Joshua Graf, Migazin, Soziale Arbeit, Rechtsextremismus, Flüchtlinge
Joshua Graf © privat, Zeichnung: MiG

Festungskapitalismus

Die Guten nach Europa, die Schlechten ins Abschiebelager

Europa ist keine Festung, sie schottet sich nicht nur einfach ab – es ist schlimmer: kritische Bemerkungen zur Festungsmetapher im Grenz- und Migrationsregime.

Von Sonntag, 07.01.2024, 10:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 06.01.2024, 16:50 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Wenn von linker Seite aus über die Grenzpolitik Europas, insbesondere der EU gesprochen wird, fällt oftmals der Begriff der Festung. Gefordert wird dann das Einreißen selbiger. Auch im sozialwissenschaftlichen Kontext ist vom Festungskapitalismus zu lesen. Dem gegenüber wird die Metapher von neurechter Seite aufgegriffen. Was die Linken als moralisch verwerflich ankreiden, machen die Rechten als Wunschszenario vorstellig. Exkludierende Krisenlösungen, die in Zeiten von Klimakrise und zunehmenden Weltordnungskrisen ein kleines Ressort der Glückseligkeit für die Gewinner:innen der Geburtenlotterie bereithält. Wenn sich eine Metapher einer solchen Beliebtheit erfreut, wird es Zeit für eine kritische Würdigung.

Die Festungsmetapher scheint oberflächlich betrachtet zutreffend. Ihre Implikationen erscheinen passgenau. Moniert wird, dass Europa sich gegenüber dem Leid der restlichen Welt abschotte, um sich selbst ein Leben in weitgehender Freiheit zu ermöglichen. Überdies suggeriert die Festungsmetapher, Geflüchtete würden als Invasor:innen behandelt. Auch einer solchen Einschätzung kann man sich in Anbetracht der Praxis von Frontex und ähnlichen „Sicherheitsagenturen“ wohl kaum verwehren. Darüber hinaus schwingt stets der reaktionäre, mediävale Charakter des Unterfangens mit. Die Message lautet: „Europas Grenzpolitik ist im Mittelalter stecken geblieben. Sie ist gemessen an modernen Politikmaßstäben inadäquat.“ Insofern wirkt die Metapher stimmig.

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„Geflüchteten wird der Zugang nach Europa unter beeindruckender Abwehrarchitektur verunmöglicht.“

Geflüchteten wird der Zugang nach Europa unter beeindruckender Abwehrarchitektur verunmöglicht. Die Machtasymmetrie zwischen den Festungsherren, und wenigen Festungsdamen auf der einen Seite und den „Verdammten dieser Erde“ auf der anderen Seite ist frappierend. Erstere sorgen durch quasi unbezwingbare Hürden dafür, dass zweitere in ihrer überragenden Mehrheit außen vor bleiben, oder gleich im Burggraben des Mittelmeers das Ende ihrer beschwerlichen Reise vorfinden. Was ist jetzt also das Problem mit der Metapher? Es mag paradox klingen, doch sie ist in vielerlei Hinsicht noch eine Verharmlosung europäischer Grenzregimepolitik.

Zum einen sind die mittelalterlichen Assoziationen untauglich, wenn es um eine hochgerüstete, immens militarisierte Abwehr von Geflüchteten geht. Der Grad an Technologisierung in der Menschenabwehr übersteigt sämtliche Belastbarkeit mittelalterlicher Mauern, seien sie noch so hoch und solide. Daran anschließend suggeriert eine Festung auch eine starre und unbewegliche Lokalität. Alles, was bis kurz vor den Mauern passiert, ist nicht im Aktionsradius der Festungsherren. Sie müssen warten, bis sich die vermeintlichen Eindringlinge nähern. Auch dieser Begrenzung hat das europäische Grenzregime lange den Rang abgelaufen.

„Eine Abschottung, die erst an Europas Außengrenzen losgeht, ist schon lange nicht mehr genug.“

Eine Abschottung, die erst an Europas Außengrenzen losgeht, ist schon lange nicht mehr genug. Kooperationen mit der Miliz der libyschen „Küstenwache“ sprechen eine deutliche Sprache. Auch gab es geschichtlich bereits einige Abkommen von Frontex mit nicht-europäischen Staaten zum sogenannten Migrationsmanagement. Die britische Herrschaft ließ überdies ihre Offenheit für koloniale Machtansprüche aufscheinen, als sie mit Ruanda einen Vertrag schloss, der die Bearbeitung von Asylverfahren für das Königreich nach Ruanda auslagern sollte.

„Es lässt sich festhalten: Das europäische Grenzregime in all seiner militarisierten und hoch-technologisierten Blüte ist weit mehr und vielschichtiger als eine profane Festung.“

Des Weiteren werden Debatten um das planvolle Errichten ganzer Flüchtlingsstädte außerhalb Europas laut. Selbst die aktuellen Debatten um Verschärfungen im Asylrecht deuten auf ähnliche Überlegungen. Die Steuerungsmacht und Bereitschaft, sich den zum Problem erklärten Menschen bereits vor den europäischen Grenzen mit aller Härte und Technik entgegenzutreten, verrät Möglichkeiten und Ambitionen, welche einem alten Burgherren im kühnsten Traum nicht hätten einfallen können. Der imperialistische Anspruch, die Welt nach Gusto für die eigenen Zwecke benutzbar zu machen, paart sich mit der Notwendigkeit, die Abschottung resolut und möglichst früh zu bewerkstelligen. Es lässt sich festhalten: Das europäische Grenzregime in all seiner militarisierten und hoch-technologisierten Blüte ist weit mehr und vielschichtiger als eine profane Festung.

Ein weiterer Punkt ist zentral. Europa schottet sich nicht einfach ab. In Zeiten des Fachkräftemangels sind zumindest die Regierenden des Kapitalismus liberaler Spielart überzeugt von der Notwendigkeit „qualifizierter Einwanderung“. Treffender lässt sich das Grenzregime als ausdifferenziertes Selektions- und Hierarchisierungsmodell charakterisieren. Menschen werden anhand ihrer Verwertbarkeit für Kapital und Staat, abgeblockt, zugelassen oder teils extra angeworben. Der demografische Wandel Deutschlands befeuert einen neuen Nationalismus, der nicht nur auf Abschottung, sondern auf eine Sortierung von Menschen nach dem alt-bekannten Aschenputtel-Prinzip zum Ziel hat: die Guten nach Europa, die Schlechten ins Abschiebelager.

„Menschen werden anhand ihrer Verwertbarkeit für Kapital und Staat, abgeblockt, zugelassen oder teils extra angeworben.“

Dabei greift es zu kurz, Europa schlicht Abschottung vorzuwerfen. Viel eher sind die politischen Bemühungen zur Neustrukturierung des heimischen Erwerbsmarkts mit ausländischen Fachkräften als imperialistisches Projekt in der globalen Staatenkonkurrenz aufzufassen. Sie sind an und für sich eine gewaltträchtige Angelegenheit voller Machtambitionen. Fun Fact, obwohl Finanzminister Lindner nichts von Gratismentalität hält, gibt es den nicht bestellten „Brain-Drain“ für die Herkunftsstaaten der „nützlichen Ausländer:innen“ inklusive.

Abschließend taugt die Festungsmetapher trotz einiger offensichtlicher Anknüpfungspunkte für die wissenschaftliche Analyse nicht. Europa organisiert ein weitaus komplexeres und imperialistisch-anspruchsvolleres Projekt mit seiner Grenzpolitik, als nur Menschen den Zugang zu verwehren. Mit rudimentärer Pfeil und Bogen Ausrüstung hat das Repressionsarsenal der „Grenzschutzbehörden“ eben nichts gemein. Meinung

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  1. Dennis against asteroid Protection sagt:

    Lieber Joshua Graf,
    keine Einwände gegen deine Analyse.
    Wie verhält man sich als Europäer gegenüber dieser Lage?
    Pragmatisch ist, was z.B. Pro Asyl tut.

    Ich möchte euch eine Utopie vorstellen.
    Die Idee, dass Menschen, welche Asyl suchen, dies ohne gefährliche Reise fordern können sollten, kam mir schon lange, bevor über Abkommen mit „Drittstaaten“ gesprochen wurde.
    Das klare Ziel dieser Abkommen ist Zuwanderung zu begrenzen.
    Stattdessen imaginiere ich die Möglichkeit, Hilfsgesuche auch ohne gefährliche Reisen an passende Staaten zu senden, die eine sichere Internet-Verbindung bereit stellen könnten, womöglich über das darknet oder Ähnliches.
    Rechtlicher Beistand sollte selbstverständlich zugänglich sein.
    Nicht zuletzt sollte eine neue „Weltpolizei“ diesen Hilfesuchenden Menschen zur Flucht verhelfen; z.B. elegant durch ein unverdächtiges Arbeitsvisum und Ausreise per Flugzeug.
    In manchen Fällen würde ich einer „militärischen Spezialoperation“ sogar zustimmen, um große Gruppen von Menschen aus Internierungslagern in sichere Länder zu bringen.
    Ich hoffe, dass jede:r versteht, dass ich damit nicht mit den Handlungen Russlands vergleichen möchte.
    Konkret z.B. bedauert jeder anständige Mensch die Lage von Iraner:innen, welche kaum eine Chance gegen dieses Regime haben, aber fast keine individuelle Hilfe bekommen; so stelle ich es mir vor – höchstens ein paar „westliche“ Agenten.

    Zum Thema Migration ohne Asylersuchen.
    Es ist eine zutiefst egoistische Sichtweise, dass Menschen nicht hier ausgebildet werden sollen, sondern man die Länder ausnutzt, die diese Aufgabe übernahmen, indem man braindrain verursacht.
    Im Bereich der Pflege weiß ich, dass zumindest Bemühungen existieren, nur Personal aus den Ländern zu rekrutieren, welche einen Überschuss an Ausgebildeten haben.
    Im privaten Bereich, in der häuslichen Pflege, kennen wir aber auch das Gegenteil, durch die oft in der Vergangenheit angestellte:n „osteuropäische:n Pflegende:n“.

    Zum Thema Kapitalismus:
    Nur eine gleichzeitige Einigkeit aller Menschen dieses Planeten könnte Diesen abschaffen, was die Wahrscheinlichkeit dieser Forderung widerspiegelt.
    Dennoch sind Reglementierungen vorstellbar, welche trotz Kapitalismus unseren Planeten für einen Großteil der Bewohner, zu einem besseren Ort machen.
    An erster Stelle möchte ich basic income nennen.
    Nicht ein 1000 € basic income für alle Europäer, sondern man sollte in anderen Teilen unseres Planeten damit beginnen und besonders die Europäer sollten Dieses finanzieren.
    Nach eigenen Recherchen würde das Verhindern von kriminellen Geldtransfers etwa 1 Milliarde Menschen mit 5 $/day basic income versorgen können, was zugegeben beschämend ist, gemessen an unseren Wohlstandsgewohnheiten, aber zum Teil das Vierfache des manchen Menschen zur Verfügung stehenden täglichen Kapitals bedeuten würde.

    Meine Utopie ist nicht, dass jedem Menschen Gerechtigkeit widerfährt, wie fast jede Religion uns glauben machen möchte.
    Meine Utopie ist, dass zumindest damit begonnen wird, dass alle Menschen dieses Planeten eine Chance haben, mit den erklärten Menschenrechten leben zu können.
    Ungleichheit liegt vielleicht in der Natur von uns Menschen. Vielleicht deshalb auch der Kapitalismus?

    Ich lasse mir gerne vorwerfen, dass ich nicht lupenrein links sei, weil ich beispielsweise das Überwinden von Grenzen und Staaten zwar in Teilen richtig finde, aber das Angebot dadurch für kriminelle Strukturen sehr gefährlich finde.
    Die Menschen scheinen sich ohne Regeln immer wieder nach dem Prinzip zu organisieren, dass das Recht des Stärkeren gilt.
    Bei aller Kritik an Staaten, Organisationen, etc., ist mir das immer noch lieber, solange es demokratisch bestimmt ist, als die Willkür von Einzelpersonen, homogenen Gruppen oder Autokratien.

    So viele Neubauten von Wohnungen fehlen in Deutschland? Vielleicht fehlen sogar 100 Mal so viele, wenn wir bereit wären und mitdächten, dass sehr viele Menschen einen Platz zum Leben brauchen, weil der Klimawandel das Leben zur Hölle machen kann.
    Deutschland voll mit Skyscrapern?
    Verschandelt die Aussicht, wah?

    Im ersten Viertel meines Lebens dachte ich:“Wie können die nur so dumm sein?“
    Im zweiten Viertel dachte ich :“Warum sind die nur so dumm?“
    Jetzt, im dritten Viertel denke ich:“Ich bin dumm, dass ich mein Leben an die Forschung über die Dummheit der Menschen verschwendet habe“.
    Im letzten Viertel werde ich akzeptieren, dass egal woran ich geglaubt, wofür ich gekämpft, was ich getan oder unterlassen habe, ich mit allen Konsequenzen nur ein Teil aller Menschen bin.
    Deshalb liebe ich Asteroiden, die soviel mehr verändern könnten ;)