„Fall nicht aufgeklärt“
Fast sechs Jahre Haft wegen „NSU 2.0“-Drohschreiben
Der Angeklagte im Fall der rechtsextremen Drohschreiben mit der Unterschrift „NSU 2.0“ ist zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Dennoch hat das Gericht eingeräumt, dass nicht alle Fragen aufgeklärt sind. Die Polizei steht weiter im Verdacht.
Donnerstag, 17.11.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 17.11.2022, 16:37 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Rechtsextreme Beschimpfungen und Morddrohungen mit der Unterschrift „NSU 2.0“: Am Donnerstag hat das Landgericht Frankfurt am Main den Verfasser der Drohschreiben, Alexander M., zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die Vorsitzende Richterin Corinna Distler sprach den 54-jährigen Berliner einer Vielzahl von Vergehen schuldig, darunter der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten, Bedrohung, Beleidigung, Nötigung, Störung des öffentlichen Friedens und Volksverhetzung. (AZ: 5/17 KLs – 6190 Js 216386/21 (24/21))
Die Staatsanwaltschaft hatte für den Angeklagten eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten gefordert. Der Angeklagte wies in einem letzten Vortrag alle Vorwürfe zurück. Diese seien nicht belegt. Staatsanwaltschaft und Polizei verbreiteten Lügen, um den Verdacht auf ihn als angeblichen Einzeltäter zu lenken, sagte er. Er sei lediglich Mitglied einer rechten Chatgruppe im Darknet gewesen, habe aber keine Straftaten begangen. Die Vorsitzende Richterin widersprach dieser Darstellung.
Die Untersuchung der Computer von M. habe Formulierungen und Adressen der Drohschreiben zutage gefördert, erklärte Distler. Ein Rechtshilfeersuchen an das Internetunternehmen Yandex habe die Ermittler in Besitz sämtlicher Drohmails und -faxe des Täterpostfachs gebracht. M. habe darauf Zugriff gehabt. Außerdem hätten Sprachanalysen der „seltenen Mischung von Formal- und Fäkalsprache“ M. als Urheber aller Schreiben ausgemacht. „Die gesamte Drohserie ist wie aus einem Guss“, sagte Distler.
Drohschreiben hatten schwerwiegenden Folgen für Adressaten
Zwischen August 2018 und März 2021 waren mehr als 80 Drohschreiben per E-Mail, Fax und SMS verschickt worden. Diese waren gespickt mit wüsten Beschimpfungen und Todesdrohungen. Adressaten waren vor allem Frauen: Rechtsanwältinnen, Politikerinnen, Journalistinnen, Staatsanwältinnen. Die Bezeichnung „NSU 2.0“ spielte auf die rechtsextreme Gruppe an, die von 2000 bis 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordete.
Die Drohschreiben hätten schwerwiegende Folgen für das private und berufliche Leben der Adressaten gehabt, sagte die Richterin Distler. Die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız etwa, die die ersten Drohschreiben ab dem 2. August 2018 erhielt, habe überlegt, ihren Beruf aufzugeben. Die Androhung, ihre kleine Tochter zu töten, sei ein Angriff auf den gesamten Rechtsstaat. „Sprache kann genauso verletzen wie eine Körperverletzung“, betonte Distler.
Richterin: Fall nicht aufgeklärt
Dennoch sei der ganze Fall nicht aufgeklärt, räumte die Richterin ein. Die Ermittlungen hätten zwar keine Mittäter aufgedeckt. Die Abfragen vertraulicher Daten der Adressaten auf Polizeicomputern seien jedoch nicht aufgeklärt. Diese gab es in Frankfurt am Main, Wiesbaden, Berlin und Hamburg. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Verurteilte die Daten unter Vortäuschung einer falschen Identität erlangte. Das Gericht wisse nicht, ob M. die Daten von Başay-Yıldız vom Computer des Ersten Frankfurter Polizeireviers erschlichen habe, schränkte Distler ein. „Es spricht viel dafür, dass er es war, aber es bestehen Zweifel“, sagte sie.
Başay-Yıldız äußerte sich als Nebenklägerin mit dem Urteil zunächst zufrieden. Von ihm gehe eine wichtige Signalwirkung gegen Hass und Hetze aus, sagte sie unmittelbar nach der Verhandlung. Das Gericht habe aber auch deutlich gemacht, dass weitere Ermittlungen zu den Abfragen auf den Polizeicomputern nötig seien. Sie gehe davon aus, dass M. Unterstützung von Polizisten gehabt habe.
Polizei steht im Verdacht
Auch die Bundesvorsitzende der Linken, Janine Wissler, die ebenfalls bedroht worden war, äußerte sich erleichtert. Sie kritisierte ebenfalls die Annahme der Staatsanwaltschaft, dass es sich um einen Einzeltäter handele. Die Aufdeckung rechtsextremer Chatgruppen unter hessischen Polizisten, die Auflösung des SEK Frankfurt aus diesem Grund und die Erfahrung mit rechten Netzwerken sprächen dagegen.
Bei den Ermittlungen wurden mehrere Chatgruppen mit rechtsextremen Äußerungen hessischer Polizisten aufgedeckt. Mehrere Beamte wurden suspendiert, gegen einen Beamten des Ersten Frankfurter Polizeireviers läuft ein Strafverfahren. (epd/mig) Leitartikel Recht
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