Kläger im Gespräch
Die Überlebenden von Pylos und ihre Forderung nach Gerechtigkeit
Am 14. Juni ereignete sich eines der tödlichsten Schiffsunglücke im Mittelmeer. Die griechische Küstenwache soll maßgeblich dazu beigetragen haben. Mehrere Organisationen haben Klage erhoben. Eirini Gaitanou und Eleni Velivasaki berichten im Gespräch über den aktuellen Stand der Ermittlungen und die Situation der Überlebenden.
Von Judith Weger Montag, 05.02.2024, 13:35 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 05.02.2024, 13:35 Uhr Lesedauer: 12 Minuten |
Am 14. Juni 2023 ereignete sich vor der Küste von Pylos eines der tödlichsten Schiffsunglücke im Mittelmeer. Berichte von Überlebenden weisen darauf hin, dass die griechische Küstenwache maßgeblich zum Kentern des Schiffs beigetragen hat. Eirini Gaitanou und Eleni Velivasaki vom Refugee Support Aegean (RSA) haben nach dem Schiffsbruch Überlebende in ihrem Asylprozess vertreten und nun gemeinsam mit anderen Organisationen Klage gegen die griechische Küstenwache eingereicht. Im MiGAZIN-Gespräch erklären sie die Situation der Geretteten, der Hinterbliebenen, ihre Forderungen und Hoffnung sowie den Stand der Ermittlungen.
MiGAZIN: Werfen wir einen Blick auf den 14. Juni 2023 im Mittelmeer, was dort passiert ist und welche Rolle die griechische Küstenwache dabei spielte.
Eirini Gaitanou: Am 14. Juni fand ein tragisches Schiffsunglück statt, eines der tödlichsten, wahrscheinlich sogar das tödlichste, das wir bisher erlebt haben. Was wir wissen, ist, dass das Fischerboot Adriana etwa 750 Menschen an Bord hatte. Es kenterte am frühen Morgen des 14. Juni. Die Menschen auf dem Boot hatten Alarmphone benachrichtigt, eine NGO, die Anrufe entgegennimmt, wenn sich Menschen in Seenot befinden. Gleichzeitig wurde auch Frontex informiert. Wir wissen also, dass die Behörden etwa 15 Stunden vor dem Unglück benachrichtigt wurden. Anstatt sofort eine Rettungsoperation zu starten, baten sie jedoch nur nahegelegene Handelsschiffe, ihnen Vorräte zu liefern. Es wurde also keine Rettungsoperation von den Behörden initiiert, wie es in einem solchen Fall eigentlich vorhergesehen ist.
Die Ereignisse rund um dieses Unglück sind von Widersprüchen geprägt und durch extreme Verzögerungen gekennzeichnet, umso mehr, da die Behörden Zeit und Kapazität hatten, einzugreifen, und die Wetterbedingungen äußerst günstig waren. Das Unglück endete schließlich damit, dass die meisten Passagiere tot oder vermisst waren, was zum jetzigen Zeitpunkt natürlich bedeutet, dass sie tot sind. Nur 104 Menschen von 750 wurden gerettet.
MiGAZIN: Was ist mit den 104 Überlebenden nach ihrer Rettung passiert?
„Den Überlebenden wurde der Kontakt zu Menschen von außerhalb verwehrt, einschließlich ihrer Familien.“
Eirini Gaitanou: Nach der Rettung wurden sie zwei Tage lang rechtswidrig in einem Lagerhaus in Kalamata festgehalten. Die Menschen hatten gerade erst ein Schiffsunglück überlebt. Einige von ihnen hatten ihre Angehörigen im Meer verloren oder mussten dabei zusehen, wie andere Passagiere des Bootes ertranken. Die Überlebenden befanden sich also in einer extrem prekären Lage. Dennoch wurden sie enorm schlecht behandelt. Sie hatten keinen Zugang zu lebensnotwendigen Dingen. Wir haben Fotos von ihnen gesehen, auf denen sie halbnackt und ohne Schuhe waren. Den Überlebenden wurde der Kontakt zu Menschen von außerhalb verwehrt, einschließlich ihrer Familien. Es gibt ein Bild von einem Mann, dessen Bruder nach Malakasa gekommen ist, um nach ihm zu suchen. Sie konnten sich aber nur abgetrennt durch ein Stahlgitter begrüßen.
Nachdem sie in der Lagerhalle untergebracht wurden, wurden sie in das Aufnahme- und Identifikationszentrum (RIC) Malakasa überführt. Es handelt sich dabei um ein Lager weit weg von Athen oder anderer städtischen Infrastruktur. In diesem Camp sind die Menschen inhaftiert, dort werden Anmelde- und Identifikationsverfahren durchgeführt sowie Asylanträge entgegengenommen. Dieser Prozess dauert normalerweise bis zu 25 Tage. Doch auch nach der Registrierung ihrer Asylanträge mussten die Überlebenden im Camp bleiben. Ihre Ein- und Ausgänge wurden ständig kontrolliert.
Die Behörden setzten die Überlebenden besonders schnellen Asylverfahren aus, trotz ihrer speziellen Situation, ohne ihnen angemessene psychosoziale Unterstützung zukommen zu lassen. Sie bekamen nicht die Zeit, um psychisch überhaupt erst wieder in der Lage zu sein, über ihr Asylgesuch zu sprechen. Auch die Gespräche selbst wurden unter äußerst problematischen Bedingungen geführt: ohne physische Anwesenheit von Sachbearbeitern oder Dolmetschern, ohne Schallschutz in Containern. Bei dem Gespräch müssen die Fluchtgründe dargelegt werden. Was auch immer gesagt wird, es hat Konsequenzen auf das Asylverfahren. Einige Menschen mussten das Gespräch innerhalb von drei Tagen nach dem Unglück führen. Sie waren weiterhin unter Schock und hatten zuvor weder Vorbereitung noch rechtliche oder psychologische Unterstützung.
Wir haben dies auch den Behörden mitgeteilt und um Verschiebung der Gespräche gebeten. Aber die Behörden haben darauf nicht reagiert und sie trotzdem durchgeführt. Dies ist ein Verfahrensverstoß, wie sie von der griechischen und europäischen Gesetzgebung in Bezug auf vulnerable Menschen vorgesehen sind.
Was wissen Sie über den jetzigen Aufenthaltsstatus der Überlebenden?
Eleni Velivasaki: Es handelt es sich um eine große Anzahl von Menschen, deren rechtliche Situation sehr unterschiedlich ist. Einige von ihnen hatten Familien in Europa. In diesem Fall wurden Dublin-Verfahren für eine Familienzusammenführung eingeleitet. Das war eine große Erleichterung für die Menschen, die noch unter dem Trauma des Schiffbruchs sowie den widrigen Bedingungen des Asylverfahrens in Griechenland litten. Einige der Überlebenden befinden sich immer noch im Asylverfahren. Diese sind immer noch im Camp Malakasa. Und einige der Asylanträge von Überlebenden wurden bereits abgelehnt.
Neun Überlebende wurden im Anschluss beschuldigt, „Schlepper“ zu sein. Haben Sie Kontakt zu ihnen?
„Oft werden Flüchtende wegen ‚Beteiligung am Transfer anderer Passagiere‘ beschuldigt, obwohl sie selbst einfache Passagiere auf den Booten sind.“
Eleni Velivasaki: Wir als RSA vertreten nicht den Fall der neun Beschuldigten. Aber wie wir aus unserer früheren Arbeit wissen, ist das ein riesiges Problem. Oft werden Flüchtende wegen „Beteiligung am Transfer anderer Passagiere“ beschuldigt, obwohl sie selbst einfache Passagiere auf den Booten sind. Vor den griechischen Gerichten sind viele weitere solche Verfahren anhängig. Einige Angeklagte wurden bereits für unschuldig befunden. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Menschen zu langen Haftstrafen verurteilt worden sind. Betroffene werden in diesen Fällen für den Transfer jedes einzelnen Passagiers auf dem Boot verurteilt. Das summiert sich oft zu langjährigen Haftstrafen. Die Begründung dieser Urteile ist sehr dünn. Dennoch sitzen viele Geflüchtete in griechischen Gefängnissen, darunter auch Minderjährige.
Wie sahen die staatlichen Ermittlungen zum Unglück aus, bevor Sie Strafanzeige erstattet haben?
Eleni Velivasaki: Es gibt verschiedene Ermittlungsverfahren. Eine Untersuchung der Staatsanwalt des Marinegerichts von Piräus und einen separaten Strafprozess, der gegen die neun Beschuldigten läuft. Und schließlich haben wir Strafanzeige eingereicht, die dann Teil der Ermittlungen wurde. Bis zu dem Zeitpunkt, als wir die Strafanzeige eingereicht haben, wurden die Überlebenden des Schiffsunglücks, die Zeugen, nicht einmal gehört. Erst nach unserer Strafanzeige wurden das gemacht. Diese Verzögerung war aber gravierend, weil einige Überlebende nicht mehr in Griechenland waren und es schwieriger wurde, sie anzuhören. Für die Ermittlungen wäre dies sehr wichtig gewesen.
Auch die Handys der involvierten Küstenwache wurden erst im September, zweieinhalb Monate nach dem Unglück, beschlagnahmt, richtig?
Eleni Velivasaki: Ja, genau, am 30. September. Es gab außerdem Probleme mit den Handys der Überlebenden. Sie haben nach dem Unglück berichtet, dass ihnen die Handys abgenommen worden sind. Die griechische Küstenwache streitet das ab. Nach mehr als einem Monat, also Ende Juli, wurde auf einer anderen Insel namens Kythira eine Tasche mit diesen Handys gefunden. Diese Insel liegt aber weit weg von Pylos und Kalamata. Die Handys wurden dann direkt konfisziert, ohne dass ihre Besitzer informiert oder ihnen Zugang dazu gewährt wurde. Und obwohl wir darum gebeten haben, unseren Mandanten ihre Handys zurückzugeben, haben wir darauf keine Antwort erhalten.
Was hat euch dazu bewogen, Strafanzeige gegen die Küstenwache zu erstatten?
„Eine ordnungsgemäße Untersuchung durch die griechischen Behörden ist sehr wichtig, damit die Überlebenden, aber auch die Angehörigen der vermissten Menschen, Gerechtigkeit finden.“
Eleni Velivasaki: Am 14. September haben wir im Namen von 40 Überlebenden Strafanzeige gegen alle Verantwortlichen beim Marinegericht von Piräus erstattet. Wir, zusammen mit vier anderen Organisationen, fordern umfassende Untersuchung und Aufklärung des Unglücks. Im Gespräch mit den Überlebenden haben wir zahlreiche Fehler festgestellt. Es war nicht einfach, mit allen Überlebenden zu sprechen. Sie standen unter enormen Schock und konnten nicht glauben, was mit ihnen passiert war. Eine ordnungsgemäße Untersuchung durch die griechischen Behörden ist sehr wichtig, damit die Überlebenden, aber auch die Angehörigen der vermissten Menschen, Gerechtigkeit finden. Der griechische Staat und die europäischen Staaten haben die Verpflichtung, Menschen in Gefahr und Lebensbedrohung zu retten. Und in diesem Fall haben sie versagt.
Wie stehen die Erfolgsaussichten einer solchen Klage?
Eleni Velivasaki: Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehen. Es handelt sich um eine laufende strafrechtliche Untersuchung. Es bleibt also noch abzuwarten, wie es weitergeht.
Ist es das erste Mal, dass Sie eine solche Strafanzeige stellen?
Eleni Velivasaki: Wir haben bereits einmal eine ähnliche Klage eingereicht. Leider werden Strafanzeigen gegen die Küstenwache oder andere Behörden in der Regel ohne Gerichtsverfahren vom griechischen Justizsystem ad acta gelegt. Ein ähnlicher, bekannter Fall ist der Fall des Schiffsunglücks von Farmakonisi im Jahr 2014. Auch dies war ein tödliches Schiffsunglück. Es gab zunächst eine Untersuchung in Griechenland. Aber der Fall wurde schnell, ohne Gerichtsverfahren geschlossen.
Also legten die Überlebenden mit unserer Unterstützung Berufung am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Acht Jahre später, am 7. Juli 2022, stellte das Urteil des EGMR fest, dass Griechenland Artikel 2 (Recht auf Leben) der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie Artikel 3 (Verbot von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) in diesem Fall des Schiffsunglücks verletzt hat. Das Gericht stellte fest, dass nach dem Schiffsunglück keine ordnungsgemäße Untersuchung stattgefunden hat und dass die Überlebenden unzureichend behandelt wurden, was einem erniedrigenden Verhalten gleichkam.
Eirini Gaitanou: Es muss nochmal betont werden: Pylos war ein äußerst tragisches Schiffsunglück, aber es war kein Einzelfall. Wir haben als Organisation mindestens weitere vier Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang von Operationen der Küstenwache, die derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig sind. Es geht dabei um das Recht auf Leben und Verbots von Folter sowie unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Alles Fälle, die im griechischen Justizsystem keine Gerechtigkeit gefunden haben.
„Militarisierung von Grenzkontrollen zeichnen sowohl die europäischen als auch die griechischen Asyl- und Migrationspolitiken aus und führen zu Verletzungen der Grundrechte, und in zahlreichen Fällen zum Tod.“
Diese ganze Situation steht natürlich auch im Zusammenhang mit der Asyl- und Migrationspolitik Griechenlands und der EU. Diese schließen Abschreckungspraktiken an den Grenzen mit ein, werden aber auch mit illegalen Praktiken wie Pushbacks kombiniert. Und natürlich existieren Politiken der externen Grenzkontrolle sowohl an den Grenzgebieten der EU als auch in Ländern außerhalb der EU. Beispielsweise müssen wir uns die Art und Weise ansehen, wie Länder wie Libyen wirtschaftlich, militärisch, politisch usw. unterstützt werden. Politiken der Externalisierung und Militarisierung von Grenzkontrollen zeichnen sowohl die europäischen als auch die griechischen Asyl- und Migrationspolitiken aus und führen zu Verletzungen der Grundrechte, und in zahlreichen Fällen zum Tod.
Dies ist auch deshalb wichtig, weil nun auf EU-Ebene die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems diskutiert worden ist. Die Diskussion darum stärkt und legitimiert diese Politiken. Daher ist es wichtig zu betonen, dass wir eine radikale Veränderung in Bezug auf Asyl und Migration benötigen. Und natürlich die Möglichkeit, auf legalem und sicherem Weg, Schutz suchen zu können. Denn das Grundrecht auf Asyl wird schon verletzt, wenn es erst gar keine Möglichkeit gibt, europäischen Boden zu erreichen, um den Asylantrag zu stellen.
Mit welchen Schwierigkeiten sind die Familien der vermissten Personen nun konfrontiert?
Eleni Velivasaki: Wir erhalten viele Anfragen von Angehörigen der vermissten Personen. Wir versuchen, ihnen bei der Kontaktaufnahme mit den griechischen Behörden und beim Identifikationsverfahren zu helfen. Es gibt viele Menschen, deren Leichen nie gefunden wurden. Die Behörden haben keine Anstrengungen unternommen, das Schiff Adriana zu lokalisieren und zu bergen. Wir haben dafür eine Anfrage beim Gericht in Kalamata eingereicht, auch um alle fotografischen und videografischen Beweise vom Schiff selbst zu sammeln. Bisher gab es keine Antwort auf diese Anfrage. Die Behörden berufen sich auf das Argument, dass das Schiff an einer sehr tiefen Stelle im Meer untergegangen ist, was zwar stimmt, aber zuvor wurde sich dieser Stelle schon einmal angenähert. Das ist auch eine Forderung der Angehörigen: die Bergung des Schiffes, um zumindest ein paar Informationen über das Schicksal ihrer Familienmitglieder zu erhalten.
„Bei Identifikationsprozessen der Vermissten treten systematisch Mängel und Lücken auf. Es gibt keine standardisierten Verfahren.“
Eirini Gaitanou: Bei Identifikationsprozessen der Vermissten treten systematisch Mängel und Lücken auf. Es gibt keine standardisierten Verfahren, um mit den Behörden zu kommunizieren und ordnungsgemäße Identifikationsverfahren für die Vermissten durchzuführen. Für die Identifizierung der Vermissten und der Toten reichen die Protokolle nicht aus. Wir haben viele Fälle, in denen keine DNA entnommen worden ist, oder andere Fälle, in denen die Angehörigen nicht wissen, wie sie ihre Verwandten finden können. In dem Fall von Pylos gab es zuerst eine Telefonleitung vom Roten Kreuz und dann vom Ministerium für Migration. Aber wir haben keine Informationen darüber erhalten, wie es weitergeht.
Es gibt systematische Mängel in den Verfahren nach Schiffsunglücken oder bei anderen Ereignissen von Grenzgewalt. Im Zuge von Such- und Rettungsverfahren kommt es zu regelmäßigen Versäumnissen oder unrechtmäßigen Handlungen. Aber die Mängel zeigen sich auch in den Ermittlungen nach solchen Vorfällen, der Art und Weise, wie die Zeugen angehört werden, wie Beweise gesammelt und erfasst werden.
Was sind die Forderungen der Überlebenden und den Angehörigen der Vermissten?
Eleni Velivasaki: Wir können natürlich nicht für alle Überlebenden sprechen, aber die Mehrheit der von uns vertretenen Mandanten fordert Gerechtigkeit für das, was ihnen passiert ist. Auf der einen Seite ist es für sie sehr wichtig, mit ihrem Leben weiterzumachen. Es ist aber auch wichtig für sie, dass sie die Aufklärung über die Geschehnisse erhalten.
Auch die Angehörigen der Vermissten möchten Frieden finden, zumindest indem sie wissen, dass der Körper ihrer Verwandten gefunden wurde oder indem sie erfahren, was in der Nacht des Schiffbruchs passiert ist. So ist es für die Angehörigen der Vermissten sehr schwer, mit ihrer Trauer umzugehen, wenn sie überhaupt keine Informationen erhalten. Sie können nicht trauern. Sie können nicht verstehen, was passiert ist. Sie leben in einem fortwährenden Trauma. Interview Leitartikel Panorama
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