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Prof. Dr. Tarik Tabbara © Maurice Weiss/Ostkreuz, bearb. MiGAZIN

Integrativer Clou

Das Grundgesetz ist verhandelbar

Das Grundgesetz sichert nicht allen Menschen die gleichen Rechte. Es bietet aber die Chance auf Wandlung – in Aushandlungsprozessen in der postmigrantischen Gesellschaft.

Von Dienstag, 07.05.2024, 10:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 07.05.2024, 11:26 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Im Sommer 2022 sagte Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Festveranstaltung zwei bemerkenswerte Sätze: „Jeder Mensch – ob mit oder ohne Einwanderungsgeschichte – hat die gleichen Rechte. Ich finde: Das ist das fundamentale Versprechen unserer Demokratie.“ Faktisch ist diese Aussage offensichtlich falsch. Wer nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat – und das ist nach wie vor ein Großteil der Menschen mit Einwanderungsgeschichte –, darf nicht wählen, muss regelmäßig zur Ausländerbehörde und kann sich nicht auf die sogenannten Deutschengrundrechte berufen.

Auf einer grundsätzlicheren Ebene gewinnt Scholz Aussage aber an Wahrheit. Was in der Berufung auf das fundamentale demokratische Versprechen mitschwingt, ist nichts anderes als der freiheitlich-demokratische Verheißungsgehalt des Grundgesetzes. Als demokratische Verfassung beschränkt sich Grundgesetz nicht auf die Regelung staatsrechtlicher Verfahren, sondern enthält Aspirationen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Das fundamentale Versprechen der Demokratie des Grundgesetzes ist damit notwendig immer etwas seiner Zeit voraus.

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Das gilt gerade auch für Themen der postmigrantischen Gesellschaft, die die leidige Frage, ob Deutschland nun ein (klassisches) Einwanderungsland ist oder nicht, hinter sich gelassen haben und stattdessen die gleichberechtigte Partizipation in den Vordergrund rücken. Das Grundgesetz ist dabei bislang noch kaum Austragungsort für diese Fragen gewesen. Dabei taucht das Grundgesetz in nahezu jeder sogenannten Integrationsdebatte früher oder später auf. Allerdings meist in einer merkwürdigen Wendung, die ihr insbesondere der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gegeben hat, der ausgerechnet zur Eröffnung der Deutschen Islamkonferenz im Jahr 2006 sagte: „Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar.“

Auch dieser Satz ist offensichtlich falsch. Das Grundgesetz und seine Demokratie haben in den vergangenen 75 Jahren gerade davon gelebt, dass das Grundgesetz und der von ihm gesetzte Rahmen des Zusammenlebens verhandelbar ist, offen für demokratische Auseinandersetzung wie für demokratische Kompromiss- und Konsensfindung. Nicht nur der Text des Grundgesetzes wurde über 60-mal geändert, auch das Verständnis der Verfassung hat sich gewandelt und entwickelt. Ein Integrationskonzept nach dem Motto „solange Du Deine Füße unter meinen Tisch stellst“ bedient sicher manches Ressentiment.

„Das Diktum von der Unverhandelbarkeit des Grundgesetzes nimmt der Verfassung ihren integrativen Clou.“

Aber das Diktum von der Unverhandelbarkeit des Grundgesetzes nimmt der Verfassung ihren integrativen Clou, der eben in der Offenheit für demokratische Aushandlungsprozesse besteht. Dass das Grundgesetz hier eine wahre Erfolgsgeschichte zu bieten hat, zeigen Schritte zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen, gleichgeschlechtlichen Paaren und zuletzt die Anerkennung des „Dritten Geschlechts“. Alles Entwicklungen, die nur zum Teil auf Änderungen des Verfassungstextes beruhen, sondern angetrieben wurden durch gesellschaftliche Entwicklungen, die einen Niederschlag in einem veränderten Verständnis der einschlägigen Artikel des Grundgesetzes gefunden haben.

Bei der Migration hat das Grundgesetz sein integratives Potenzial bislang allerdings noch kaum ausgespielt. Im Gegenteil, der Ausweitung demokratischer Teilhabe hat das Bundesverfassungsgericht mit seinen beiden Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht in Hamburg und Schleswig-Holstein einen ziemlich schweren Riegel vorgeschoben. Obwohl oder gerade weil sich im Grundgesetz keine Bestimmung dafür findet, die das Wahlrecht an die deutsche Staatsangehörigkeit bindet, griff Karlsruhe ganz tief in die etatistische Mottenkiste und befand, dass Wahlen, bei denen Ausländer wahlberechtigt seien, keine demokratische Legitimation vermitteln könnten.

Im Rückblick ist es zwar wenig überraschend, dass sich die Entscheidungen im Jahr der Wiedervereinigung im Grunde mehr mit der nationalen Identität – wer ist das Volk? – beschäftigten als mit der Lebensrealität von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die absehbar dauerhaft deutschen Gesetzen unterworfen sind. Der Verweis des Gerichts auf eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts war schon damals unrealistisch und ist es heute mit fast 14 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, trotz der eben verabschiedeten nächsten Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, noch mehr. Eine realistische Möglichkeit, die inzwischen klaffende Repräsentationslücke auch nur näherungsweise zu schließen, bietet das bürokratisch schwerfällige Instrument der Einbürgerung jedenfalls nicht. Die für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aber eher ungewöhnliche Realitätsverweigerung wirkt bis heute nach.

Auch bei den Deutschengrundrechten, also den Grundrechten, die für Deutsche reserviert sind, zeigen sich Defizite bei der Gewährleistung der gleichberechtigten demokratischen Teilhabe. Das Bundesverfassungsgericht hat hier an einem zumindest symbolischen Abstandsgebot beim Grundrechtsschutz festgehalten. Bei den Diskussionen um Demonstrationen nach den Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober tauchte diese lange vor sich hinschlummernde Frage jetzt plötzlich mit einiger Brisanz auf, als Politikerinnen und Politiker der Ampelkoalition lautstark darauf hinwiesen, dass es sich bei der in Artikel 8 und 9 Grundgesetz garantierten Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit „aus Gründen“ um Deutschengrundrechte handele. Auch wenn das letztlich keine direkten Auswirkungen hatte, die repressive Botschaft haben die Betroffenen sicher vernommen.

„Auch beim Schutz vor rassistischer Diskriminierung bleibt das Grundgesetz noch unter seinen Möglichkeiten der Gewährleistung gleichberechtigter Teilhabe.“

Auch beim Schutz vor rassistischer Diskriminierung bleibt das Grundgesetz noch unter seinen Möglichkeiten der Gewährleistung gleichberechtigter Teilhabe. Das hat viel mit der verunglückten Formulierung in Artikel 3 Grundgesetz zu tun, die die Existenz menschlicher „Rassen“ nahelegt. Die Gerichte jedenfalls tun sich schwer mit dieser paradoxen Formulierung und haben die Gewährleistung bisher eher umspielt, als effektiven Schutz vor Rassismus zu gewährleisten. Erst im Jahr 2020 und auch nur in einer Kammerentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, worum es eigentlich gehen sollte: den Schutz vor „rassistischer Diskriminierung“.

Ob das allerdings schon genügt, um die problematische Formulierung so auf ihre antirassistischen Füße zu stellen, dass dies auch im letzten Winkel der Republik ankommt, ist sehr zweifelhaft. Die Diskussion um eine Ersetzung des Begriffs „Rasse“ ist daher absehbar noch nicht zu Ende. Zumal es auch an einer der Gleichberechtigung von Mann und Frau entsprechenden positiven Gewährleistung der gleichberechtigten Teilhabe im Grundgesetz fehlt, wie sie im Zuge der kleinen Verfassungsreform 1994 in Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz aufgenommen wurde.

Das Grundgesetz sichert heute nicht, dass alle Menschen, die in Deutschland dauerhaft leben, die gleichen Rechte haben. Es garantiert noch nicht einmal, dass das in Zukunft so sein wird. Das Grundgesetz bietet aber immerhin die Chance, das lehren seine letzten 75 Jahre, dass sich die Verfassung wandeln kann, um denen Gehör zu verschaffen, die heute noch von Teilhabe ausgeschlossen sind.

Info: „Der Text ist zuerst in einer leicht gekürzten Version in der Zeitschrift Behörden Spiegel, Mai 2024 erschienen.“

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