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MiGAZIN Kolumnist Sven Bensmann © privat, Zeichnung MiG

Nebenan

Die Brandmauer verläuft genau durch die Union

Die Brandmauer der Union wird immer dünner: Noch vor wenigen Monaten war sie 200.000 Menschen dick, jetzt nur noch 100.000. Bei diesem Tempo ist die AfD-Null nicht weit entfernt.

Von Montag, 18.03.2024, 10:08 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.03.2024, 5:47 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Der März ist da – und mit ihm der Brandmauer-Merz, jener billige Populist, der immer einen schnellen ausländerfeindlichen Spruch auf der Naht hat und ihn unverbrämt in den Äther kotzt. Und es ist ein Klassiker der rechten Gerüchteküche, jene bewährte bröckelig-braune Soße, die dem selbsternannten Volk so vertraut ist und stets gut mundet, die er uns allen noch einmal frisch aufgewärmt auftischt.

Einhunderttausend Menschen und keinen einzigen mehr, so weiß der Mann, der auch weiß, dass der typische Durchschnittsdeutsche sich ein, zwei Privatflugzeuge leisten kann – und dass er deshalb auch zu diesem sogenannten Mittelstand gehört – kann Deutschland an Flüchtlingen jedes Jahr vertragen, ansonsten geht das ganze christliche Abendland vor die Hunde, das sei nämlich, „was wir heute mit unserer Integrationskraft noch leisten können“. Einfach, weil Ausländer ja nunmal Ausländer, also gefährlich, sind und auch immer Ausländer bleiben – bis ihnen irgendwann auf magische Weise, qua Existenz des deutschen Volkes und Aufenthalts innerhalb der Grenzen von 1990, blonde Haare wachsen, sich ihre Haut aufhellt und sie anfangen, ungesunde Mengen Bier zu trinken und kein Gras zu rauchen. Erst dann sind sie für Deutschland praktisch ungefährlich und, mit einem bisschen guten Willen, beinahe von gleichem Wert wie ein echter Deutscher.

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Keinesfalls hat diese Integrationskraft jedenfalls etwas damit zu tun, obdachlosen Menschen Obdach, traumatisierten Menschen psychologischen Beistand oder auch nur neu hier Angekommenen Sprachkurse anzubieten, beziehungsweise damit, wie viel Geld und Aufwand man dafür betreibt, oder eben nicht betreibt.

„Wer so argumentiert, ist politisch aber nicht mehr bloß anschlussfähig an die AfD, sondern steht ideologisch bereits auf demselben Boden.“

Wer behauptet, dass dieses große Land nur einhunderttausend Menschen integrieren könne, sagt damit tatsächlich nur: „Wir sollten nicht bereit sein, mehr Geld aufzuwenden, als nötig ist, um einhunderttausend Menschen zu integrieren.“ Weil es uns lieber sein sollte, wenn Deutschland an Arbeitskräftemangel und Überalterung zugrunde geht, als dass es nicht mehr jenes Deutschland ist, dass es zwar nie gegeben hat, das aber doch in den Köpfen der „Konservativen“ herumspukt – und das sich an den Markern einer völkischen Reinheit des deutschen Volkes nach dem Holocaust, einer Durchsetzung der politischen Macht in Verwaltung, Politik und Juristerei mit aktiven und passiven Nazis (gern auch verharmlosend „Mitläufer“), sowie deren hegemonialer Stellung in der Gesellschaft bei gleichzeitiger Existenz einer deutschen Demokratie de jure festzumachen scheint.

Wer so denkt, lässt sich und der AfD dabei natürlich die Option offen, das Geld so zusammenzustreichen, dass Deutschland selbst mit zehntausend Menschen völlig überfordert ist, wenn es politisch opportun scheint, oder mit eintausend, mit einhundert oder noch weniger; bis die Grenzen dann irgendwann halt komplett dicht sind – mit Mauern und Selbstschussanlagen hat dieses Land ja bereits seine Erfahrungen gemacht. Wer so argumentiert, ist politisch aber nicht mehr bloß anschlussfähig an die AfD, sondern steht ideologisch bereits auf demselben Boden.

Und wer glaubt, dass dies Panikmache ist, darf sich gern an letzten Herbst erinnert fühlen: Damals war die Zahl der Flüchtlinge, die Deutschland laut Friedrich Merz pro Jahr aufnehmen könne, noch um einhunderttausend Menschen größer gewesen. Behält er diese Geschwindigkeit bei, ist er schon diesen September bei null angekommen – passend zum Zeitpunkt der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Wahrscheinlich nur ein Zufall…

Die angebliche Brandmauer jedenfalls erinnert mittlerweile immer stärker jenen semipermeablen Membranen, die wir alle noch aus dem Bio-Unterricht kennen: Eine dünne Schicht, die in diesem Falle Gesinnung, Ideologie, Talking-Points aus der AfD in die Union diffundieren lässt aber nicht deren Personal – was einigen ja auch bereits genug erscheint: Im Zuge der landesweiten Massendemos wurde immer wieder die Diskussion angestoßen, ob es richtig ist, die Union mitdemonstrieren zu lassen, um ein möglichst großes Bündnis zu schaffen, oder ob die Union doch eher Teil des Problems ist als der Lösung und deshalb dort nicht hingehört.

„Mitten durch eine Partei kann eine solche Brandmauer nicht stabil stehen.“

Angesichts der Wirkmacht der Union unter Merz und Söder als Resonanzverstärker und ideologischem Ponton der AfD in der Mehrheitsgesellschaft ist es an der Zeit, dass wir uns eingestehen: Die Brandmauer nach rechtsaußen, sie verläuft genau durch die Union. Sie verläuft zwischen Personen wie Merz, Kretschmer und Söder auf der einen und Menschen wie Wüst, Günther und Röttgen auf der anderen Seite, und die sind schon qua Amt dazu aufgerufen, miteinander zu kooperieren. Mitten durch eine Partei kann eine solche Brandmauer daher nicht stabil stehen.

Solange die Union beide Seiten bedient, werden die aktuellen Auflösungserscheinungen daher anhalten. Am rechten Ende werden weiter diejenigen, denen sich die Merz-Union noch nicht eindeutig genug auf der rechten Seite der Brandmauer positioniert, in die AfD abwandern oder eigene Parteigründungen in Angriff nehmen. Und auch diesseits der Brandmauer werden Auflösungserscheinungen zunehmen, werden sich liberalere Wähler entweder gen Ampel absetzen oder schlicht nicht mehr wählen. Gerade ein Hendrik Wüst oder ein Daniel Günther werden irgendwann, spätestens wenn ihre Hoffnungen in der K-Frage erloschen sind, die Frage stellen müssen, wo denn nun konkret ihre persönlichen roten Linien sind.

Ob Merz dann bereits erklärt haben wird, Deutschland sei voll und könne überhaupt niemanden mehr aufnehmen, es müsse jetzt vielmehr in großem Maße remigriert werden und Deutschland käme dabei auch um eine Politik der wohltemperierten Grausamkeiten nicht herum, ob und wie die Union dann bereits auf Landesebene mit der AfD kooperieren wird, werden wir wohl leider mit ansehen müssen. Es ist jedenfalls ein gefährliches Spiel, dass Merz mit der Union und die Union mit Deutschland spielt. Meinung

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