Nebenan
Die Ideen des Merz
Demokraten müssen jede Wahl gewinnen, Antidemokraten nur eine einzige – siehe Trump. Eine Tageszeitung reicht aus, um zu erkennen: Die US sind am A, und das könnte uns auch drohen.
Von Sven Bensmann Montag, 05.02.2024, 10:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 05.02.2024, 10:39 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Es bewegt sich etwas: während die Menschen weiter zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, um für ein demokratisches Deutschland zu demonstrieren, hat gerade der renommierte Komplexitätsforscher Dr. Peter Turchin im österreichischen Standard den USA attestiert, es gebe für den Zeitraum der anstehenden Wahlen eine Fifty-Fifty-Chance, dass es in den USA zu einem „gewaltsamen Bruch“ komme.
In Deutschland erodiert nach der Sozialdemokratie auch das konservative Lager, ja es erodiert nicht bloß, es kollabiert förmlich. Die Ideenlosigkeit der Union, die es auch in der Opposition nicht schafft, sich programmatisch zu erneuern, weil es ihr so eklatant an politischer Führung mangelt, führt die Union geradewegs auf AfD-Kurs, also: in die intellektuell vollständig entkernte Totalopposition und den gelegentlichen rassistischen Ausfall.
Die AfD rhetorisch und parlamentarisch zu imitieren, sie aber gleichzeitig isolieren zu wollen, erweist sich immer evidenter als Irrweg, der vor allem die Integrationskraft der Union im rechten Lager massiv schwächt. So verwundert es nicht, dass sich mit der Werteunion um den vom Verfassungsschutz beobachteten Hans-Georg Maaßen gerade eine neue Partei in der Gründung befindet, die sich als Brücke zwischen der demokratischen Union und der rechtsextremen AfD versteht.
„Die völlige Enthemmung des Kapitalismus … haben den Zusammenhalt der Arbeitnehmer und schließlich der gesamten Gesellschaft stark beschädigt.“
Dazu gab es letzte Woche eine kurze mediale Panik um eine möglicherweise nichtdeutsch-konservative Partei DAVA, die Freien Wähler um den Jugendsünden-Antisemiten Hubert „Hubsi Oiwohnga“ Aiwanger hegen neuerdings ebenfalls Ambitionen im Bund. Und dann steht da mit dem BSW sogar noch eine weitere neue grundkonservative Partei in den Startlöchern – vielleicht sagt es aber auch viel mehr über die moderne Bundesrepublik aus, dass das, was früher als latent völkischer „rheinischer Kapitalismus“ die dominante Strömung unter Kanzler Kohl darstellte – letztlich eine ideelle Fortentwicklung der „sozialen Marktwirtschaft“ und Gegenentwurf zum „demokratischen Sozialismus“ der damaligen SPD – heute nicht nur Friedrich Merz, sondern sogar der Gesamtgesellschaft als „links“ gilt.
Und die Gründe?
Wie die Erosion der Sozialdemokratie lässt sich auch diese Entwicklung auf die Krise der sozialen Marktwirtschaft nach dem Ende der systemischen Konkurrenz im Osten zurückführen. Die völlige Enthemmung des Kapitalismus, die Reallohnverluste, der Abbau von Arbeitnehmerrechten, die Einführung von Hartz IV zur Schaffung eines Niedriglohnsektors samt Arbeitszwang und „Lohnabstandsgebot“ nicht etwa durch anständige Löhne, sondern durch immer neue Erniedrigungen der Arbeiterschaft, haben den Zusammenhalt der Arbeitnehmer und schließlich der gesamten Gesellschaft stark beschädigt.
Die fehlende systemische Konkurrenz, die der libertären globalisierten Marktwirtschaft die Rücksichtnahme auf die Arbeiterschaft aufgezwungen hatte, da der ein oder andere Flaschensammler von heute sicher lieber auf Bananen und Luxusautos als auf ein Obdach verzichtet hätte, hat die Erzählung der Sozialdemokratie von einer besseren Zukunft für alle und die der Konservativen, dabei zumindest die alten Besitzstandsverhältnisse zu wahren, nachhaltig gestört. Es ist daher auch kein Zufall, dass sich ausgerechnet die ansonsten weitestgehend rückgratlosen Grünen mit ihrer Erzählung eines Umbaus der Wirtschaft zumindest hin zu mehr Nachhaltigkeit erfolgreich etabliert haben.
„Die neuen Parteien, die keine Berührungsängste zur AfD haben, könnten diese auch weit über die Merz-CDU hinaus normalisieren.“
Wie gefährlich diese aktuellste Entwicklung am Ende für die Union und die Gesellschaft sein wird, muss sich zwar noch zeigen. Bleiben die neuen Parteien am Ende unter 5 Prozent und entwickeln keine diskursive Kraft, dann bleibt ihre Wirkung überschaubar. Allerdings könnten neue Parteien, die keine Berührungsängste zur AfD haben, diese auch weit über die Merz-CDU hinaus normalisieren. Nehmen sie dieser so viele Prozente ab, dass sie in Panik verfällt, wird es düster.
Der Blick über den Ozean hinaus zeigt vor allem eines dabei ganz deutlich: Demokraten müssen jede Wahl gewinnen – Antidemokraten nur eine einzige. Eine einzige Trump-Amtszeit hat ausgereicht, um die USA so weit zu destabilisieren, dass schon eine zweite Kandidatur das Land ins Chaos zu stürzen droht. Wer immer noch glaubt, die AfD könne man durch Regierungsbeteiligung entzaubern, braucht also nicht erst den Geschichtsunterricht der Mittelstufe wiederholen, um zu erfahren, woran die Weimarer Republik scheiterte, eine Tageszeitung reicht aus, um zu erkennen: Die US sind am A, und das könnte uns auch drohen. Andere europäische Länder haben den Niedergang der konservativen Volksparteien ihrerseits bereits durchexerziert – und Menschen sind gestorben.
„Es will mir ganz einfach nicht in den Sinn, dass eine Mehrheit der Wähler oder Mitglieder dieser Union eine Verarmung der Massen zugunsten weniger Multimilliardäre wirklich gutheißen soll.“
Soll es in Deutschland besser laufen, braucht nicht zuletzt die Union wieder eine große Erzählung, die sich an mehr aufhängt, als den Leuten das Gendern zu verbieten, während sie gleichzeitig darüber jammert, dass es so viele Sprechverbote gebe. Merz war angetreten, die Union von Merkel in Richtung Kohl zu verschieben. Selbst ein wirtschaftspolitischer Analphabet wie Friedrich Merz muss irgendwann einsehen, dass Kohls CDU wirtschaftspolitisch deutlich links stand von Merkels CDU, dass ein Wert darin liegen kann, die Menschen als Schicksalsgemeinschaft (vielleicht sogar ganz modern mal nicht-völkisch verstanden) zu sehen, die nur gemeinsam erfolgreich sein können und nicht in ständigem Wettbewerb um schlecht bezahlte Arbeitsstellen stehend, sowie, dass die Sorge um die Ärmeren und Schwächeren eine der wenigen rehabilitierenden Eigenschaften jenes Christentums ist, auf dass sich die Union gelegentlich ja noch beruft.
Es will mir ganz einfach nicht in den Sinn, dass eine Mehrheit der Wähler oder Mitglieder dieser Union eine Verarmung der Massen zugunsten weniger Multimilliardäre wirklich gutheißen soll. Selbst in den ultra-wirtschaftsliberalen, turbokapitalistischen Parteien FDP und AfD dürfte die nicht existieren – allenfalls die Illusion, dass bei einer Kapitalkonzentration auf ein Dutzend Menschen in dieser Republik man selbst zu diesem dreckigen Dutzend gehören werde, wenn man nur jeden Tag eine Stunde länger im Büro bleibt und sich den Arsch für die Shareholder aufreißt. Meinung
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