Historie
Der Islam als Geburtshelfer Europas
In Wissenschaft und Publizistik wird heute viel darüber gestritten, wo die Anfänge Europas zu suchen sind. Viele finden sie in der Antike und andere aber erst im Mittelalter. Für diese Auffassung spricht die Verlagerung des historischen Kraftfeldes vom Saum des Mittelmeeres nach Norden, zu welcher der Islam entscheidend beigetragen hat.
Von Michael Borgolte Freitag, 17.06.2011, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 22.06.2011, 1:49 Uhr Lesedauer: 17 Minuten |
Sieben Kriegsgefangene waren die ersten Muslime in Deutschland. Der König von Asturien hatte sie bei seinem Überfall auf Lissabon erbeutet und im Jahr 798 zusammen mit ihren Rüstungen und Maultieren als Freundschaftsgabe an Karl den Großen nach Aachen geschickt. Mit ihnen begann noch keine Geschichte des Islams in Deutschland, da sich die Spur der Zwangsmigranten gleich wieder verloren hat. Sonst hielten sich Muslime, wenn sie als Gesandte oder politische Unterhändler an die Höfe der Karolinger kamen, als Reisende nur kurz an Orten wie Paderborn auf.
Größeren Eindruck als sie selbst machte der Elefant, den Harun ar-Raschid im Jahr 802 zu Karl dem Großen bringen ließ. Der Kalif von Bagdad hatte das exotische Tier nach dem Onkel des Propheten und Begründer seiner eigenen Dynastie Abu Abass genannt. Kaum ein Franke wird diese Zusammenhänge begriffen haben, aber der Repräsentant einer fremden und fernen Kultur konnte das Ansehen und den Schrecken des Kaisers erheblich steigern. Karl nahm jedenfalls den Elefanten auf seinen Kriegszügen mit. Aber bevor sein Heer im Jahr 810 auf die Dänen stieß, verendete Abu Abass an der Lippe.
Nur eine große Gruppe von muslimischen Zuwanderern hätte den Franken und später den Deutschen die Lösung des Integrationsproblems abverlangt. Doch dazu ist es im Mittelalter nie gekommen. Der kulturellen oder gar ethnischen Verflechtung stand schon entgegen, dass Berbern, Arabern oder auch Syrern ein Leben unter den klimatischen Verhältnissen im Norden der Pyrenäen und der Alpen kaum anziehend erschien. Noch wichtiger waren religiöse Vorbehalte gegen eine Migration. Erfahrungen, die der Prophet Mohammed selbst und seine ersten Anhänger gemacht hatten, begründeten das Verbot für Muslime, unter Herrschern einer anderen Religion zu leben. Wo sie auf Reisen christliche Länder passieren mussten, sollten sie diese rasch wieder verlassen, um der Gefahr des Glaubensabfalls auszuweichen. Schwer zu lösen, war die Frage, wie sich Muslime verhalten sollten, die von fremden Mächten unterworfen worden waren. Darüber stritten die Rechtsgelehrten, wenngleich es immer empfehlenswert war, den Ländern der Ungläubigen den Rücken zu kehren.
Expansion in Richtung Europa
Schon unmittelbar nach Mohammeds Tod im Jahr 632 waren seine Stellvertreter, die Kalifen, von der Arabischen Halbinsel aus nach Osten und in den Raum des Mittelmeeres vorgestoßen. Ihre Kämpfer eroberten Damaskus, Jerusalem, Antiochien und Ägypten, verfehlten jedoch die ersehnte Einnahme Konstantinopels, der Kaiserstadt am Bosporus, in den Jahren 674/678 zum ersten Mal. Andere muslimische Heerführer setzten bei Gibraltar nach Europa über (im Jahr 711) und gewannen das christliche Reich der Westgoten fast ganz bis zu den Pyrenäen.
Als der byzantinische Kaiser mit bulgarischer Hilfe in einer zweiten, entscheidenden Abwehrschlacht vor Konstantinopel siegte (717/718), hatte sich auch im Westen, in Asturien, eine winzige politische Herrschaft ausgebildet, die den Christen erlaubte, zur Rückeroberung ihrer Heimat von den fremdgläubigen Invasoren anzusetzen (716). Die Reconquista sollte aber noch jahrhundertelang dauern und erst im Jahr 1492 zu ihrem Abschluss gelangen. Im Mittelalter blieben die Muslime schon deshalb stets ein Teil Europas, ohne freilich ins Herz des Kontinents vorzustoßen. Man darf indes bezweifeln, dass sie dies jemals ernsthaft beabsichtigt und davon geträumt hatten, die grüne Fahne des Propheten am Rhein flattern zu sehen. Auch der zum Mythos gewordene Sieg des Franken Karl Martell bei Tours und Poitiers im Jahr 732 über die Sarazenen (muslimische Stämme im Mittelmeerraum) war in diesem Sinne keine Entscheidungsschlacht gewesen. Umgekehrt hatte es selbst ein Herrscher wie Karl der Große nicht vermocht, gegen die Muslime auf der Iberischen Halbinsel bedeutende Landgewinne zu erzielen.
Erhebliche Zeit nach Spanien war auch Sizilien unter die Herrschaft des Islams geraten. Von Nordafrika aus eroberte eine arabische Dynastie bis 902 die ganze Insel. Die Muslime griffen sogar Rom an, plünderten den Vatikan und zerstörten St. Paul vor den Mauern. Papst Leo IV. (847-855) musste sich zum Schutz der Stadt als Kriegsherr betätigen. Er segnete eine Flotte, welche die Angreifer tatsächlich zerstreute, und ließ die „Leostadt“ mit dem Petrusgrab durch eine Festung schützen. In Resten steht die „leoninische Mauer“ noch heute. Besonders den Anstrengungen mehrerer Könige aus dem Stamm des großen Karl ist es zuzuschreiben, dass die Sarazenen nicht ganz Unteritalien einnahmen.
Etwas anders als im Westen und Süden Europas war es im Osten. An der Wolga nahmen die Bulgaren den Islam an (921/922) und bildeten ein Reich, das wegen seiner handelspolitischen Lage von Bedeutung war. Seine Ausstrahlung in die Nachbarschaft langte aber nicht aus zur Konversion der dort lebenden „heidnischen“ Rus, die sich stattdessen für das Christentum orthodoxer Prägung entschieden haben.
Im hohen Mittelalter schien der Islam allenthalben zurückzuweichen. Aus Sizilien verdrängten die Normannen und endgültig der Stauferkaiser Friedrich II. die Sarazenen. In Spanien wurden die Muslime nach 1212 auf das Sultanat Granada eingeschränkt, und Städte und Reich der Wolgabulgaren unterwarfen die Mongolen 1236/1237.
Gegenbewegungen aus Asien kehrten den Trend aber um. Nach der Eroberung Jerusalems 1244 durch muslimische Mächte brachte der Sultan der Mamluken aus Ägypten den Mongolen an der „Goliathsquelle“ (zwischen Jerusalem und Nablus) eine entscheidende Niederlage bei; der Khan der „Goldenen Horde“, dem der größte Teil der Rus folgte, konvertierte bald darauf ebenso zum Islam (1257/66) wie das Ilchanat, die andere mongolische Herrschaft in Vorderasien (1295/1304). Der Einflussbereich der Muslime wurde bis über den Dnjepr hinaus vorgeschoben.
Noch einschneidender waren freilich Ausgriffe und Eroberungen der türkischen Osmanen in Byzanz und auf dem Balkan seit 1354 bis zum Fall der Hauptstadt Konstantinopel selbst (1453). Am Ende des Mittelalters liefen christlich-muslimische Siedlungsgrenzen immer noch durch Europa, wenn auch an anderen Orten als zuvor. Aktuell Meinung
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Ein interessanter kulturhistorischer Überblick, der deutlich macht, dass die Antwort auf die Leitfrage, wann beginnt „Europa“? davon abhängig ist, was man unter „Europa“ verstehen will: einen geografischen Raum, einen landwirtschaftlich-technisch geprägten Kulturraum oder ein religiös-weltanschaulich geprägtes Wertesystem.
Wenn heute von Europa und europäischer Tradition die Rede ist, wird an die letzte dieser Definitionen gedacht. Und hier besinnt man sich erst seit der Auseinandersetzung mit Sarazin, dass unser Wertekanon auch von jüdischen Denkvoraussetzungen geprägt ist, wobei sowohl Jüdisches als auch Christliches nur durch die humanistische Renaissance und die philosophische Aufklärung gefiltert in Geltung stehen.
Man sollte den Artikel besser auf den heutigen Nahen Osten und die Türkei beziehen. Es ist zwar richtig das die Entzweiung der Historie geschuldet ist nur jetzt wäre es an der Zeit das die oben genannten Länder endlich einen brauchbaren Beitrag zur Menschheit leisten und nicht in dumpfem Nationalismus bzw. im waffenähnlichen Gebrauch ihrer eigenen Religion verharren. Vielleicht kann man ja in Zukunft postiveres aus dieser Gegend erwarten. Wenn nicht wird es eben wieder heissen:
Djelaleddin Rumi, persischer Dichterphilosoph, 1207-1273: „Die Erbauung der Welt Ist ein Merkmal der Griechen, die Vernichtung der gleichen Welt ist den Türken vorbehalten.“
Bin mal gespannt. Wenigstens haben Sie von dieser bescheuerten Gazaflotte Abstand genommen.
Das Vordringen des Islam bzw. seine Zurückschlagung hat für die Entstehung des Abendlandes aus den Völkerwanderungsreichen am Rande der christlichen Welt wohl eine ähnliche Bedeutung wie der trojanische Krieg (frühantiker „Kreuzzug“ ?) für die Entstehung der griechisch-römischen Kultur.
Grotesk ist es aber zu behaupten, die westlich-christlichen Staaten hätten die Türken „vom Kontinent“ ausgeschlossen. Die Osmanen hatten sich selbst unter dem Ziel der Unterwerfung der Ungläubigen „eingeladen“. Invasorische Aggression zurückzuweisen ist also verwerflicher „Ausschluss“ ?
Ziemlich wirrer Kram. Dann der Aufstand gegen die Kreuzzüge oder die Kolonialmächte wohl auch ein „Ausschluss gewesen ?
Zweifellos hat die Auseinandersetzung mit dem Islam ihre Spuren in der Entwicklung des Kontinents Europa hinterlassen. Allerdings scheint es mir sehr euphemistisch zu sein, dabei von „Geburtshilfe“ zu sprechen – nicht zuletzt angesichts der Tatsache, daß jene Regionen Europas in welchen der „Geburtshelfer“ am längsten tätig war, nicht gerade zu den prosperierendsten Gegenden gehören.
Eine schöne Website, die mit zahlreichen Beispielen und auch gut bebildert zeigt, wie sehr Borgolte recht hat:
http://www.geschichteinchronologie.ch/islam/Hunke_arab-kultur-in-europa.htm
Ohne die Übernahmen aus der Kultur der islamischen Länder gäb es den heutigen Westen als dominante Kulturmacht wohl gar nicht. Europa hätte sich möglicherweise nicht aus seiner Mittelalterlichkeit heraus modernisiert.
Witzig, dass die, die immer pedantisch darauf bestehen, Islam und orientalische Kultur sauber zu trennen, jetzt „den Islam“ als Geburtshelfer für Kartenspiel, Kartenschach, Gewürze, Zimtsterne, Liedgut, Waffen, Burgenbautechnik, Papierherstellung usw. ausmachen—also die Religion. Dabei hat doch bei sonstigen Kulturbestandteilen und Gepflogenheiten von Migranten das alles immer gar nichts mir den Islam zu tun! Wenn der Islam uns das Kartenspiel gebracht hat, dann hat der Islam uns wohl auch die Kultur des Ehrenmords gebracht. Na ja, man kann natürlich auch richtig feststellen, dass unter „Kultur islamischer Länder“ alles das zusammenfällt, was in Gesellschaften entwickelt wurde, die auf Territorien lebten, die unter islamischer Oberherrschaft standen—da wird ein Schuh draus. Allerdings waren die schöpferisch Tätigen in solchen Gemeinwesen selten Muslime, schon gar keine Gebürtigen.
Und dass Europa sich ohne den Islam/die Muslime nicht aus der Mittelalterlichkeit heraus modernisiert hätte, ist eine Flunkerei der Linken, um die zivilisatorische Überlegenheit des Abendlands zu leugnen.
K. Kröger,
mit der zivilisatorischen Überlegenheit des Abendlandes war es bis ca. 1500 nicht weit her …
—
Die offene Verachtung der nahöstlichen Welt, ihrer Bevölkerung und Kultur zieht alles zusammen: Religion, Kultur, Ethien … Man kann gut sehen, wenn man das alles so zusammenzieht, dann war diese orientalische Welt einer der Geburtshelfer der westlichen Moderne. Der Islam speziell hat immerhin einen Rahmen geschaffen dafür – durch seine Toleranz. So konnten sich auch Nichtmuslime ökonomisch und kulturell entfalten – sehr zum Vorteil aller.
Dass die schöpferischen Leistungen im islamischen Raum nicht auch von gläubigen Muslimen gekommen wären – was soll man zu so einer Äußerung sagen? Eine Liste aufstellen mit den vielen prominenten Namen kreativer Muslime?
—
Die „Kultur des Ehrenmords“ kenne ich aus der alten germanischen Kultur auch, Herr Kröger, und ich kenne sie aus Süditalien. Wieso soll die was spezifisch islamisches haben? Genauso wie das Christentum, so hat sich auch der Islam gegen diese archaische Handlungsweise ausgesprochen.
—
Seltsam, dieses Bedürfnis, Leistungen anderer zu leugnen und schlecht zu machen. Statt sich an diesen Leistungen zu freuen.
Mein Vorschlag zur Güte wäre wir einigen uns darauf, daß der Islam mit beidem in Verbindung gebracht werden darf: Mit Kartenschach UND mit Ehrenmord!?
Der Freispruch für Geert Wilders sagt das auch in etwa so.
KTL,
darauf kann ich mich nicht einlassen, denn es ist eben nicht der Islam, dem wir den Ehrenmord verdanken. Der Ehrenmord war schon bei uns, BEVOR es den Islam gab. Beschäftigen Sie sich mal mit altgermanischer Kultur! Oder mit den Verhältnissen in Süditalien noch vor 100 Jahren. Im katholischen Spanien war’s wohl nicht anders.
Im Sinne Ihres Vorschlags könnte ich auch sagen: Einigen wir uns darauf: KTLs posts kann man mit beidem in Verbindung bringen, mit der Aufklärung und mit dem Holocaust.
In diesem Falle würde ich sowohl eine schwache Verbindung mit der Aufklärung durchaus sehen, als auch eine mit dem Holocaust, aber letzteres werden Sie natürlich ärgerlich bestreiten – aus verständlichen Gründen. Drum nehm ich meinen Vorschlag wieder zurück.
Und Sie hoffentlich den Ihren.
@ Leo Brux
Mag ja sein daß es hier zur Germanenzeit und in Italien vor 100 Jahren auch schon Ehrenmorde gegeben hat. Man hat das aber hierzulande mittlerweile geschafft abzustellen und das vor geraumer Zeit, wenn mir nichts entgangen ist.
In islamischen Kulturen ist der Ehrenmord ein sehr aktuelles Thema.
KTL,
da haben Sie recht, zumindest für einige der islamischen Länder.
Bei uns heute bringt man Frau oder Kinder oder Mann aus anderen Gründen um.
Die islamischen Länder, in denen es noch Ehrenmord gibt, werden sich dieser moderneren Motivation für innerfamiliäre Morde sicher bald anschließen.
KTL
Nur weil man in Deutschland „Ehrenmorde“ als „Familiendrama“ verkauft, heißt es nicht, dass es hier keine Probleme gibt. Mord aus Eifersucht oder anderen Gründen ist per se ein „Ehrenmord“, weil man sich in seinem Stolz oder seiner Ehre verletzt fühlt. Erweitern Sie lieber Ihren Horizont und reduzieren nicht kriminelle Taten auf den religiösen Hintergrund.
@ Kröger
„Wenn der Islam uns das Kartenspiel gebracht hat, dann hat der Islam uns wohl auch die Kultur des Ehrenmords gebracht. “
1. Der Islam kann keinen Ehrenmord gebracht haben, weil es den Ehrenmord schon lange Zeit davor gab. Zudem bin ich gespannt, mit welcher Qulle Sie Ihre haltlose Behauptung belegen möchten. Ich persönlich kenne keine einzige Koranstelle und keinen islamischen Gelehrten, der Ehrenmord als „islamisch“ einstufen würde.
2. Der Islam hat durch seine wissenschaftsfreundliche Einstellung zum Fortschritt beigetragen. Im Gegensatz dazu die wissenschaftsfeindliche Kirche, die viele Wissenschaftler und Gelehrte auf den Scheiterhaufen geschickt hat. Europa hat sowohl die geistige und auch die wissenschaftliche Entwicklung im Orient für sich nutzen und weiterentwickeln können, sodass man von einer „islamischen Renaissance“ sprechen könnte. Nur lässt es Ihre europäische Arroganz nicht zu, diese Tatsache anzuerkennen. Dagegen erkennt die heutige „islamische“ Welt die westliche Überlegenheit in Sachen Forschung und Technik an. Wir sollten schon immer objektiv bleiben Herr Kröger.