantisierter Bevölkerungsgruppen, die weder für die Morde in Hanau noch in Halle verantwortlich war.

„Das was verschwiegen, ignoriert oder vernachlässigt wird, sagt oftmals mehr über Mensch, Gesellschaft und System aus, als das, was tatsächlich zur Sprache gebracht und in Angriff genommen wird.“

Es ist bezeichnend, dass fast wöchentlich rassistische und/oder antisemitische Gesinnungen und Taten von und innerhalb der Polizei, Bundeswehr und des Verfassungsschutzes an die Öffentlichkeit gelangen; dass nichtweiße Menschen sich in Deutschland alles andere als sicher fühlen können und institutionell diskriminiert werden; dass die EU für den Tod von Tausenden Geflüchteten im Mittelmeer verantwortlich ist; dass die Beamt:innen, die Oury Jalloh verbrannten und seinen Tod zu verantworten haben, trotz erschlagender Beweislage, immer noch nicht verurteilt worden sind während seit 1990 wohl mehr als 180 nichtweiße Menschen an rassistischer Polizeigewalt starben; dass sich zuletzt auch noch CDU, Grüne und SPD gegen die Freigabe der NSU-Akten gestellt haben und dass Polizist:innen auf den Pro-Palästina-Demos der letzten Tage mit brutaler Gewalt, Willkür und Racial Profiling gegen Jugendliche vorgegangen sind.

Die Mainstream-Medien und das politische Establishment thematisieren und skandalisieren jedoch lieber die antijüdischen Ressentiments von marginalisierten nichtweißen Jugendlichen, Aktivist:innen und Geflüchteten. Um den Denker Jacques Derrida zu paraphrasieren: das was verschwiegen, ignoriert oder vernachlässigt wird, sagt oftmals mehr über Mensch, Gesellschaft und System aus, als das, was tatsächlich zur Sprache gebracht und in Angriff genommen wird. Meinung

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  1. Anja Böttcher sagt:

    Der Autor Kaveh Yazdani macht es sich ein wenig zu leicht – und er spielt hier zugleich Auswirkungen und spezifische ideologische Funktion des Antisemitismus für jede vermittels Opferdiskursen für ein autoritäres Politikverständnis werbenden gesellschaftlichen Kräfte runter.

    Nach den regelmäßig erfolgenden Umfragen der Anti Defamations League von 2019 (die letzte) beläuft sich die Anzahl der als antisemitisch erachteten Bevölkerungsgruppe auf 15% der deutschen Gesellschaft. Dabei entfallen 12% auf atheistische, 14% auf christliche und 48% auf muslimische Einwohner Deutschlands. Damit sind eindeutig auch eine knappe Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime nicht antisemitisch.

    Der Durchschnitt der Bevölkerungen des Nahen und Mittleren Ostens, Nordafrikas und der Türkei ist aber, nach der ADL zu 74% antisemitisch. Daraus ergibt sich, dass es natürlich infam ist, irgendeinem muslimischen Einwanderer oder Deutschen Antisemitismus zu unterstellen, weil er muslimisch ist, während statistisch gesehen eine starke muslimische Einwanderung das Problem des Antisemitismus in Deutschland verschärft.

    Das festzustellen, ist lediglich eine Auswertung von Fakten – und hat nichts mit antimuslimischen Ressentiments zu tun.

    Zweitens aber gibt es eindeutig in Deutschland auch rassistische Ressentiments, denen Muslime zum Opfer fallen. (Muslimische Ressentiments generell gegen Nicht-Muslime wird allerdings gar nicht untersucht.) Auch hiergegen gilt es vermittels antirassistischen Engagements Einhalt zu gebieten.

    Dennoch ist kein anderes gruppenbezogenes Ressentiment politisch auch nur im Ansatz mit Antisemitismus gleichzusetzen, denn der Antisemitismus funktioniert, durch seine Aufladung mit verschwörungsideologischen Narrativen, gänzlich anders als alle anderen Formen von Rassismus.

    Liegt dem Rassismus ein Überlegenheitsnarrativ zugrunde oder reklamiert er eine dominante Rolle für eine territorial sich als angestammt erachtete Bevölkerungsgruppe, so zielt jeder Antisemitismus auf die Elimination von Juden, die als kollektives Pathogen nicht nur von außen,, sondern auch im Inneren einer Gesellschaft bewertet werden. Antisemitismus geht immer mit der Proklamation von Homogenität des als durch ihn vermeintlich geschädigten Kollektivs einher. Deshalb muss zur Bekämpfung des Antisemitismus immer untersucht werden, wie jeweils das als ‚Antipode‘ zu ‚dem Juden‘ aufgebaute Kollektiv ideologisch konstruiert wird. Und dies für alle antisemitisch kodierten Milieus.

    Von daher muss zur Bekämpfung des hiesigen Antisemitismus, von dem nur der der extremen deutschen Rechten in seiner ideologischen Struktur jedem bekannt ist, auch gezielt die Struktur des islamistischen wie des nationalistisch arabischen wie türkischen Antisemitismus analysiert und politisch bekämpft werden. Und dafür kommt den nicht antisemitischen Muslimen in Deutschland die entschiedene Verantwortung zu.

    Der Antisemitismus ist eindeutig ein Feld, auf dem Muslime in diesem Land zeigen können – und müssen, nämlich durch seine Bekämpfung, dass sie ein unverzichtbarer Bestandteil einer demokratischen deutschen Res Publica sind. Ihn trotz der horrenden Zahlen runterzuspielen, geräht der muslimischen Community jedoch keinesfalls zur Ehre. Denn so zu tun, als lägen diese Defizite primär an dem, was hier „Mehrheitsgesellschaft“ genannt wird, ist denn doch zu billig.

  2. Peter Gross sagt:

    Tolles Beispiel für „whatsboutism“.
    Und wer wie Herr Yazdani den Rassismus „von und in Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz“ anprangert, sollte nicht ständig von „weißen und nicht weißen Menschen“ reden.

    (Zitat:) „Im Gegensatz zu den Protagonist:innen der 68-Bewegung, die sich kritisch mit der Nazivergangenheit ihrer Zeitgenoss:innen auseinandersetzten, ist es heute wieder häufig tabu, über die Rolle der Eltern und Großeltern zu sprechen. Doch wenn sich Migrant:innen jüd:innenfeindlich äußern, ist die Empörung vergleichsweise groß.“ (Zitat Ende).

    Nicht wissend, wie lange Herr Yazdani schon in Deutschland ist, aber die „weiße“ Generation, deren Eltern noch die Nazizeit bewusst erlebten, mussten keine 68er sein, um in ihrer gesamten Schulzeit mit dieser Thematik konfrontiert zu werden. Da wurde nichts ignoriert und nichts beschönigt. Und es wurde viel gesprochen in den Familien.

    Aber natürlich gab es auch diejenigen, die alles verharmlosen wollten. „Und was war mit Stalin? Der war doch genauso schlimm wie Hitler“ hörte man zuweilen und man hört es immer noch.

    Nennen wir es doch den Yazdani- Effekt: Zeig auf die Anderen und schon relativieren sich die eigenen Taten.

  3. Levent Öztürk sagt:

    Rassismus im Gewand von Antisemitismus-Vorwürfen: Meines Erachtens soll damit nicht die Abscheu der Deutschen vor Einwanderung kaschiert werden, sondern der Umstand, dass durchgehend in den letzten Jahren ca. 94% allert antisemitischen Straftaten laut jährlicher Kriminalberichte des Bundes-Ininnministeriums basierend auf Daten und Zahlen des BKA von christlich-deutschen Rechtsextremisten verübt werden. 3% fallen auf „Linksextremistisch und nicht zuordnungsbar“ und die übrigen 3% auf Palästinenser, welche meinen den Israel-Palästina Konflikt in Deutschland fortführen zu müssen. Die seit Jahren mittels belegter Fakten, Daten und Statistiken mit Antisemitismus und dem Begehen antisemitischer Straftaten angeprangerten Rechten, Rechtspopulisten und Rechtsextremisten aus den Reihen der AfD, Pegida, NPD und Co. nutzen natürlich die von Medien einseitig-überzogen dargestellte Situation, um per Fingerzeig und Echauffierungsdebatten von den 94% abzulenken und auf die 3% zu zeigen. Eine Debatte über die 94% (rechtsextremistische Tätergruppe) und intensive journalistische Investigationen darüber findet ebensowenig in deutschen medien statt wie investigativ intensive Recherchen über NSU und derzeit aktuelle NSU 2.0.