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Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler (l.) in Beratung mit Kollegen © Mehmet Gürcan Daimagüler

Exklusiv-Buchauszug (4/5)

Wer vom NSU sprechen will, darf zum Rassismus nicht schweigen

Das Oberlandesgericht München hat das Urteil im NSU-Verfahren verkündet. Viele Fragen sind unbeantwortet geblieben. MiGAZIN veröffentlicht in einem Fünfteiler Exklusiv-Auszüge aus dem Buch von Opferanwalt der Nebenklage, Mehmet Daimagüler.

Von Mehmet Daimagüler Donnerstag, 12.07.2018, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 12.07.2018, 17:59 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Bevor ich auf das Versagen der Behörden im Detail eingehe, will, nein muss ich über Rassismus sprechen. Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema wäre auch hier im Prozess so wichtig gewesen. Dies beginnt schon bei der Einschätzung der Schwere der Schuld. Zudem wäre es auch angesichts des Ziels eines Gerichtsverfahrens, Rechtsfrieden zu schaffen, dringend notwendig gewesen, den Rassismus der Täter und den der Gesellschaft aufzuzeigen.

Die Unmöglichkeit des Sprechens

Rassismus. Schon das Wort allein führt zu Abwehrreaktionen beim Gegenüber. Auch ich persönlich muss das oft genug feststellen. Sobald ich es wage, das Wort über die Lippen zu bringen, wird umgehend abgestritten, relativiert, beschwichtigt. Viele Menschen nehmen es als Provokation wahr, auf Rassismus angesprochen zu werden. Nicht der Rassismus selbst scheint daher das Problem zu sein, sondern das Thematisieren desselben. Die Zurückweisung erfolgt reflexhaft. Eine Auseinandersetzung mit dem Gesagten findet dann in der Regel gar nicht statt.

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Größer wird die vermeintliche Provokation nur noch, wenn derjenige, der es wagt das Thema anzusprechen, nicht in das homogene Bild deutscher Identität passt. Dann wird die inhaltliche Beschäftigung damit umso perfider abgewehrt: Falls es einem hier nicht gefalle, solle man doch in die Türkei gehen – dort, wo du eigentlich hingehörst, ist gemeint. Außerdem solle man sich doch erst mal anschauen, wie dort mit Minderheiten umgegangen werde – das nimmt dir doch jedes Recht, deutsche Verhältnisse zu kritisieren, soll das heißen.

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Die Reaktion erfolgt wohl deshalb auf so vehemente Art und Weise, weil Rassismus gemeinhin mit nationalsozialistischer Ideologie und rechtsextremer Gewalt gleichgesetzt wird. Dass diese falsche Analogie in Deutschland allzu gegenwärtig ist, hat auch Githu Muigai, der UN-Sonderberichterstatter zu Rassismus, nach seinem Besuch im Jahr 2009 bemängelt. Und Nazi möchte wirklich niemand sein.

In der Tat geht es nicht darum, Nationalsozialisten mit den Sicherheitsbehörden oder der Mitte der Gesellschaft gleichzusetzen – das ist nicht meine Absicht. Vielmehr muss Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen verstanden werden, das sich alltäglich und in ganz unterschiedlichen Ausprägungsformen zeigt. Der Grund für den Abwehrreflex liegt auch darin begründet, dass Rassismus in der Gesellschaft nur als persönliche Eigenschaft, die man weit von sich weisen möchte, verstanden wird, nicht jedoch als strukturelles Problem.

Wir müssen aufhören, Rassismus als eine Unterform (neo-)nationalsozialistischer Ideologie – beschränkt auf Glatzenträger mit Reichskriegsflagge – zu begreifen. Stattdessen müssen wir ihn endlich als gesamtgesellschaftliche Bedingung erkennen, die es Rechtsextremisten ermöglicht, in unserer Gesellschaft Fuß zu fassen. Mit einem NPD-Verbot allein wäre insofern wenig geholfen gewesen. Jeder Nazi ist Rassist, aber nicht jeder Rassist ist ein Nazi.

Die BRD als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus

Die strukturelle Abwehr des Sprechens über Rassismus lässt sich sicherlich auch so erklären: Die Bundesrepublik hatte den Anspruch, ein Gegenentwurf zum Nationalsozialismus zu sein. Das bundesrepublikanische Selbstverständnis beruht auf dem Mythos der „Stunde Null“, einer erfolgreich durchgeführten Entnazifizierung, einer beispiellosen Aufarbeitung der Vergangenheit und einem neugefundenen demokratischen Selbstverständnis im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Der Nationalsozialismus und seine Ideologie wurden dementsprechend mit einem umfassenden gesellschaftlichen Tabu belegt. „Wir haben aus dem Dritten Reich gelernt. Wir haben unsere Vergangenheit bewältigt.“ Das ist das autosuggestiv vorgetragene Mantra bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte. Was genau aber haben wir eigentlich „gelernt“? Wie sieht eine „bewältigte“ Vergangenheit aus?

Rassismus ohne Rassen

Inzwischen hat auch der dümmste Rassist verstanden, dass er – will er gesellschaftlich anschlussfähig bleiben – seinen Rassismus nicht mehr klassisch biologistisch begründen kann: NS-Rassenlehre verkauft sich nicht mehr so gut. Ausführungen zu unaufhebbaren kulturellen Differenzen dafür umso besser. Diese neuen Ausdrucksformen desselben alten Rassismus werden aber oft nicht als solche erkannt. Nicht „der Jude“ ist unser neues Unglück, sondern „die steinzeitlichen Muslime“.

Es ist deshalb höchste Zeit: Wir müssen unsere Aufmerksamkeit auch für solchen Rassismus schärfen, der nicht mit dem „Rasse“-Begriff hantiert oder sich auf Ausführungen zur biologischen Vererbung stützt. Dieser klassische Rassismus ist gesellschaftlich eher unüblich geworden, wenngleich er noch von Menschen, die sich wirklich für nichts zu schade sind, wie Thilo Sarrazin oder Björn Höcke, öffentlich ins Spiel gebracht wird.

Tipp: Lesen Sie auch die anderen Teile dieser Reihe:

1. Vom Terror Einzelner zum Versagen aller im NSU-Komplex
2. Wie groß war der NSU wirklich?
3. Der NSU-Prozess: ein Überblick
4. Wer vom NSU sprechen will, darf zum Rassismus nicht schweigen
5. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jetzt erst recht!

Aber es gibt auch einen Rassismus ohne den ausdrücklichen Bezug auf Rassen. „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“, stellte schon Theodor W. Adorno fest. Die vermeintliche „Kultur“ wird dann in der Regel als fixierte Eigenschaft einer Gruppe festgeschrieben. Es wird generalisiert. Es wird naturalisiert. Es wird essentialisiert. Das Individuum wird dabei vergessen. Es bleibt im „stahlharten Gehäuse der Zugehörigkeit“ gefangen. Besonders offensichtlich wird dies etwa, wenn der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt in einem Interview mit dem rechtsextremen, verschwörungstheoretischen Compact-Magazin davon spricht, Machismus und Misogynie gehörten zu den „genetischen Grundbausteinen [der] Kultur“ junger Muslime. Die Sprache mag eine andere sein, das biologistische Denken bleibt dasselbe.

Es ist an uns als Gesellschaft, diese Verschleierung rassistischer Ausgrenzung zu durchschauen. Wir brauchen ein Rassismus-Verständnis, das auch die subtileren Formen rassistischer Diskriminierung als solche erkennt. Auch wenn diese sich auf unterstellte kultureller Differenzen oder die vermeintliche Unvereinbarkeit der Lebensweisen stützen.

Der Gedanke, dass trotz des Gründungsmythos der BRD als Gegenentwurf zum NS-Unrechtsstaat ideologische Fragmente aus den Dreißigerjahren in den Köpfen der Menschen fortwirken könnten, wird von vielen mit aller Kraft abgewehrt. Ein derartiges Eingeständnis würde das gesellschaftliche Selbstbild ins Wanken bringen.

Für die Gesellschaft ist es um einiges angenehmer, jeglichen Rassismus an den rechten Rand zu verpflanzen. Dort fristet er nach der Meinung der Mehrheitsbevölkerung ein abgeschottetes, isoliertes Dasein. Alles, was hier in der Mitte der Gesellschaft so gesagt, gemacht oder gedacht wird, kann deshalb von Natur aus schon nicht rassistisch sein. Wir tragen ja keine Springerstiefel.

Der politische Kampfbegriff des „Extremismus“

Wissenschaftlich untermauert wird dieses vorgefertigte Selbstbild der bürgerlichen Mitte dann passenderweise durch die Extremismus-Doktrin: Wir, der gesellschaftliche Mainstream, sind demokratisch, weltoffen und definieren uns durch die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Mit dem linken und rechten Rand – die im Übrigen für uns natürlich vollkommen gleichermaßen verabscheuenswürdig und gefährlich sind – verbindet uns gerade noch die geografische Nähe. Ansonsten haben wir mit denen absolut nichts zu tun. Ideologische Schnittmengen sind vollkommen ausgeschlossen. Dass rund die Hälfte der Deutschen meint, es gebe zu viele Ausländer im Land – gemeint ist natürlich deren Aussehen und Herkunft, nicht die Staatsangehörigkeit –, scheint dann nicht mehr so wichtig. Die vermeintliche „Mitte“ kann ja schon definitionsgemäß gar nicht extremistisch sein.

Dieses Denken bagatellisiert nicht nur die Gefährlichkeit gewaltbereiter Neonazis, sondern befreit auch die sogenannte Mitte von jeder Verantwortung. Aktuell Meinung

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