EM

Welchen Patriotismus brauchen wir?

Den Migranten wird per se ein ernst gemeinter Patriotismus abgesprochen. Antifa, Grüne Jugend und Migranten würden nicht an die Fahne glauben, sondern an "etwas, zu dem man sich kurzfristig mit dem Kauf eines T-Shirts bekennt und eben nicht via Geburt oder Pass erwirbt", schreibt gestern "Die Welt" in ihrer Onlineausgabe.

Von Montag, 18.06.2012, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 08.09.2012, 16:05 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

„Man soll das Vaterland nicht mehr lieben als einen Menschen“, schreibt der schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Besonders jetzt zur EM sieht man die Innenstädte, Autos und Menschen in eine schwarz-rot-gelbe Pracht gehüllt. Alles eigentlich kein Problem. Denn der Patriotismus ist das Gegengift zum Nationalismus. Während nach Ernest Gellner der Nationalismus „auf der Annahme beruht, dass soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängt“, sieht dagegen der Patriotismus oder die Vaterlandsliebe das Gemeinwohl und nicht das Gruppeninteresse im Vordergrund eines gesellschaftlichen Handelns.

Ausschließungspraktik
Die Tageszeitung „Die Welt“ hat gestern in ihrer Onlineausgabe einen Artikel mit dem Titel „Antideutsche erklären dem Patriotismus den Krieg“ veröffentlicht. Darin sieht der Autor es vor allem als problematisch an, dass sich Migranten nur scheinbar patriotisch zeigen, indem sie Deutschlandtrikots anziehen und Fahnen auf die Wangen malen würden. Dies bezeichnet der Autor als „Integration per Farbstrich“. Er erwartet indes ein tieferes Bekenntnis zur Geschichte und Tradition des eigenen Landes, er will daher, dass man in den „Kern der Nation“ vordringt oder zu ihrem „Wesen“.

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Damit vertritt der Autor jedoch, wissentlich oder unwissentlich, eine Ausschließungspraktik. Denn der Kern oder das Wesen einer Nation wird immerzu kulturalistisch definiert. Doch was sollte ein eng kulturalistisch geprägtes Verständnis von einer Nation anderes bewirken, als Menschen auszuschließen? Hier gilt: Das schnellste Tier, das zum Ausschluss führt, bleibt der Rassismus, der gleichsam ein Bruder des kulturalistisch verstandenen Patriotismus ist.

Vor diesem Hintergrund ist auch seine Argumentation zu verstehen, wenn er der Antifa, Grünen Jungend und den Migranten vorwirft, nicht an die Fahne zu glauben, sondern nur an „etwas, zu dem man sich kurzfristig mit dem Kauf eines T-Shirts bekennt und eben nicht via Geburt oder Pass erwirbt“. Er nennt es den „warenhaften Charakter der Nationalmaskerade“, den auch junge Migranten für sich nutzen würden.

Verfassungspatriotismus als besserer Weg
Die Frage nach dem Wesen und dem Kern der Nation, die der Autor aufstellt, ist zugleich jedoch eine höchst gefährliche Herangehensweise, wie übrigens bereits die Geschichte gezeigt hat. Vielmehr tut es daher Not, eine nicht-kulturalistische Form des Patriotismus zu vertreten, die pragmatisch das friedliche Zusammenleben und das Wohl der gesamten Gemeinschaft zum Ziel hat. Und das ist einzig durch einen Verfassungspatriotismus zu gewährleisten. Aus diesem Blickwinkel wäre es dann auch leichter und voruteilsfreier zu verstehen, dass auch ein Migrant Fahnenstriche auf sein Gesicht malt, Fahnen am Auto befestigt oder Deutschlandtrikots trägt.

Den Verfassungspatriotismus skizziert indes der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger am eindrucksvollsten, wenn er schreibt: „Wenn mich die Geburt oder meine freie Erziehung mit einem Staat vereinigen, dessen heilsamen Gesetzen ich mich unterwerfe, Gesetzen, die nicht mehr von meiner Freiheit entziehen, als zum Besten des ganzen Staates nötig ist, alsdann nenne ich diesen Staat mein Vaterland.“

Ich für meinen Teil kann dieses Land mit ruhigem Gewissen als mein Vaterland bezeichnen. Eine Liebe zum Vaterland folgt daraus jedoch noch nicht, sondern ein klares Bekenntnis zu den Grundlagen der Gesellschaft und den Grund- und Menschenrechten. Denn meine ganze Liebe gehört bereits einer besonderen Tochter dieses Landes. Und das ist auch gut so. Aktuell Meinung

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  1. Zara sagt:

    @aloo:

    Das ist richtig. Ich berufe mich allerdings auf Aussagen von den Nationalspielern selbst, die aus Respekt ihrer Wurzeln (bei Khedira/Boateng ist das der Vater) die Nationalhymnen nicht mitsingen. So sollte das verstanden werden.
    —-
    Haben Sie nen Link?

    Das einzige, was ich gefunden habe war dieses hier:

    „SZ: Zuletzt ist wieder die etwas gefährliche Debatte aufgekommen, warum so viele der aktuellen deutschen Nationalspieler – unter anderem Sie – die Nationalhymne nicht mitsingen.

    Khedira: Meine Meinung ist, dass Singen nichts damit zu tun hat, ob ich mich mit einem Land identifiziere. Bei mir kann sich jeder hundertprozentig darauf verlassen, dass ich mich wie ein Deutscher fühle. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, für mich kam nie eine andere Nationalmannschaft in Frage. Ich bin der Meinung, dass ich nicht mit Singen irgendetwas vorspielen oder künstlich demonstrieren muss.“

    http://www.sueddeutsche.de/sport/wm-sami-khedira-im-interview-suedlaendische-leichtigkeit-1.959849-3

  2. Optimist sagt:

    Ich kann mich noch gut an die WM 2006 erinnern und ich weiß noch, daß damals das Straßensbild übersät war mit Autos mit Deutschland und Türkei Fähnchen. Ich hab mal in letzter Zeit drauf geachtet und habe kein einziges Auto mehr mit D&TR-Fähnchen gesehen.

  3. aloo masala sagt:

    @Zara

    Liest man das Interview in der SZ etwas weiter so findet man Khediras Begründung, weshalb er nicht die Nationalhymne singt:

    SZ: Wird in der Mannschaft denn über dieses Thema gesprochen? Sagen die Nicht-Sänger: Kommt, lasst uns singen, bevor die Debatte weitergeht?

    Khedira: Wir reden manchmal drüber, aber ein großes Thema ist das nicht. Dass ich nicht singe, liegt ja auch daran, dass ich Respekt vor meinem zweiten Heimatland habe und vor dem Teil meiner Familie, der dort noch lebt.

    Eine von Özils Begründungen findet man u.a. in der Welt Online:
    http://www.welt.de/sport/fussball/article4486725/Mesut-Oezil-auf-dem-Weg-zum-deutschen-Zidane.html

    Bei Boateng kann ich keine Quelle finden. Ich gehe davon aus, dass ich hier einen Fehler gemacht habe. Er muss also von der Liste der Spieler genommen werden, die aus Rücksicht der eigenen Wurzeln nicht die Hymne singen.

  4. aloo masala sagt:

    @Zara

    Khediras Begründung findet sich in der SZ einen Absatz weiter:

    SZ: Wird in der Mannschaft denn über dieses Thema gesprochen? Sagen die Nicht-Sänger: Kommt, lasst uns singen, bevor die Debatte weitergeht?

    Khedira: Wir reden manchmal drüber, aber ein großes Thema ist das nicht. Dass ich nicht singe, liegt ja auch daran, dass ich Respekt vor meinem zweiten Heimatland habe und vor dem Teil meiner Familie, der dort noch lebt. […]

    Özils Begründung
    http://www.welt.de/debatte/kommentare/article6075292/Mesut-Oezil-der-mit-dem-Ball-tanzt.html

    Bei Boateng finde ich keine Quelle. Ich gehe davon aus, das ich einen Fehler gemacht habe. Er muss also aus der Liste raus.

  5. aloo masala sagt:

    Paradox ist, dass man beim Singen der Nationalhymne sich nicht nur zur Einigkeit sondern auch zu Recht und Freiheit bekennt aber Mitbürgern das Recht und die Freiheit verweigert, die Hymne nicht mitsingen zu wollen.

    Schlimmer noch als der kognitive Widerspruch mit der einige deutsche Chorknaben durch die Welt laufen, wiegen deren Anschuldigungen gegen den nicht singenden Migrantenstadl. Die gängige Behauptung folgt dem simplen schwarz-weiß Muster des ehemaligen US-Präsidenten Bush „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Oder anders formuliert: „Wer nicht unsere Hymne ist, der ist nicht für uns.“

    Diese Behauptung sagt uns wenig etwas über Özil oder Khedira aus aber eine ganze Menge über den Blick derjenigen, die einen symbolischen Kniefall der Migranten vor Deutschland sehen wollen. Wenn Özil, Khedira oder Boateng sich in Interviews ausdrücklich ihre Loyalität zu Deutschland versichern und auch in Spielen für Deutschland ihr Bestes geben, dann ist ihnen das zunächst zu glauben. Das ist die Voraussetzung für jede Form des Dialogs. Wenn diese Voraussetzung nicht mehr gegeben ist und die Deutungshoheit einer Äußerung alleine beim Empfänger liegt, dann wird der Sender der Botschaft schlicht mundtot gemacht und damit entmündigt.

    Deswegen sollten die ersten Zeilen der Hymne für gewisse deutsche Chorknabent daher besser lauten:

    Assimilation, Zwang und Entmündigung
    für das deutsche Vaterland

  6. Pragmatikerin sagt:

    „Ich kann mich noch gut an die WM 2006 erinnern und ich weiß noch, daß damals das Straßensbild übersät war mit Autos mit Deutschland und Türkei Fähnchen. Ich hab mal in letzter Zeit drauf geachtet und habe kein einziges Auto mehr mit D&TR-Fähnchen gesehen.“

    In Frankfurt sind an fast allen Autos mindestens 1 Fähnchen und meistens noch 2 spiegelschoner in schwarz/rot/gold. Türkische Fähnchen sind berechtigter Weise nicht an autos angebracht, denn die Türkei spielt ja in der EM 2012 keine Rolle.

    Pragmatikerin

  7. AI sagt:

    Gute Migranten: Tore schiessen, gut benehmen, etc.
    schlechte Migranten: eine eigene Identität besitzen

    Als Verfassungspatriot kümmer ich mich eher um meine Rolle als drittgrösster Waffenlieferant, als darum ob ein Teammitglied der Nationalmannschaft die Hymne mitsingt oder nicht.

    „Der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. Da sahen wir nun das idealische Flegeltum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister Lessing, Herder Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.“ (Heine)

  8. Pragmatikerin sagt:

    @ Zara

    sie schrieben u.a.
    „Ihr Nationalverständnis scheint vollkommen oberflächlich zu sein, wenn sie es von singen oder nicht singen der Nationalhymne anhängig machen.“

    Mach ich nicht, und wenn Sie es noch so oft betonen.
    1974 herrschten andere Bedingungen bei der Deutschen Nationalmannschaft. Alle Spieler waren Deutsche und haben unsere Nationalhymne sicher sehr oft gesungen; sie haben ja nicht nur 1974 Fussball – und dort sicher auch mehrmals – gespielt. Es ist in diesem Falle mehr als verzeihlich, dass bei der von Ihnen genannten Aufnahme mal nicht mitgesungen wurde.

    Heute aber, erwarte ich, dass in der Nationalmannschaft die Nationalhymne gesungen wird bei besonderen Spielen. Eine EM oder WM ist so eine Gelgenheit, und wenn Sie meinen ich wäre mit meiner Ansicht polemsich – gut dann bin ich es. Was anderes ist es, wenn ein Spieler wegen dem Text der Hymne nicht mitsingen kann/will (Vaterland) dann hat er aber auch in der Nationalmannschaft – meiner Meinung nach – nichts verloren.

    Pragmatikerin

  9. Pragmatikerin sagt:

    Nachtrag:

    Vaterland / Mutterland
    Vaterland bezeichnet das Land, aus dem man stammt, zu dessen Volk, Nation man gehört, dem man sich zugehörig fühlt (Land als Heimat eines Volkes) Vaterland existiert im Deutschen schon sehr lang: die althochdeutsche Form faterlant (750–1050) belegt dies

    Mutterland hingegen steht für ein Land, in dem etwas heimisch ist, seinen Ursprung hat und eine weite Verbreitung gefunden hat: z.B. England, das M. des Parlamentarismus.

    Als Mutterland wird das auch das Land bezeichnet, zu dem eine Abhängigkeit oder Zugehörigkeit eines Gebiets bei räumlicher Trennung besteht

    Mutterland und Vaterland sind also als Analogiebildungen zu sehen, syntaktisch also vergleichbar, semantisch aber gehen sie sehr weit auseinander

    Streng genommen können also alle Fussballspieler der Deutschen Nationalmannschaft, die hier geboren sind aber deren Familienangehörige aus einem anderen Land eingewandert/zugewandert sind, Deutschland als Vaterland betrachten, also auch die Nationalhymne singen!

    Pragmatikerin

  10. Zara sagt:

    Ich kann mich noch gut an die WM 2006 erinnern und ich weiß noch, daß damals das Straßensbild übersät war mit Autos mit Deutschland und Türkei Fähnchen. Ich hab mal in letzter Zeit drauf geachtet und habe kein einziges Auto mehr mit D&TR-Fähnchen gesehen
    —–
    Bei der WM hat die Türkei auch mitgespielt, bei der EM spielen sie nicht mit..aber gut beobachtet.

    Die schönsten (National)Hymnen finde ich übrigens diese beiden hier:

    http://www.youtube.com/watch?v=Fba8PTx0fVE

    http://www.youtube.com/watch?v=2WNHUMsYRaQ&feature=fvwrel