Interview mit Sarah Lincoln
Juristin erklärt Verfassungsbeschwerde gegen Ausländer-Zentralregister-Gesetz
Menschenrechtsorganisationen klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz zum Ausländerzentralregister (AZR). Welche Gefahren das Ausländer-Zentralregister für Betroffene birgt, warum es Ausländer diskriminiert und was es mit „NSU 2.0“ zu hat, erklärt Juristin Sarah Lincoln im Gespräch mit MiGAZIN.
Mittwoch, 01.11.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 01.11.2023, 12:43 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
MiGAZIN: Frau Lincoln, Sie sind Rechtsanwältin und leiten bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) den Schwerpunkt Gleiche Rechte und Soziale Teilhabe. Warum haben GFF und Pro Asyl Verfassungsbeschwerde gegen das novellierte Gesetz zum Ausländerzentralregister (AZR) erhoben?
Sarah Lincoln: Die Erweiterung des Ausländerzentralregisters verstößt gegen grundlegende verfassungsrechtliche Vorgaben zum Datenschutz. Im AZR werden alle Menschen erfasst, die ohne deutsche Staatsangehörigkeit in Deutschland leben. Insbesondere über Geflüchtete sind dort mittlerweile eine enorme Menge an teils hochpersönlichen Daten gespeichert. Neben Personalien, Adresse, Lichtbild auch biometrische Daten, Angaben zur Familie, Gesundheitsdaten, Sprachkenntnisse, Bildungsgrad, bisherige und aktuelle Beschäftigungen.
„Insgesamt können etwa 16.000 öffentliche Stellen und Organisationen mit mehr als 150.000 Einzelnutzer:innen auf das Register zugreifen.“
Das Ausländerzentralregister wurde in den letzten 30 Jahren immer weiter ausgebaut. Seit letzten November ist gesetzlich vorgesehen, dass alle Asylbescheide und aufenthalts- und asylrechtlichen Gerichtsentscheidungen im Volltext gespeichert werden. Auf das Ausländerzentralregister haben nahezu alle deutschen Behörden Zugriff. Insgesamt können etwa 16.000 öffentliche Stellen und Organisationen mit mehr als 150.000 Einzelnutzer:innen auf das Register zugreifen. Neben den Ausländerbehörden auch die Polizei, der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst.
Unsere Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Volltextspeicherung von Asyl- und Gerichtsentscheidungen und gegen den unbeschränkten Zugriff der Sicherheitsbehörden auf das Register.
Könnten Sie genauer erklären, warum die Speicherung von Asylbescheiden und Gerichtsentscheidungen im AZR problematisch ist?
Diese Entscheidungen enthalten häufig sehr persönliche Informationen zur individuellen Fluchtgeschichte, etwa zur sexuellen Orientierung, zu politischen Überzeugungen oder traumatischen Erlebnissen. Unter den Beschwerdeführer sind Menschen, die in Russland aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt wurden, politisch aktive Kurden, die aus der Türkei geflohen sind. Sie suchen hier Schutz.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Regierung diese Informationen zentral speichern und tausenden Behörden zugänglich machen muss. Eine Behörde, die für ihre Aufgabenerfüllung den Volltext einer migrationsrechtlichen Entscheidung einer anderen Behörde und nicht lediglich den Entscheidungstenor benötigt, kann sich die Entscheidung von der betroffenen Person vorlegen lassen oder an die andere Behörde ein Ersuchen auf Datenübermittlung oder Akteneinsicht richten.
Welche Bedenken bestehen hinsichtlich des uneingeschränkten Zugriffs von Polizei und Geheimdiensten auf die im AZR gespeicherten Daten?
„Nicht nur verletzt dies verfassungsrechtliche Vorgaben zum Datenschutz, es ist auch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit.“
Die Sicherheitsbehörden haben vollen Zugriff auf das Ausländerzentralregister. Insbesondere braucht es keine konkrete Gefahr und keinen konkreten Ermittlungsansatz. Es reichen schon vage Verdachtsmomente, um das Ausländerzentralregister zu Rate zu ziehen. So kann die Polizei umfangreiche Informationen sammeln, von denen weitere Ermittlungen ausgehen, ohne dass gegen die betroffenen Personen besondere Verdachtsmomente bestehen müssten. Außerdem ist der Datenabruf nicht auf den Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter beschränkt. Die Polizei kann auch zur Verfolgung von Bagatelldelikten oder zur Abwehr geringfügiger Gefahren auf umfangreiche personenbezogene Daten zugreifen. Nicht nur verletzt dies verfassungsrechtliche Vorgaben zum Datenschutz, es ist auch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Schließlich steht den Sicherheitsbehörden keine entsprechende Datensammlung über Deutsche zur Verfügung.
Unter unseren Beschwerdeführer:innen sind auch kurdische Aktivist:innen, die bereits in der Türkei wegen ihres prokurdischen Engagements verfolgt wurden und auch in Deutschland weiter aktiv sind. Sie möchten nicht, dass sich Sicherheitsbehörden im Ausländerzentralregister über ihre politischen Überzeugungen informieren können.
Wie könnte die erweiterte Verwendung des AZR die Sicherheit und Privatsphäre von Geflüchteten beeinträchtigen?
„Auch die Drohbriefserie NSU 2.0. zeigt, wie leicht staatlich gespeicherte Daten zu rassistischen Zwecken missbraucht werden kann.“
Wenn hunderttausende Behördenmitarbeiter:innen Zugriff auf einen riesigen Datenpool haben, ist auch die Missbrauchsgefahr groß. Nicht immer werden diese Daten zu dienstlichen Zwecken verwendet. Das zeigt der Fall eines ägyptischen Asylsuchenden, der aus seinem Heimatland geflohen war, da er als christlicher Ägypter dort auf einer Todesliste stand. Auf Facebook informierte er über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und erhielt kurz danach per Direktnachricht von einer ihm unbekannten Person einen Auszug der über ihn im Ausländerzentralregister gespeicherten Daten. Der Absender drohte ihm, er solle nicht weiter Flüchtlingen falsche Hoffnungen machen. Nach Recherchen fand man heraus, dass die Daten durch einen Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit abgerufen worden waren.
Auch die Drohbriefserie NSU 2.0 zeigt, wie leicht staatlich gespeicherte Daten zu rassistischen Zwecken missbraucht werden kann. In dem Zusammenhang wurden mehr als 100 anonyme Drohschreiben an verschiedene Personen des öffentlichen Lebens versandt, darunter auch die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay Yıldız. Die Daten der Rechtsanwältin wurden von einem Computer in einem Frankfurter Polizeirevier abgerufen.
Welche Auswirkungen hat die Speicherung dieser Daten auf Geflüchtete, die sich aufgrund ihrer politischen Überzeugungen in Deutschland in Sicherheit wähnen?
„Das Ausländerzentralregister liefert den Verfolgerstaaten ein umfassendes Dossier zur gesuchten Person.“
Bei hunderttausenden Zugriffsberechtigten ist es auch für Geheimdienste aus den Verfolgerstaaten oder für rassistische Straftäter mit Verbindungen in deutsche Behörden ein Leichtes an das Profil eines Geflüchteten samt Adresse zu gelangen. Das Ausländerzentralregister liefert den Verfolgerstaaten ein umfassendes Dossier zur gesuchten Person. Das Interesse an Daten über Regimegegner:innen ist groß. So nahm etwa die Türkei 2019 den Kooperationsanwalt der deutschen Botschaft fest, um an seinen Datenfundus von rund 50 türkischen Asylbewerber:innen in Deutschland zu kommen. Die Folgen solcher Datenlecks können für Betroffene gravierend sein. So kann ihnen bei Rückkehr in ihren Heimatsstaat Verfolgung drohen, oder ihre zurückgebliebenen Familienangehörigen werden drangsaliert und bedroht.
In manchen Fällen kommt es auch in Deutschland zu Übergriffen seitens ausländischer Geheimdienste. 2019 wurde in Berlin der Tschetschene Zelimkhan Khanghoshvili mutmaßlich von russischen Geheimagenten ermordet. Er lebte als Asylbewerber in Berlin und galt in Russland als Terrorist. Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Daten derjenigen, die in Deutschland Asyl suchen, besonderen Schutz benötigen. Stattdessen werden sie zentral gespeichert und für hunderttausende Menschen zugänglich gemacht.
Inwiefern wird das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung von queeren Geflüchteten durch die erweiterte Nutzung des AZR verletzt?
Queere Geflüchtete machen sich natürlich Sorgen, dass künftig zahlreiche Behördenmitarbeitende ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität und intimste Details ihrer Lebens- und Verfolgungsgeschichte nachlesen können. Das verletzt ihr Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Welche Rolle spielt in diesem Kontext Ihrer Auffassung nach die derzeitige politische Situation in Deutschland?
„Die Politiker:innen überbieten sich in ihren rechtspopulistischen Forderungen, verfassungsrechtliche Grenzen scheinen keinerlei Rolle mehr zu spielen. Der Umgang mit den Daten Geflüchteter reiht sich hier nahtlos ein.“
Wir sehen in den letzten Wochen eine massive Beschneidung der Grundrechte Geflüchteter. Die Politiker:innen überbieten sich in ihren rechtspopulistischen Forderungen, verfassungsrechtliche Grenzen scheinen keinerlei Rolle mehr zu spielen. Der Umgang mit den Daten Geflüchteter reiht sich hier nahtlos ein. Das Ausländerzentralregister wurde immer wieder ausgeweitet, obwohl Datenschutzexperten und auch der Bundesdatenschutzbeauftragter unisono auf die Verfassungswidrigkeit hinwiesen.
Diese Woche will das Kabinett über eine erneute Ausweitung entscheiden. Ähnlich verhält es sich mit der Auswertung von Handydaten zur Identitätsklärung. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte hat in diesem Februar ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erstritten, wonach diese Bamf-Praxis rechtswidrig ist. Dennoch will die Bundesregierung an dieser Praxis weiter festhalten und die Rechtsgrundlage dafür anpassen.
Für uns ist klar: Es darf keinen Grundrechtsschutz zweiter Klasse für Geflüchtete geben. Dafür gehen wir weiter vor Gericht. Interview Leitartikel Panorama
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