Ralf Südhoff im Gespräch
Bedarf an humanitärer Hilfe steigt schneller als die Mittel
Die Zahl der Krisen steigt, das Budget für humanitäre Hilfe hingegen droht zu schrumpfen. Ralf Südhoff fordert im Gespräch Reformen von der EU. Europa sei der größte Geber der Welt, die Hilfe aber ineffektiv und unkoordiniert.
Von Marlene Brey Montag, 18.03.2024, 11:37 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.03.2024, 11:37 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Am 18. und 19. März findet in Brüssel der größte humanitäre Gipfel der Welt statt. Auch die Herausforderungen sind groß: Die Zahl der Krisen steigt, das Budget droht zu schrumpfen. Ralf Südhoff, Direktor des Berliner Centre for Humanitarian Action, fordert Reformen von der EU. Europa sei der größte Geber der Welt, die Hilfe aber ineffektiv und unkoordiniert.
Herr Südhoff, wie wichtig ist Europa in der humanitären Hilfe? Oder anders gefragt: Ist die EU hier mal ein echter Global Player?
Ralf Südhoff: In Sachen humanitäre Hilfe ist Europa der entscheidende Spieler weltweit. Viele denken an die USA, weil sie der größte einzelne Geber sind, aber in der Summe ist Europa der mit Abstand größte Geber. Nimmt man die EU, Großbritannien, Norwegen und die Schweiz zusammen, dann stellt Europa in den letzten Jahren über 43 Prozent des weltweiten Fundings bereit. Natürlich gilt auch hier: Wer viel finanziert, hat auch viel Einfluss.
Wie hat sich das humanitäre Engagement der EU in den vergangenen zehn Jahren entwickelt?
Zunächst gab es weltweit einen Anstieg der Mittel für humanitäre Hilfe – allerdings auch, weil die Not gestiegen ist. Die UN ermitteln jährlich den Bedarf. Dieser lag noch Anfang der 2000er bei zwei bis maximal drei Milliarden Dollar jährlich. Heute stehen wir bei 45 bis 50 Milliarden Dollar, die man pro Jahr bräuchte, nur um die größte Not zu lindern. In diesem Zuge hat Europa seine Hilfe beachtlich ausgeweitet, vor allem die EU-Kommission und Deutschland. Deutschland ist nach 2015 von einem humanitären Zwerg zum Top-Geber geworden, belegt heute Platz zwei nach den USA. Das war auch eine Reaktion auf die Zuwanderung von syrischen Flüchtlingen.
Was hat der Krieg in der Ukraine verändert?
Die Zuwanderung ukrainischer Geflüchteter hat in vielen Staaten im Osten der EU zu einer neuen Sensibilität geführt und in die Versorgung dieser Menschen sind viele Mittel geflossen. Insgesamt wirkt sich der Krieg aber insbesondere in Deutschland negativ auf die humanitäre Hilfe aus, weil er dazu führt, dass man ein sehr enges Verständnis von internationalem Engagement entwickelt hat. Die Priorität ist jetzt traditionelle Sicherheitspolitik. Seit 2022 hat Deutschland seine humanitäre Hilfe massiv gekürzt: um rund ein Drittel, das gab es noch nie. Es gibt aber auch europäische Staaten, die mehr investieren, zum Beispiel Frankreich, Spanien oder Italien.
Auf Platz zwei der Top-Geber stehen die USA. Was befürchten Sie für die Zukunft der humanitären Hilfe, wenn Donald Trump im Herbst die US-Wahl gewinnt?
Die Vorhersagen zu den USA als humanitärer Geber sind bedrohlich. Das ist aus meiner Sicht sogar unabhängig vom Wahlausgang. Wir sehen schon jetzt, wie schwierig es im US-Kongress ist, Mittel für die Ukraine durchzusetzen. Es gibt Schätzungen, dass das humanitäre Budget der Amerikaner schon vor der Wahl mit dem nächsten Haushalt um ein Drittel sinken könnte.
Wenn Trump zum neuen Präsidenten gewählt wird, dann gilt natürlich umso mehr „America first“. Schon jetzt sehen wir den Trend, dass die Zahl der Menschen in Not und der Bedarf an humanitärer Hilfe schneller steigen als die Mittel. Die international bereit gestellten Mittel reichen nur noch, um etwa die Hälfte der Menschen in Not zu versorgen. Langfristig gibt es Prognosen, dass die Mittel nur noch für ein Viertel der Menschen reichen könnten. Das liegt auch an den absehbar massiven Folgen des Klimawandels.
Die EU ist finanziell eine Superpower im Bereich humanitäre Hilfe und ihre Bedeutung steigt, sollten sich die USA zurückziehen. Ist die EU darauf vorbereitet?
Die EU ist ein sehr geachteter, weil großer, relevanter Geber, der sich finanziell wirklich beachtlich engagiert. Aber die europäischen Staaten unterschätzen die Notwendigkeit, ihre Hilfe zu koordinieren. Dadurch gehen viel zu viele Ressourcen für tatsächliche Nothilfe verloren. Zudem wird eigentlich vorhandener Einfluss nicht genutzt. Dafür braucht es bessere Foren, um sich systematisch auszutauschen und strategisch aufzustellen. Und es braucht Präsenz vor Ort: Die EU-Kommission hat über 400 Mitarbeitende in den Botschaften der Welt. Aber selbst Deutschland, als zweitgrößter Einzel-Geber der Welt, hat nicht einen einzigen Mitarbeiter in einer Botschaft, der sich mit humanitären Fragen beschäftigt.
Wie kann das sein?
Selbst Staaten haben oft das Verständnis eines privaten Spenders: Man zahlt in Krisen Geld und betrachtet das eher als praktischen Vorgang, denn als einen politisch relevanten. Die Bundesregierung versucht, mit sehr wenig Personal sehr große Summen zu verwalten. Man begleitet das politisch und gestalterisch nicht so, wie es nötig wäre.
Die Krisen nehmen zu, das Geld ab, zusätzlich braucht es Reformen. Sie sprechen von Priorisierung und Effizienz. Wie kann man entscheiden, wo man mit den begrenzten Ressourcen am besten hilft?
Das ist die Gretchenfrage. In Zeiten, in denen wir absehbar immer weniger Mittel haben werden, um immer mehr Menschen in Not zu unterstützen, ist es wichtiger denn je, dass wir uns koordinieren: Welcher Geber finanziert wann welche Krisen in welchem Umfang? Das könnte verhängnisvolle Unterfinanzierungen verhindern. Wir sehen zum Beispiel, dass in Regionen, die geopolitisch oder migrationspolitisch relevant sind, teils immerhin 70 bis 80 Prozent des eigentlichen Bedarfs abgedeckt werden. Zugleich gibt es „vergessene Krisen“, in denen die Not ebenso groß ist, aber diese Länder bekommen nur sieben bis acht Prozent ihres Bedarfs. Selbst mit den vorhandenen Budgets könnten wir mit besserer Koordination weit mehr Menschen helfen.
Welche Rolle sollten lokale Akteure dabei spielen?
Eine große Rolle. Das ist eine der wichtigsten Reformen, die die Europäer nicht entscheidend vorantreiben. Hilfe wäre viel wirksamer und viel würdevoller, wenn man lokale Organisationen stärker einbezieht. Sie können Hilfe vielfach besser und günstiger leisten. Sie wissen ja am besten, was vor Ort gebraucht wird. Es gibt seit Jahren das Versprechen, lokale Akteure ins Zentrum der Hilfsprogramme zu stellen und ihre Partizipation zu verbessern. Da machen viele internationale Hilfsorganisationen und auch manch deutsche Nichtregierungsorganisation ihre Hausaufgaben aber nicht. Man müsste internationale Organisationen zwingen, sich Schritt für Schritt auf eine andere Art der Hilfe einzulassen, in der sie oftmals eher Vermittler und Berater für lokale Organisationen wären. (epd/mig) Aktuell Interview
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