Sachverständige
Migrationspolitik zwischen Restriktion und Öffnung
Lob und Tadel für die deutsche Migrationspolitik: Erst in der Praxis wird sich zeigen, ob und wie die zahlreichen Neuregelungen greifen, sagt der Sachverständigenrat. In der Gesetzgebung kommt Deutschland voran, bei der Integration weniger.
Mittwoch, 15.05.2024, 10:51 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 15.05.2024, 10:51 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration, Hans Vorländer, sieht in der aufgeheizten Stimmung beim Thema Migration „ein Hindernis für politische Lösungen“. Er mahnte am Dienstag bei der Vorstellung des jüngsten Jahresgutachtens in Berlin eine Versachlichung der Debatte an. „Gefährlich“ sei insbesondere, wenn die Politik Erwartungen wecke, die sie nicht erfüllen könne – etwa auf einen Rückgang der Flucht-Migration.
Ob die jüngsten Verschärfungen in der Asylpolitik so wirkten wie gedacht, sei eine Frage, „die wir im Augenblick nicht beantworten können“, sagte Vorländer. Man wisse aber aus der Vergangenheit, dass die Absenkungen von Sozialleistungen „keinen unmittelbaren Einfluss haben auf den Zuzug“, sagte der Demokratie- und Migrationsforscher auf die Frage, wie sich beispielsweise die Einführung der Bezahlkarten auswirken werde.
Substanzielle Öffnung und Restriktionen
Insgesamt beurteilen die Wissenschaftler des neunköpfigen, unabhängigen Sachverständigenrats (SVR) die deutsche Einwanderungspolitik der vergangenen fünf Jahre differenziert: „Wir sehen in manchen Bereichen eine substanzielle Öffnung, in anderen dagegen eher Versuche, durch Restriktionen stärker zu steuern“, bilanzierte Vorländer.
Positiv sieht der Sachverständigenrat, dass Deutschland sich der Einwanderung von Fachkräften geöffnet und die Politik durch Gesetzesreformen entscheidende Hürden gesenkt hat. Dazu zählt, dass die Gleichwertigkeit ausländischer Abschlüsse nicht mehr nachgewiesen werden muss, Berufserfahrung anerkannt und auch die Einreise zur Jobsuche ermöglicht wird.
Mehr Mut zur Vereinfachung
Bei der Fachkräftezuwanderung würde Deutschland besser vorankommen, wenn die Regelungen nicht so kompliziert und die Verwaltungen besser aufgestellt wären. Der Expertenrat urteilt, das deutsche Erwerbsmigrationsrecht sei „mittlerweile so komplex, dass es kaum noch jemand versteht“. Wenn Deutschland ausländische Arbeitskräfte effektiv anwerben wolle, brauche es „mehr Mut zur Vereinfachung, um die geltenden Regelungen nach innen wie außen verständlich zu vermitteln“.
Am 1. März waren zahlreiche Neuerungen in Kraft getreten, die von der Ampel-Koalition im Zuge der Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes beschlossen worden waren. Menschen aus Staaten außerhalb der Europäischen Union können künftig in Deutschland arbeiten, wenn sie mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und einen im Herkunftsland staatlich anerkannten Berufs- oder Hochschulabschluss haben. Sie müssen keine in Deutschland anerkannte Ausbildung vorweisen.
Auslagerung von Asylverfahren
Verständnis äußert das Gremium für den Wunsch der Politik nach einer Begrenzung und Steuerung der Flucht-Migration, mahnt aber die Einhaltung humanitärer Standards bei der Umsetzung der EU-Asylreform an. Schutzsuchende müssten auch in den geplanten beschleunigten Asyl-Grenzverfahren Zugang zu unabhängiger Rechtsberatung haben und menschenwürdig untergebracht werden, sagte Vorländer.
Asylverfahren in Drittländer auszulagern, wie es beispielsweise Italien mit Albanien und Großbritannien mit Ruanda versuchen, steht der Sachverständigenrat kritisch gegenüber. „Hier gibt es völkerrechtliche Verpflichtungen, die wahrgenommen werden müssen“, sagte Vorländer. In Deutschland werden zunehmend Stimmen laut, die ein Ruanda-Modell auch für Deutschland fordern. Der SVR werde seine Einwendungen öffentlich machen, wenn das Anhörungsverfahren im Bundesinnenministerium beendet sei.
Über Migrationsfragen müsse in Zukunft sachlicher gesprochen werden. Es sei falsch, wenn Politiker den Eindruck erweckten, mit Maßnahmen wie effektiveren Grenzkontrollen oder neuen Abschieberegeln ließen sich große Veränderungen bewirken. Er beobachte, dass hier „Erwartungsfallen aufgebaut werden“.
Strukturelle Engpässe – auch in der Bildung
Ob es Deutschland auf längere Sicht gelingen wird, Fluchtbewegungen zu steuern, Arbeitskräfte ins Land zu holen und die Integration von Zugewanderten zu fördern, hängt nach Einschätzung der Sachverständigen nun von der Leistungsfähigkeit der Behörden und der Infrastruktur ab. Dort zeigten sich Engpässe, die nicht durch Zuwanderung verursacht seien, „sie macht sie aber sichtbar“, erklärte die stellvertretende SVR-Vorsitzende Birgit Leyendecker.
Die Bochumer Psychologin forderte mehr Aufmerksamkeit für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche. „Ihr Abschneiden gibt Anlass zur Sorge“, sagte Leyendecker. Die Eingliederung in Kitas und Schulen dauere vielerorts zu lange, kritisieren die Sachverständigen. In puncto Schulbildung stellten die Experten fest, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund nach wie vor geringere Chancen haben als Gleichaltrige ohne Migrationsgeschichte. Bei den jungen Menschen der zweiten Zuwanderungsgeneration habe sich die Situation zwar in den vergangenen Jahren verbessert. Für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche gelte dies aber nicht.
Obwohl Migration in aktuellen Umfragen derzeit wieder als eines der drängendsten Probleme genannt wird, bleibt dem Gutachten zufolge in der Bevölkerung insgesamt akzeptiert, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die Menschen erwarteten von der Politik aber eine Steuerung der Flucht-Migration. Zudem drohe sich die Ablehnung dort zu verschärfen, wo die Infrastruktur überlastet sei oder nicht mehr funktioniere, warnen die Sachverständigen.
Nachfolgeregelung für Ukraine-Flüchtlinge fehlt
Eine rasche europaweite Lösung sollte aus Sicht des SVR – auch mit Blick auf die Europawahl am 9. Juni – für die ukrainischen Flüchtlinge gefunden werden. Die rund 4,3 Millionen Menschen waren zunächst über eine EU-Richtlinie aufgenommen worden und mussten keinen Asylantrag stellen. Diese Richtlinie sieht allerdings nur einen vorübergehenden Aufenthalt vor. Die Bundesregierung sei auch deshalb gegen unterschiedliche nationale Regelungen, weil dies dazu führen könnten, dass Flüchtlinge dann in andere europäische Staaten weiterzögen, sagte SVR-Mitglied Winfried Kluth.
Sollten die rund 1,2 Millionen Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen seien, alle einen Asylantrag stellen, würde dies zu einer starken Belastung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) führen, führte er aus. Nicht alle ukrainischen Geflüchteten könnten mit einem Schutzstatus rechnen, da immer auch berücksichtigt werde, ob es sichere Orte im Herkunftsland gibt. Die Aufenthaltserlaubnisse von Geflüchteten aus der Ukraine, die vor dem russischen Angriffskrieg geflohen sind und in Deutschland Schutz erhalten haben, gelten noch bis zum 4. März 2025. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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