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Migrationshintergrund © MiG

Appell

Der Migrationshintergrund – Stigma oder Fremdeinschätzung?

Erst in Deutschland fiel Jaime auf, dass ihn seine Freunde oft "Spanier" nennen. Auch der Staat hat ihm das Label "Migrationshintergrund" untrennbar angeheftet. Dabei kann sich Deutschland dieses Etikett gar nicht leisten. Ein Plädoyer von Dr. Rodolfo Valentino

Von Montag, 30.05.2016, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 30.05.2016, 21:41 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Jaime G. gehört zur so genannten zweiten Einwandergeneration. Seine Eltern sind in den 1970er Jahren von Spanien nach Deutschland eingewandert. Er ist in Köln geboren, ging hier zur Schule, machte Abitur und studierte Volkswirtschaft in Bonn mit zwei Auslandssemestern in Madrid. In Madrid lernte er einen seiner besten Freunde kennen, Pablo C., dessen Eltern ursprünglich aus Peru stammen. Pablo C. gilt in Spanien als Spanier. Nur Rassisten trauen sich, ihn „Sudaca“ (Scheiß Südamerikaner) zu nennen. Doch sie kann er leicht von der nicht-rassistischen Mehrheit unterscheiden.

„Hier“, gesteht uns Jaime G., „ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass selbst meine Freunde in Deutschland mich oft ‚Spanier‘ nennen, obwohl ich die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen habe, hier aufgewachsen bin und mich als Rheinländer fühle. Klar fühle ich mich in Spanien wohl, es ist ein tolles Land, aber ich sehe es nicht als meine Heimat an. Mir wurde plötzlich klar, dass ich niemals ein ‚Bio-Deutscher‘ sein werde, denn meine Freunde, die jetzt keine Rassisten sind, erinnern mich oft ungewollt immer wieder an die Herkunft meiner Eltern. Ich meine, das Wort ‚Bio-Deutscher‘ sagt ja wohl alles. Als ob es eine deutsche Rasse gäbe. So ein Blödsinn! Ein Land mitten in Europa, wo alle Völker durchgewandert sind, aber insgeheim glauben das viele ‚Alteingesessene‘.“

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Jaime G. ist mittlerweile 36 Jahre alt und arbeitet für eine Event-Firma in Köln. Er erinnert sich, dass seine Firma vor zwei Jahren eine Veranstaltung für die MOZAIK gGmbH, eine gemeinnützige Gesellschaft für interkulturelle Bildungs- und Beratungsangebote, organisiert hatte. Im Laufe der Veranstaltung fiel ihm ein Referent auf, der den Begriff „Migrationshintergrund“ in seinem Vortrag verteidigte. „Es kam zwischen einem Fragenden aus dem Publikum, der augenscheinlich nicht dem ‚bio-deutschen‘ Haut-, Haar- und Augenfarbe-Diktat entsprach, und dem Referenten zu einer kleinen Diskussion, ob der Begriff nicht eine Stigmatisierung sei.“

Stigmatisierung meint in den Sozialwissenschaften die Zuschreibung von meist negativen Attributen, d.h. einer bestimmten Gruppe, in diesem Fall den hier geborenen Kindern von Einwanderern, werden Eigenschaften wie „bildungsfern“ oder „Parallelgesellschaft“ zugeschrieben, die ihnen die Integration und vollständige Teilhabe an der Gesellschaft erschweren und das Schulleben zu einer diskriminierenden Erfahrung machen können.

„Die Antwort des Referenten“, führt Jaime G. fort, „eines Integrationsbeauftragten der Stadtverwaltung Berlin, ließ mich aufhorchen. Er verstehe, dass die zweite ‚bildungsnahe‘ Generation, die es auf dem deutschen Arbeitsmarkt geschafft habe, nicht auf ihren Migrationshintergrund angesprochen werden möchte. Das sei aber ein rechtlicher Begriff und würde bei den deutschen Ämtern für die Statistik abgefragt.“

So wie Jaime G. geht es vielen Deutschen, die hier geboren sind, aber deren Eltern aus einem anderen Land nach Deutschland eingewandert sind. Die deutsche Politik hat damit einen Begriff geschaffen, der Menschen als „nicht wirklich deutsch“ etikettiert und in dem einen oder anderen Fall vorverurteilt. Da wird der Migrationshintergrund bei Ämtern wie in der Arbeitsagentur oder im Jobcenter aus „statistischen Gründen“ erfasst, öffnet aber dem Sachbearbeiter die Tür, bestimmte Menschen mit negativen Attributen wie faul, sozial parasitär oder bildungsfern zu versehen. Offensichtlich hat man von den Fehlern der Vergangenheit nicht gelernt. Das Etikett „Gastarbeiter“ suggerierte, dass man sich als Gast in Deutschland benehmen musste und arbeiten durfte, aber irgendwann einmal wieder in die eigene Heimat zurückkehren sollte. Mit den „Gastarbeiterkindern“ verfuhr man ähnlich und nur wenige ehrgeizige Eltern konnten es durchsetzen, dass ihre Kinder bessere Schulen besuchten.

Deutschland kann sich mittlerweile weder das Etikett „Bio-Deutscher“ noch „Migrationshintergrund“ leisten, denn ähnlich wie seine europäischen Nachbarn ist die Zahl der Eingewanderten und der Nachkommen so signifikant, dass sie die deutsche Gesellschaft als Einwanderungsland überführen. Diese soziale und politische Realität lässt sich nicht mehr leugnen und muss wohl oder übel zu einer neuen Selbstdefinition als Einwanderungsgesellschaft führen. Das impliziert auch eine neue Selbstverständlichkeit in der Kultur, in der Sprache und in den Einstellungs- und Meinungsstrukturen der Mehrheitsgesellschaft. Die Politik darf sich nicht nur auf diffusen Konzepten von Willkommenskultur und Vielfaltsgesellschaft ausruhen, sondern muss Aufklärungsarbeit und Kulturerneuerung betreiben. Wer in einigen Jahren dann noch Lust und Laune hat, bei Umfragen zur Selbsteinschätzung wie in den USA die kulturelle Herkunft seiner Eltern oder Großeltern anzugeben, der sollte auch das Recht haben. Die Verwendung des Wortes „Migrationshintergrund“ sollte bis auf weiteres als diskriminierend, als politisch inkorrekt und als inkompatibel mit einer Einwanderungsgesellschaft eingestuft werden. Aktuell Meinung

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  1. pierpo sagt:

    Der Begriff „Migrationshintergrund“ ist nun eins für alle mal diskriminierend und sollte schlicht abgeschafft werden. Ich würde gern wissen, was für Vorteile solch eine Statistik mit sich bringt, wie die Ämter anscheinend führen. Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und die Deutsche Staatsangehörigkeit genommen hat, ist halt Deutsche/r: Nicht nur in Spanien läuft es so: Ich komme aus Italien und dort wird die ansässige Bevölkerung zwischen AusländerInnen (also mit ausländischem Pass) und ItalienerInnen getrennt, nur aus juristischen und gerichtlichen Gründen. Die wichtigste Auswirkung des Begriffs „Migrationshintergrund“ ist meiner Meinung nach jene Dummen zu rechtfertigen, die denken, gewisse Tugende können nur Urdeutschen zugeschrieben werden und nicht Leuten, die erst seit 1 oder 2 Generationen in diesem Land leben. So eine Denkweise muss aus unseren Köpfen heraus, um endlich eine echte bunte multikulturelle Gesellschaft zu bauen.

  2. Han Yen sagt:

    Herr Valentino, der Begriff Migrationshintergrund ist keineswegs stigmatisierend, sondern neutral. Ich würde es bevorzugen, wenn man sich daran gewöhnen würde von Arbeiter-Diaspora, Wissenschafts-Diaspora, Fachkräfte Diaspora, Business Diaspora, Sport Diaspora, Kunst Diaspora…zu sprechen. Der Begriff Menschen mit Migrationshintergrund wird stigmatisierend gebraucht, aber der Begriff intendiert keine Stigmatisierung.

    Es handelt sich um Menschen mit transnationalen Haushalten, Lebenstil Orientierungen, Digital Natives, Mobilitätskorridoren und Kunststilen, die Kapital-, Dienstleistungs-, Humanvermögen- und Informationsströme regional mit einander verkoppelt.

    Wenn man ein Bundesliga Spiel sieht, erkennt man sofort Leute aus Fußballer Schulen in Südamerika und Afrika. auf einer afrikanischen Fußballerschule kostet die Ausbildung nur 5000 USD. Die Sportler-Rechte werden unter der Rubrik Alternative Investment gehandelt und sind teil von ETF Fonds – eine echte Börsen Innovation.

    Im Hochschulsystem werden sie rasch merken, dass nicht mehr nur einfach Personen, sondern auch Programme und Curricula mobil geworden sind. Insbesondere Australien und Singapur sind an der vordersten front durch Partnerschaften mit Marken-Universitäten ihre MBA Kurse unter dem Mann zu bringen.

    Fachkräfte Diasporas bei der IT, Rechtsanwaltskanzleien, Wirtschaftsprüfung, Finanzinstitutionen und Marketing werden im Konzern rotiert. Allerorts debattiert man über Steuerfreibeträge und Steuernachlässe für Weiterbildungsmaßnahmen für Fachkräfte Diasporas. Insbesondere in Company Havens, Offshore Finanzplätzen und sonderwirtschaftszonen ist das ein Riesen Thema. Hierzulande debattiert man beim Einwanderungsgesetz über Abschottung. Nicht mal die Mobilitätsabkommen mit den EU Mitgliedsländern bekommt man unter Dach und Fach, um mit der Greencard zu konkurrieren.

    Bei den Business Diasporas wären die Exporte und Importe niemals so hoch, ohne den ausländischen Studentenaustausch. Ohne die gäbe es gar kein ordentliches Contract Management, um die Friktionen des internationalen Handels überbrücken zu können. Internationale Schiedsgerichte, Exim Banken und internationales Handelsrecht brauchen Personal für die Aufrechterhaltung. Ein einfacher Blick in die Firmen und Handelsregister hätte den Zusammenhang zwischen Migration und hochwertigen Güteraustausch sichtbar gemacht.

    Die geringqualifizierten Migranten und Postmigranten tragen nicht nur hier zum Steueraufkommen bei, sondern auch in den Auswanderungsländer, weil sie müssen. Die Familienzusammenführung und die erschwerte legale Einwanderung trennt Familien, so dass Lohnanteile überwiesen werden müssen. Die Lohnanteile gehen dann als Verbrauchssteuer in den Fiskus des Auswanderungsstaates.

    Im Übrigen sollte man aufhören über Migranten-Quote ausschließlich im Zusammenhang mit Chancengleichheit zu reden als wären religiöse und Einwandererminderheiten vergleichbar mit Frauen, sexuelle Minoritäten und nationalen Minoritäten wie Friesen und Sorben.

    Die Ur-Deutschen sollten bei der Sündenbock Suche besser auf rein lokale Minoritäten sich beschränken. Denn in der Weltwirtschaft sind nämlich ortsbezogende Geschäftsrisiken, Steuerrisiken und Konsumentenpreis Risiken nicht im System der staatlichen Institutionen und der Märkte eingepreist. Es gibt keinen internationalen Versicherungsmarkt für Fluktuationen der Konsumpreis Indizes oder des Bruttonationaleinkommens.

    Die Risiken werden unvollkommen abgefangen durch IWF Hilfen und Entwicklungshilfekredite. Das Gros der transnationalen Transfers stammt aber von intra-familiären Rücküberweisungen, welche transnationale Haushalte tätigen. Die Dunkelziffer ist nicht ganz klar, ob die Größenordnung der Auslandsdirektinvestitionen bereits überschritten ist. Denn nicht alle intra-familiären Rücküberweisungen gehen über die Kanäle der Geldüberweisungsinstitute und werden in monatlichen Zeitreihen ausgewiesen.

    Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine ungezügelte institutionelle Diskriminierung Staaten mit großen Devisenreserven wie Süd-Korea, China und Indien in den letzten Jahren erlaubt hat, sich im Trikont einzukaufen, weil die Devisenreserven nicht durch Tourismus, Export und Rücküberweisungen in der gewünschten Menge geflossen sind, um Infrastruktur Investitionen im gewünschten Ausmaß zu tätigen. Natürlich haben die üblichen Verdächtigen wie die USA, UK, die Schweiz, der Vatikan Staat, teilweise Frankreich und Spanien zur katastrophalen Lage ebenfalls beigetragen.

    In der Epoche der Currency Wars hilft es uns nicht, die Rohstoffländer künstlich von höheren Rücküberweisungsströmen abzuschneiden, die sie für die Verteidigung ihrer Währung brauchen. Im Falle einer Überschuldung werden die angegriffenden Staaten nämlich von den USA/UK Kapitalbesitzer, chinesischen und japanischen Mega-Banken, indischen und süd-koreanischen Konzernen um ihre Mineralvorkommen erleichtert durch Konzessionen.

    Die Rede von Chancen-Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Meritokratie und positive Diskriminierung sind veraltet und längt durch Ökonometrie, Finanzmarkttheorie und Finanzwissenschaft überholt.

    Diese ganze Quoten-Debatte ist ein Spillover aus der Frauenbewegung, die eine quantitative Minorität in den Männer-Berufen ist. Die Rede vom Migrationshintergrund kommt aus den alten us-amerikanischen Assimilationstheorien, die schon immer falsch waren. Diese ganzen Output orientierten Quoten helfen rein gar nichts.

    Die Debatte über anoynme Bewerbungen gar gar nicht so schlecht. Bei der Quoten Debatte hätte ich fast gedacht, die deutsche Öffentlichkeit hätte die Debatte um Market Engineering for Equality mit bekommen. Statt dessen importiert man diese unsägliche Diversity Management und Managing Diversity Debatte. Diversity steigert mitnichten die Profitabilität von Unternehmen, sondern Erfolg am Markt entsteht durch transnationale Wissens- und Normen Strukturen, die in den Köpfen von Dominant Market Minorities stecken. Dominant Market Minorities sind Diaspora Gruppen, die die Transaktionskosten im internationalen Handel durch Wissens- und Normen überbrücken können und über Jahrhunderte Wettbewerbsvorteile angehäuft haben. Die Gewinnung von Dominant Market Minorities macht den Standort Deutschland auf den Auslandsmärkten stärker. selbstverständlich weisen aber nicht alle einwanderminderheiten geographisch und vom Kompetenzprofil Züge einer Dominant Market Minority auf.

    Möglicherweise kann man sie künstlich erzeugen durch Entrepreneurship. bilinguale Erziehung und Umzugshilfen. Dafür braucht man aber auch zusätzlich Market Engineering über transnationale soziale Netzwerke, um Knowledge Firmen, Human Ressource Agenturen, Outsourcing/Offshoring, Franchising, globalisierungskritische Dienstleistungsunternehmen aufeinander abzustimmen. Es gibt ja nicht nur transnationale Haushalte, sondern transnationale Normen- und Wissensstrukturen senken Transaktionskosten bei allen Netzwerk Typen B2B und G2B. Den Demonstrationseffekt transnationaler Fusionsküche und musikalischer Fusionsstile kennen alle mit der Pizza, dem Döner un dem Basmathi Reis. Lernt die brd jemals den Demosntrationseffekt durc B2C Netzwerke in ein formales Marketing Modell zu überführen. Was ist mit User Engineering für deutsche Medizintechnik und Küchen ?

    Wir werden später sehen, was das Hänschen Klein der deutschen Integrationsindustrie niemals von sich aus lernen wird. Es verbiegt alle ausländischen Ideen und Konzepte so lange, bis es die eigenen Futtertröge nicht mehr gefährden kann. Wir müssen überkommende Institutionen zerschlagen oder zu Tode privatisieren. Oder durch Public Incubators aus dem öffentlichen Dienst drängen, indem wir sie evolutionär verdrängen.

    Wenn wir uns nur um Begriffe streiten, dann können wir uns gleich selber ein Loch buddeln und uns dort rein legen.