Jahresrückblick 2013
Von Armutsmigration zur neuen Bundesregierung
NSU-Prozess, Flüchtlingsunglück vor Lampedusa, „Armutszuwanderung“ oder die erste Staatsministerin mit türkischen Wurzeln – das sind nur einige der Themen, die 2013 eine migrations- und integrationsrelevante Dimension hatten.
Von Hakan Demir Montag, 23.12.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 14.01.2014, 2:08 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Wieder einmal steht Deutschland am Ende eines ereignisreichen Jahres – vor allem, wenn man die Migrations- und Integrationspolitik betrachtet.
Keine Belege für Armutszuwanderung
Am Anfang des Jahres stand die Diskussion der Armutsmigration im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Der Städtetag hatte im Februar ein Positionspapier veröffentlicht, in dem er im Hinblick auf die Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland vor der Gefährdung des sozialen Friedens in den Städten sprach. Doch es gab keine Belege für die Armutszuwanderung aus diesen Ländern. Die Mär von Armutszuwanderung wurde immer deutlicher, als die Quote von Hartz-IV-Beziehern aus beiden Ländern, veröffentlicht wurde: Sie lag mit etwa 9 Prozent nur minimal über dem Durchschnitt der Einheimischen mit 7,4 Prozent. Darüber hinaus konnte mehrmals nachgewiesen werden, dass die überwiegende Mehrheit der rumänischen und bulgarischen Einwanderer in Deutschland einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgeht und damit das deutsche Sozialsystem im erheblichen Maße stützt.
NSU-Prozess: Alle Behörden ziehen an einem Strang?
Anderthalb Jahre nach der Verhaftung von Beate Zschäpe begann im April beziehungsweise im Mai der Prozess gegen sie vor dem Oberlandesgericht München (OLG). Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) wird beschuldigt über 13 Jahre hinweg neun türkisch- und griechischstämmige Kleinunternehmer sowie eine Polizistin getötet zu haben. Zusammen mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt soll Zschäpe die Terror-Organisation gegründet haben. Ihr wird die Mittäterschaft bei zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 Raubüberfällen vorgeworfen. Vor dem Gericht müssen sich zudem vier weitere mutmaßliche Unterstützer verantworten. Der Prozess war bereits am Anfang in die Kritik geraten, weil es zu Ungereimtheiten im Akkreditierungsprozess der Presse kam. Deshalb musste das OLG München den NSU Prozess verschieben.
Der NSU- Untersuchungsausschuss verkündete unterdessen in seinem Abschlussbericht im August, dass das System der inneren Sicherheit total versagt habe . Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) sprach vor diesem Hintergrund von einem „historisch beispiellosen Behördenversagen“ des hochgerüsteten Sicherheitsapparates. Mittlerweile gehen einige Experten davon aus, dass alle Behörden an einem Strang zogen und ziehen, um Spuren zu verwischen.
Gezi-Proteste in der Türkei
Die Gezi-Proteste in der Türkei haben auch die Medien hierzulande bewegt. Über mehrere Wochen berichteten sie über die Polizeigewalt in der Türkei und den Protest der zumeist jungen Türken in nahezu allen Provinzen des Landes. Der Leitgedanke der gesamten Berichterstattung hierzulande konnte in dem Satz zusammengefasst werden: Die Proteste sind gut für die Türkei [https://www.migazin.de/2013/06/21/wieso-proteste-tuerkei-vergleiche/]. Das wurde von einigen Türkeistämmigen in Deutschland kritisiert – vor allem, dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan von den hiesigen Leitmedien „gebasht“ worden sei.
Die Fakten sprechen allerdings für sich: Sieben Tote, 10 Opfer, die das Augenlischt verloren, und über 7.000 Verletzte.
Flüchtlingsunglück vor Lampedusa
„Für viele Flüchtlinge endet der Traum von Europa tödlich und noch bevor sie ihren Fuß auf europäischen Fuß Boden setzen können“, schrieb Thomas Kunz. Dabei kritisierte er auch die Trauerbekundungen zu Lampedusa und wies sie als Doppelmoral ab. Denn gerade die Verschärfung des Asyl- und Abschottungsrechts führe zu den zahlreichen Toten im Mittelmeer. Die Trauerbekundungen würden keinen Sinneswandel dokumentieren, „sondern verweisen auf die Doppelmoral ebenjener Politik und die Widersprüche eines europäischen Selbstbildes, das sich gerne Menschenrechte und humanistische Werte auf die Fahne schreibt“, erklärte Kunz.
Eine weitere Tragik erhält das Unglück durch Berichte, wonach die schiffsbrüchigen Flüchtlinge alle hätten gerettet werden können. So hatte ein Handelsschiff das Unglücksboot auf dem Radar und ein italienisches Kriegsschiff befand sich ebenfalls in der Nähe. Doch niemand unternahm etwas. Am Ende ertranken mehr als 250 Menschen.
Koalitionsvertrag: Zwischen kleinen Reformen und großem Stillstand
Mit dem Titel „Faule und rote Kompromisse und das alte Elend“ versah Ekrem Şenol, Chefredakteur des MiGAZIN, seinen Kommentar zum Koalitionsvertrag vom 27. November. Dabei kritisierte er, dass die SPD nicht alle Versprechen im Koalitionsvertrag eingelöst habe. So seien die Fragen nach dem kommunalen Wahlrecht, der umstrittenen Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug und die generelle Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft offen geblieben und nicht im Koalitionsvertrag untergekommen.
Die SPD konnte sich jedoch mit der Union auf den Wegfall der Optionspflicht einigen und der Vertrag sieht weitere Verbesserungen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik vor, wie beispielsweise die stichtagsunabhängige Regelung, die in das Aufenthaltsgesetz für die rund 85.000 Geduldeten in Deutschland eingeführt werden soll oder die Senkung des Arbeitsverbots für Asylbewerber von neun auf drei Monate. Der Koalitionsvertrag bewegt sich also zwischen kleinen Reformen und großem Stillstand.
Zusammensetzung der neuen Bundesregierung: Zwei gute Nachrichten
Es gibt zwei gute Nachrichten: SPD-Vizechefin Aydan Özoğuz wird neue Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration. Damit ist sie die erste Türkeistämmige in der Geschichte der Bundesrepublik, die am Kabinettstisch Platz nehmen wird. Die zweite gute Nachricht ist: Der bisherige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich wechselt in das Landwirtschaftsministerium. Er wird gleich mehrfach in Erinnerung bleiben. Dass der „Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends belegen lässt“, hatte er etwa im März 2011 kurz nach seiner Amtseinführung gesagt und damit den Grundstein für das Scheitern der Islamkonferenz unter seiner Leitung gelegt. Sein Nachfolger ist Thomas de Maizière (CDU) und bleibt noch in Erinnerung mit seinem Vorstoß, dass es in Deutschland 10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer gebe. Kurzum: Das, was auf der politischen Bühne passiert ist, kann folgendermaßen umrissen werden: „Weg ist der Armutsflüchtling, zurück der Integrationsverweigerer“. Aktuell Politik
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