NSU-Prozess, NSU, Rechtsextremismus, Beate Zschäpe, Nebenkläger
NSU-Prozess - Reserviert für die Nebenkläger © Mehmet Gürcan Daimagüler

Exklusiv-Buchauszug (1/5)

Vom Terror Einzelner zum Versagen aller im NSU-Komplex

Am Mittwoch wird das Oberlandesgericht München das Urteil im NSU-Verfahren verkünden. Viele Fragen werden unbeantwortet bleiben. MiGAZIN veröffentlicht in einem Fünfteiler Exklusiv-Auszüge aus dem Buch von Opferanwalt der Nebenklage, Mehmet Daimagüler.

Von Mehmet Daimagüler Montag, 09.07.2018, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 09.03.2022, 16:40 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

„Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“

Es war eine beeindruckende Ansprache, die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 23. Februar 2012 vor den und für die Angehörigen jener Menschen hielt, deren Liebste – Väter, Ehemänner, Lebensgefährten, Söhne, Töchter, Brüder – mutmaßlich von NSU-Mördern aus dem Leben gerissen wurden. Nur wenige Wochen zuvor war bekannt geworden, dass die neun migrantischen Kleinunternehmer nicht Opfer einer lediglich in den Köpfen von Polizeibeamten existierenden „Türkenmafia“, sondern von deutschen Rassisten geworden waren. Die Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter wurde nicht von „Zigeunern“ oder „Negern“ ermordet, wie in Polizeiakten spekuliert, sondern von Deutschen aus dem Osten unseres Landes. Ja, unsere Bundeskanzlerin hat eine beeindruckende Rede gehalten, eine Rede voller Mitgefühl und Anteilnahme. Jeder, der diese Rede hörte, fasste – wieder – Vertrauen, nicht nur in die Regierungschefin, sondern insgesamt in Deutschland. Man fasste Vertrauen – ich fasste Vertrauen –, weil Merkels Worte klar und das Versprechen der Aufklärung eindeutig waren. Ich schämte mich nicht für die Tränen, die in meinen Augen standen, während ich diese Rede hörte.

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Was aber ist aus diesem Versprechen geworden? Jetzt, über fünf Jahre später? Das Versprechen wurde gegeben, aber eingehalten wurde es nicht. Denn die Morde wurden nicht lückenlos aufgeklärt und die Helfershelfer und Hintermänner des NSU laufen noch immer frei herum. Die „zuständigen“ Behörden in Bund und Ländern haben nicht mit „Hochdruck“ an der Aufklärung gearbeitet. Manche Behörden haben stattdessen sogar das Gegenteil praktiziert: Akten wurden vernichtet, Aussagegenehmigungen nicht erteilt und Zeugen nicht benannt. Die Generalbundesanwaltschaft, beileibe keine unabhängige Behörde, sondern eine, die dem Bundesministerium der Justiz und damit letzten Endes auch der Verantwortung des Bundeskanzleramtes unterstellt ist, hat frühzeitig erklärt, der NSU-Komplex sei „ausermittelt“. Diese kühne Behauptung wurde schon in den ersten Tagen des Prozesses gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte eindrucksvoll als das entlarvt, was sie war: eine Behauptung wider besseren Wissens. Carsten Schultze, einer der Angeklagten, berichtete in seiner Einlassung von einem dritten Bombenanschlag des NSU, von dem bis dahin niemand wusste. Eine von einem Türken geführte Gaststätte in Nürnberg war das Ziel des sogenannten „Taschenlampenanschlages“ geworden. Hätte Schultze nichts gesagt – noch heute würde die Staatsanwaltschaft Nürnberg einen türkischstämmigen Angestellten, der die Bombe gefunden hatte und dabei verletzt worden war, der Tat verdächtigen.

Das NSU-Verfahren ist am Ende. Wir haben über vier Jahre verhandelt, über 900 Zeugen gehört, mehr als 380.000 Seiten Aktenmaterial ausgewertet. Über Jahre hinweg haben sich fünf Hauptrichter und drei Ergänzungsrichter, vier Vertreter der Generalbundesanwaltschaft, dreizehn Verteidiger und Dutzende Vertreter der Nebenklage in einem rechtsstaatlichen Verfahren um die Aufklärung der Wahrheit bemüht. Die terroristische Vereinigung ist zerschlagen – Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sind tot, Beate Zschäpe und die Mitangeklagten sind verurteilt. Unser Land atmet auf, das System hat letztendlich funktioniert. Der Schuldspruch läutert uns alle: als Menschen, als Gesellschaft. Unser Ansehen ist wiederhergestellt. Wir können das Kapitel abschließen und uns anderen, drängenderen Problemen zuwenden. Endlich! Nicht wenige werden – laut oder leise – in den letzten Wochen und Monaten einen ähnlichen Gedanken gefasst haben. Und es wäre anmaßend, den Impuls zu verurteilen. Denn wie gern würden wir ein für alle Mal abschließen mit einem Thema, das eine unbarmherzige Verbindung zwischen den Verbrechen unserer Großväter und der Gegenwart zieht. Und ist es nicht gerade die Aufgabe eines Strafprozesses, einen Schlusspunkt zu setzen, Frieden zu stiften? Frieden für die Opfer, Frieden für die Gesellschaft?

Doch eben das konnte dieser Prozess nicht leisten – und es hätte auch kein anderer tun können. Ergebnis des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht in München war die strafrechtliche Verantwortung der fünf Angeklagten. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Der NSU-Komplex hat unsere Gesellschaft jedoch in ihren Grundfesten erschüttert. Eine Gesellschaft, die auf den Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit, von Toleranz und Menschlichkeit aufbaut. In der schlichten und doch wirkmächtigen Sprache unseres Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ und „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“. Dass diese Werte verletzbar sind, stellt das Grundgesetz selbst unmissverständlich klar. In seiner wichtigen Rede vor dem Deutschen Bundestag zu „65 Jahre Grundgesetz“ sagte mein Siegener Schulkamerad, der Schriftsteller Navid Kermani: „Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt.“

Würde, Freiheit, Gleichheit – es waren die fundamentalen Werte unseres Landes, die von den Kugeln des NSU durchlöchert wurden. Und wir alle sind aufgerufen, diese Werte zu verteidigen.

Der Weg zu einer besseren Gesellschaft ist lang, und er ist steinig. Und er erschöpft sich nicht in strafrechtlicher Verantwortung. Wir müssen „Verantwortung“ vielmehr weiterdenken. Im Deutschen hat dieser Begriff einen doppelten Gehalt: So bezeichnet er einerseits „die Verpflichtung, für etwas Geschehenes einzustehen“, andererseits die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass „alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht.“1 Übernehmen wir also Verantwortung, auch wenn wir nicht unmittelbar für die Taten des NSU verantwortlich gemacht werden können. Übernehmen wir Verantwortung für das Geschehene und für unsere Zukunft.

Ein Verharren im „Ohne mich!“ sei das Schlimmste, was man sich und der Welt antun könne, ruft Stéphane Hessel in seiner Streitschrift Empört euch! den Menschen zu. Es ist ein Aufruf, angesichts der Komplexität unserer Welt nicht zu erstarren, sondern mit wachen Augen nach den Themen zu suchen, bei denen Empörung sich lohnt. Mit dem NSU-Komplex liegt ein solches Thema vor uns. Daher mein Appell: Übernehmen wir Verantwortung! Für uns, für unser Land, für unseren Staat und seine Organe, auch für deren Fehler und Unzulänglichkeiten. Dazu gehört auch, nicht so zu tun, als sei der NSU Geschichte, als wären alle Rätsel gelöst und alle Fragen beantwortet.

Um nur einige von vielen offenen Fragen zu benennen: Wenn der NSU wirklich „ausermittelt“ ist, wie es die Bundesanwaltschaft behauptet, warum wissen wir dann bis heute nicht, warum die junge Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter wirklich sterben musste? Wer hat die Bombe in dem Lebensmittelgeschäft einer iranischstämmigen Familie in der Kölner Probsteigasse deponiert? Die Personenbeschreibungen von zwei Zeugen passen weder auf Uwe Mundlos noch auf Uwe Böhnhardt. Was wussten die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden? Die Nazi-Szene in Thüringen war und ist durchsetzt von V-Männern. Und da will wirklich niemand mitbekommen haben, wo das Trio steckte und was es trieb? Was machte der Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme am Tatort, als der junge Halit Yozgat in seinem Internetcafé ermordet wurde? Warum tauchte er unter, anstatt sich als Zeuge bei der Polizei zu melden? Wie kann es sein, dass ein Nazi als Zeuge vor Gericht erscheint und von einem Anwalt vertreten wird, den der Verfassungsschutz Hessen „empfohlen“ und bezahlt hat? Wie ist es möglich, dass die Forderung der Nebenklage, diesen Anwalt zu entlassen und einen neuen, tatsächlich für den Mandanten arbeitenden Rechtsbeistand einzubestellen, von der Bundesanwaltschaft abgelehnt wird? Und zwar mit der Begründung, es sei alles in bester Ordnung? Sehen so die deutschen Behörden aus, die im Merkel’schen Sinne „mit Hochdruck“ an der Aufklärung arbeiten?

Tipp: Lesen Sie auch die anderen Teile dieser Reihe:

1. Vom Terror Einzelner zum Versagen aller im NSU-Komplex
2. Wie groß war der NSU wirklich?
3. Der NSU-Prozess: ein Überblick
4. Wer vom NSU sprechen will, darf zum Rassismus nicht schweigen
5. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jetzt erst recht!

Erst neulich habe ich mir die Rede unserer Bundeskanzlerin noch einmal angeschaut. Erst jetzt sind mir Dinge aufgefallen, die mir damals nicht aufgefallen sind. Genauer gesagt: Nicht das, was sie sagte, fiel mir auf, sondern das, was fehlte. Zwar erwähnte sie, dass die meisten Opfer aus der Türkei stammen. Sie sagte aber nicht, dass die meisten Opfer Türken und Muslime waren. Theo Boulgarides, so vermutet man, musste sterben, weil die Täter ihn für türkischstämmig hielten. Wieso sagte die Bundeskanzlerin nicht klipp und klar, dass neun Menschen sterben mussten, weil manche in Deutschland einen Hass auf Muslime und Türken haben? Es wurden keine Italiener oder Spanier umgebracht, sondern Türken. Es leben viele Migranten in Deutschland, aber nur wir Türken sind zumeist auch Muslime. Das unterscheidet uns. Sprach Merkel nicht über diesen Umstand, weil sie Sorge hatte, sich eingestehen zu müssen, dass der Hass gegen Muslime und Türken nicht geringer, sondern in den letzten Jahren größer geworden ist? Dass dieser Hass nicht nur in den kalten Herzen von Nazis schlummert, sondern auch tief in der Mitte unserer Gesellschaft zu finden ist? Jeder Nazi ist islamophob, antisemitisch und rassistisch, aber nicht jeder Rassist, Antisemit und Muslimhasser ist ein Nazi. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir mit Abscheu über Nazis sprechen, dabei aber über Thilo Sarrazin und den gesellschaftlich akzeptierten Rassismus, für den dieser Name dank seiner brandstiftenden Bücher steht, schweigen wollen.

„Wir wollten einfach nur wie normale Menschen behandelt werden.“ In einem der Gespräche, die Altbundespräsident Christian Wulff mit Hinterbliebenen geführt hat, fiel dieser Satz. „Wie normale Menschen“ – diese Worte zeigen, wie verzweifelt die Angehörigen damals waren. Das Erschütternde: Diese Worte können auch heute noch, Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, von vielen anderen Menschen mit allem Recht der Welt ausgesprochen werden. Von jenen Menschen aus den Staaten des Nahen Ostens, die ein Leben in Freiheit und Würde führen wollen und aus ihrer zerstörten Heimat geflohen sind. Von jenen Menschen, die aus der Armut und dem Elend Afrikas zu uns kommen, die von einem besseren Leben für ihre Kinder träumen und die für uns bloß „Wirtschaftsflüchtlinge“ sind. Von Schwulen und Lesben, denen man jene Rechte verweigert, die für die Mehrheit so selbstverständlich und grundgesetzlich verbrieft sind. Von Sinti und Roma, für deren in unseren Konzentrationslagern von unseren Groß- und Urgroßeltern umgebrachten Groß- und Urgroßeltern wir ein Mahnmal im Herzen Berlins errichtet haben, über die aber selbst Politiker der Mitte so reden, als seien sie menschlicher Ballast. Von Juden, denen in Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte auch von Herrn Doktor und Frau Professorin in Leserbriefen attestiert wurde, sie hingen einer „archaischen“ Religion an. Dass dies auch für Muslime gelte, verstand sich von selbst. Es reicht nicht, über Nazis zu sprechen. Wir müssen auch über uns sprechen, über die Art und Weise, wie wir über andere Menschen reden und urteilen. Leitartikel Panorama

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