Koalitionsvertrag

Integrationspolitik – Zwischen kleinen Reformen und großem Stillstand

Der Koalitionsvertrag mit dem Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“ ist nach einem letzten Verhandlungsmarathon von 17 Stunden am Mittwoch der Öffentlichkeit präsentiert worden. An Arbeitsstunden geizten die Verhandlungsführer von Union und SPD also nicht, aber vielleicht an den Reformen in der Integrations- und Migrationspolitik? Eine Analyse des Koalitionsvertrags.

Von Donnerstag, 28.11.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 01.12.2013, 22:35 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Im Grunde genommen hört sich der Koalitionsvertrag, der am Mittwoch von Union und SPD vorgelegt wurde, nicht schlecht an. So soll unter anderem die Optionspflicht wegfallen, die größtenteils Menschen mit türkischen Wurzeln betrifft.

Bislang sieht die Regelung seit einer Reform im Staatsangehörigkeitsrecht im Jahr 2000 vor, dass sich in Deutschland geborene Kinder von ausländischen Eltern bis zum 23. Lebensjahr zwischen dem deutschen Pass oder dem ihrer Eltern entscheiden müssen. Wenn nicht, drohen automatisch Deutsche zu Ausländern zu werden – das geschah im laufenden Jahr ganze 176 Mal. Zudem wären ab 2018 gar jedes Jahr 41.000 Deutsche optionspflichtig geworden.

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Optionspflicht fällt, Staatsangehörigkeitsgesetz bleibt
Im Wortlaut heißt es im Koalitionsvertrag zur Optionspflicht: „Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert. Im übrigen bleibt es beim geltenden Staatsangehörigkeitsrecht.“

Wenn die SPD-Basis ab dem 6. Dezember über den Koalitionsvertrag entscheidet, muss sie früher oder später über diesen versteckten Satz auf Seite 105 des Koalitionsvertrags stolpern. Nicht nur ganz pfiffigen Sozialdemokraten wird dann auffallen, dass der Kompromiss nicht mit der entsprechenden Forderung der SPD übereinstimmt. Diese hatte landauf und landabwärts die Abschaffung der Optionspflicht verlangt und im selben Atemzug auch die doppelte Staatsbürgerschaft gefordert. Nun hat sie die Hälfte ihrer Forderungen durchgesetzt. Denn der Wegfall der Optionspflicht ist mitnichten gleichbedeutend mit der generellen Hinnahme von Mehrstaatigkeit. Diese gilt weiterhin nicht für Migranten, die im Ausland geboren wurden – ausgenommen sind unter anderem EU-Bürger, Schweizer und Iraner. Im Prinzip wird es also in Deutschland weiterhin eine schleppende Ausschöpfung des Einbürgerungspotenzials von etwa zwei Prozent pro Jahr geben. Denn zum einen sind die Einbürgerungshürden zu hoch und zum anderen sind betroffene Gruppen nicht gewillt, ihren alten Pass aufzugeben.

Kein Wunder also, wenn die Opposition den Koalitionsvertrag kritisch sieht: „Beim Thema doppelte Staatsangehörigkeit ist die SPD wortbrüchig und lässt sich mit einem Wegfall der Optionspflicht abspeisen, deren Abschaffung aus verfassungsrechtlichen Gründen ohnehin eine Frage der Zeit war“, sagte Sevim Dağdelen, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion.

Zwar begrüßt der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) den errungenen Kompromiss. Doch die SVR-Vorsitzende Christine Lagenfeld zeigte sich auch enttäuscht, „dass sich die Große Koalition nicht auf ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht verständigen konnte, das den Anforderungen eines Einwanderungslandes entspricht (…)“. Dabei hatte der SVR selbst mitten in den Koalitionsverhandlungen für einen Generationenschnitt plädiert, der ebenfalls nicht gerade als modern gelten konnte. Danach sollte die doppelte Staatsbürgerschaft ab einer gewissen Generation nicht mehr weiter vererbt werden.

Asylpolitik: Einige Änderungen
Beim Flüchtlingsthema gibt es weitere Kompromisse unter anderem bei der stichtagsunabhängigen Regelung, die in das Aufenthaltsgesetz für die rund 85.000 Geduldeten eingeführt werden soll. Das sind Flüchtlinge, deren Abschiebung lediglich ausgesetzt ist, darunter lebt etwa die Hälfte seit über sechs Jahren in Deutschland. „Grundsätzlich setzt die Erteilung einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis die überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts voraus“. Dieser Zusatz im Koalitionsvertrag dämpft jedoch die Hoffnung auf Besserung: Denn welcher Geduldete kann schon von sich behaupten, er könne seinen Lebensunterhalt selbst sichern? Zumal Geduldete überwiegend, bis auf kleinere Ausnahmen, einem generellen Arbeitsverbot unterliegen.

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Laut Koalitionsvertrag soll außerdem die Dauer des Arbeitsverbots für Asylbewerber von neun Monaten auf drei Monate verringert werden. Fraglich bleibt jedoch, ob Asylbewerber tatsächlich von dieser Regelung profitieren. Denn ohne ausreichende Sprachkenntnisse werden sie auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben. Die Teilnahme an Integrationskursen für Asylbewerber ist seither aber nicht vorgesehen – auch der Koalitionsvertrag geht auf diese Problematik nicht wirklich ein. Hinzu kommt das Vorrangprinzip, das alle deutschen Arbeitnehmer, EU-Bürger und andere bevorrechtigte Ausländer bei der Arbeitsaufnahme begünstigt.

Erleichterungen soll es zum Teil auch für die räumliche Beschränkung – die sogenannte Residenzpflicht – für Asylbewerber und Geduldete geben. Danach sollen Asylbewerber sich grundsätzlich innerhalb ihres zuständigen Bundeslandes frei bewegen dürfen. Doch in den meisten Bundesländern gilt diese Regelung bereits. „Die Ausweitung der Residenzpflicht vom Kreis auf das Bundesland trifft gerade mal noch die Hardliner wie Bayern und Sachsen, in allen anderen Bundesländern war dies schon geltendes Recht“, erklärte Aziz Bozkurt dazu, stellvertretender Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt in der SPD.

Im Hinblick auf den steigenden Flüchtlingsstrom fordert der Koalitionsvertrag „mehr Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten“. Zur Erinnerung: Deutschland hat das Dublin-II-Abkommen durchgesetzt – eine Regelung, wonach die Randstaaten der Europäischen Union die größte Last von Flüchtlingsströmen tragen müssen. Das spiegelt sich zudem auch in der Zahl von aufgenommenen Flüchtlingen wider. Während Deutschland in absoluten Zahlen die meisten Flüchtlinge aufnimmt, bleibt es im Vergleich zu seiner Bevölkerungsgruppe bei geringen 0,95 Flüchtlingen auf 1.000 Einwohner. Im Vergleich zu Deutschland liegen Schweden und Malta bei über 4 Flüchtlingen. Der Koalitionsvertrag sieht hier jedoch keinen Handlungsbedarf.

Auch das versprochene Kontingent von 5.000 syrischen Flüchtlingen, die sich die noch amtierende Bundesregierung auf die Fahnen geschrieben hat, bleibt unzureichend: Die Aufnahme syrischer Flüchtlinge geht kaum voran – nicht einmal 1.000 Flüchtlinge wurden bislang in Deutschland aufgenommen.

Kein Aufbruch
Der Koalitionsvertrag ist der kleinste gemeinsame Nenner und trägt, anders als vorgehabt, nicht eindeutig die Handschrift der SPD. Ein klares Nein scheint daher beim Mitgliedervotum der SPD-Basis denkbar. Überzeugungsarbeit tut daher dringend not, wollten Sigmar Gabriel und Co. ihre Vorstandssitze nicht verlieren. Es hängt nun von der SPD-Basis ab, was in den nächsten vier Jahren in Deutschland und in ihrer eigenen Partei geschehen soll. Aktuell Meinung Politik

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  1. Werner Müller sagt:

    Mittlere Deutschkenntnisse und ein wenig die Grundbegriffe der Logik anwenden reichen: Im Koalitionsvertrag steht wörtlich „Die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert“. Die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit wird also nicht ausgeschlossen. Entspricht das nicht der ursprünglichen SPD-Forderung? Man kläre mich auf.

  2. Cengiz K sagt:

    Der helle Wahnsinn heißt GroKo.. Die Verhandlungszeit steht in keinem Verhältnis zum resultierenden Vertrag.. Wann kommen die Diätenerhöhungen wieder?

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