Frustrierende Bilanz
20 Jahre Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Nach dem Kopftuchverbot ist vor dem Kopftuchverbot. So frustrierend ist die Bilanz. Die auf dem Boden des antimuslimischen Rassismus gewachsenen Argumentationsmuster sind seit Jahrzehnten gleich. Heute sind sie lediglich eleganter formuliert.
Von Gabriele Boos-Niazy Dienstag, 26.09.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 27.09.2023, 15:56 Uhr Lesedauer: 22 Minuten |
An den 24. September 2003 erinnere ich mich sehr gut. Es war der Tag, an dem ich dachte, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei das Ende nicht nur des Kopftuchverbots im baden-württembergischen Schuldienst. Ich dachte, es sei überhaupt das Ende der absurden Idee, gut ausgebildete kopftuchtragende Frauen – die ja immer aufgefordert wurden, sich „endlich“ zu integrieren – durch ein Berufsverbot großflächig auszugrenzen. So kann man sich irren. Ich hätte mir nicht (alb)träumen lassen, dass das erst der Anfang einer bis heute noch nicht beendeten Entwicklung war, die mir meine Heimat in einem neuen, sehr unschönen Licht zeigt.
Erleichterung und Optimismus – die Vorschläge des Bundesverfassungsgerichts
Ich saß also an jenem 24. September 2003 vor dem Fernseher und hörte zu, was über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Klage von Fereshta Ludin berichtet wurde. Ich war mit einigen kopftuchtragenden Lehrerinnen befreundet und meine erste Reaktion war eine große Erleichterung: Das Kopftuchverbot war nicht zulässig gewesen. Doch schnell verstand ich, dass das nur die halbe Miete ist, denn die Unzulässigkeit lag vor allem daran, dass dem Verbot kein Gesetz zugrunde lag und das war schließlich nichts, was sich nicht auch ändern ließe. Aber, dachte ich, wir alle wissen ja alle, dass vom Gesetzentwurf bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes meist viel Zeit vergeht und bis dahin wird man sich erinnern, dass Lehrerinnen mit Kopftuch eine Bereicherung sind und keine Gefahr. So kann man sich irren.
Doch eine gesetzliche Grundlage für ein Verbot war nicht die einzige Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts. Hinzu kam die Maßgabe, dass im Falle eines Verbots alle Religionen gleich zu behandeln seien und das Kopftuch „nicht auf ein Zeichen der Unterdrückung verkürzt werden darf.“
Ein Blick in das Urteil zeigte, dass das Gericht dem Gesetzgeber zwei Wege eröffnet hatte: Er kann sich für das Konzept einer Schule entscheiden, die die Vielfalt der Gesellschaft aufnimmt und in der ein toleranter Umgang damit eingeübt wird. In diesem Fall bleibt rechtlich alles so, wie es ist: Das Tragen religiöse Bekleidungs- und Schmuckstücke ist Lehrkräften erlaubt. Der Gesetzgeber kann sich aber auch dazu entscheiden, die Schule als religions- und weltanschaulich freien Raum zu konzipieren, um potentielle Konflikte, die die Sichtbarkeit unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen in der Lehrerschaft mit sich bringen könnten, vorn vornherein zu vermeiden. Damit würde er zwar eine imaginierte Homogenität verordnen, die es im Alltag längst nicht mehr gibt, aber diese politische Entscheidung ist zulässig, wenn bestimmte Parameter, u.a. die beiden oben genannten, eingehalten werden.
Diese beiden Alternativen, die das BVerfG beschrieb, ließen mich erneut hoffen. Schließlich wurden Politiker:innen nicht müde, mit Stolz zu verkünden, dass Deutschland „Exportweltmeister“ sei. Damit liegen doch – so dachte ich – in einer sich zunehmend globalisierenden Welt die Vorteile auf der Hand, wenn Kinder früh lernen, mit Vielfalt entspannt und zum gegenseitigen Nutzen umzugehen. Zudem: In NRW arbeiteten schon seit (sehr) vielen Jahren Lehrerinnen mit Kopftuch und ich dachte: Auch wenn die Bayern vielleicht auf Kopftuchverbote anspringen, so wird man das in NRW bestimmt absurd finden; schließlich sind das am Ende ja Berufsverbote. So kann an sich irren.
Politische Debatten nach der Gerichtsentscheidung
„Statt einem Austausch von Argumenten fanden in den Parlamenten ein Schlagabtausch statt und die Gesetzentwürfe waren in der Regel sehr offen von dem Wunsch geprägt, die Religionen nicht gleich zu behandeln.“
Die politischen Debatten setzten sofort nach der Entscheidung des BVerfGs ein. Statt einem Austausch von Argumenten fanden in den Parlamenten ein Schlagabtausch statt und die Gesetzentwürfe waren in der Regel sehr offen von dem Wunsch geprägt, die Religionen nicht gleich zu behandeln, sondern ausschließlich kopftuchtragende Lehrerinnen mit einem Verbot zu treffen, während eigene religiöse Zeichen zulässig bleiben sollten. Dieser Verfassungsbruch wurde mit unterschiedlichen Floskeln kaschiert: Mal wurde die Religion zur jahrhundertealten Tradition des Landes erklärt, die bewahrt werden müsse,1 mal wurde die Kopfbedeckung von Nonnen – der offensichtlichsten Parallele zum Kopftuch – zur Darstellung einer „von konkreten Glaubensinhalten losgelösten Werteordnung“ erklärt,2 oder gar behauptet, die Verfassung enthalte gar keine Verpflichtung zur Gleichbehandlung aller Religionen.3 Auch die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, das Kopftuch nicht auf negative Bedeutungsinhalte zu verkürzen, wurde von Gesetzgebern ignoriert. So wurde das Kopftuch als politisches Zeichen des Islamismus und Fundamentalismus, der die Verfassungsordnung bedrohe, definiert. Zudem sei es unvereinbar mit Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie,4 ja, mehr noch: Ein Verbot sei – so die hessische FDP-Abgeordnete Ruth Wagner – notwendig, um nicht die Versäumnisse aus den 1930iger Jahren zu wiederholen – man müsse den Anfängen wehren.5
„Um die eigenen antimuslimischen Stereotype zu kaschieren, wurden sie in den Parlamentsdebatten einem ‚objektiven Empfängerhorizont‘ zugeschrieben.“
Um die eigenen antimuslimischen Stereotype zu kaschieren, wurden sie in den Parlamentsdebatten einem „objektiven Empfängerhorizont“ zugeschrieben. Diese fiktive Person verbinde negative Assoziationen mit dem Kopftuch. Die wissenschaftlich umfangreich belegten religiösen und verfassungsrechtlich geschützten Motive kopftuchtragender Frauen wurden konsequent ignoriert, stattdessen wurden die vorurteilsbelasteten Stereotype des „Empfängerhorizonts“ zur Grundlage der Legitimation einer Grundrechtseinschränkung herangezogen.
Das alles waren zwar durchsichtige Taktiken, doch den Gesetzgebern, die ein Verbot erlassen wollten, war kein Argument zu populistisch, um zu demonstrieren, dass man zum Schutz des geneigten Wählers „das Eigene“ bewahrt und „das Fremde“ abwehrt.
Kurzzeitige Hoffnung durch prominente Unterstützung
„Nie eine ungleichere Auseinandersetzung erlebt.“
Kopftuchtragende Lehrerinnen, Referendarinnen und Lehramtsstudentinnen schauten zunächst ungläubig und dann mit Entsetzen auf das Zerrbild, das von ihnen gezeichnet wurde. Sie ahnten, was daraus folgen würde. Doch kurzzeitig gab es Hoffnung: Die in Migrationsthemen versierten und bekannten Politikerinnen Marie-Luise Beck (Bündnis 90/Die Grünen), Barbara John und Rita Süssmuth (beide CDU) riefen in einem Apell die Politik auf, von Kopftuchverboten Abstand zu nehmen.6 Diesen Aufruf unterzeichneten mehr als siebzig prominente Fachfrauen aus Politik, Wissenschaft und Kunst. Die in dem zwanzig Jahre alten Text prognostizierten negativen Auswirkungen, die Verbote nach sich ziehen würden, traten später allesamt ein, doch die Politik ignorierte die Fachkompetenz der Unterzeichnerinnen. 2009 schrieb Barbara John, sie habe in ihrer langjährigen Beschäftigung mit dem Thema Integration „nie eine ungleichere Auseinandersetzung erlebt.“7 Durch die Kopftuchverbote sei ein langlebiges Feindbild geschaffen worden, das die Würde kopftuchtragender Frauen untergraben und breite Auswirkungen über die Lehrerinnen hinaus habe. Die „allumfassende Diffamierung“ lasse sich nur durch einen langen Atem, große Beharrlichkeit und Unerschrockenheit wieder beseitigen. Die Aussicht darauf, dass die Antikopftuchbewegung eine Kehrtwende hinlege, schätzte sie zutreffend als gering ein.8
Verbotsgesetze entstehen
Ebenso wirkungslos verpufften die Bedenken, die Fachleute bei den gesetzlich vorgeschriebenen Anhörungen vortrugen – die Verbote waren politisch gewollt und bereits sechs Monate nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, am 1. April 2004 erließ Baden-Württemberg ein Kopftuchverbot im Schuldienst. Niedersachsen folgte Ende April, das Saarland im Juni, Hessen im Oktober und Bayern im November 2004. Berlin zog im Januar 2005 nach und Bremen im Juni 2005. Das Schlusslicht bildete NRW im Juni 2006. – dort hatte es einen Regierungswechsel von einer SPD/Grünen zu einer CDU/FDP-Regierung gegeben.
„Ausschlaggebend dafür … waren nie tatsächliche existierende Probleme, sondern ausschließlich die religions- und integrationspolitischen Leitbilder der regierenden Parteien.“
Ausschlaggebend dafür, ob ein Verbot (häufig auch über den Schuldienst hinaus) geschaffen oder wie es ausgestaltet wurde, waren nie tatsächliche existierende Probleme, sondern ausschließlich die religions- und integrationspolitischen Leitbilder der regierenden Parteien. In Bundesländern, in denen die CSU bzw. die CDU allein regierte oder eine Koalition mit der FDP eingegangen war, wurden Verbotsgesetze erlassen, die nur auf das Kopftuch abzielten und die christliche Religion privilegierten. Berlin und Bremen, die von SPD/PDS bzw. SPD/Grünen regiert wurden, verboten alle religiösen Zeichen, was faktisch gesehen dennoch bestimmte Gruppen benachteiligt, aber das ist ein anderes Thema.
Als sich in NRW abzeichnete, dass bei den Landtagswahlen 2005 die SPD/Grünen-Regierung abgelöst werden könnte, fanden sich 2004 rund 30 potentiell betroffene Lehrerinnen und Unterstützerinnen zu einer Initiative zusammen („Initiative für Selbstbestimmung in Glaube und Gesellschaft“). Nach dem Wahlsieg der CDU, die eine Koalition mit der FDP einging, kündigte der damalige Ministerpräsident Rüttgers an, schnellstmöglich ein gesetzliches Kopftuchverbot einzuführen. Im Sommer 2006 trat es in Kraft. Unsere politischen Aktionen, wie z.B. ein Schreiben an alle Abgeordneten, in dem sämtliche negativen Auswirkungen des Verbots geschildert wurden, zeugt aus heutiger Sicht von unseren recht naiven Vorstellungen davon, wie Politik funktioniert. Am Ende half nur der Weg über die Gerichte. Immerhin konnte unserer Initiative mit Unterstützung vieler einzelner Spender:innen Geld für ein Rechtsgutachten sammeln und auch die beiden Klägerinnen bis zum Gang vor das Bundesverfassungsgericht mental unterstützen.
Einzelfallregelungen wurden abgelehnt
„Mit Einzelfallprüfungen wäre das politische Ziel einer kopftuchfreien Schule nicht erreichbar gewesen, also musste ein pauschales Verbot her. Doch argumentiert werden musste natürlich anders.“
Einzelfallregelungen waren politisch nicht gewollt, denn welchen Grund hätte es gegeben, Lehrerinnen, die schon seit Jahren zur Zufriedenheit von Schulleitungen, Eltern und Schüler:innen arbeiteten, aus dem Schuldienst zu entfernen? Mit Einzelfallprüfungen wäre das politische Ziel einer kopftuchfreien Schule nicht erreichbar gewesen, also musste ein pauschales Verbot her. Doch argumentiert werden musste natürlich anders. So wurde behauptet, die Schulen seien durch Einzelfallregelungen überfordert und verlangten nach klaren Regelungen. Zudem wurde kopftuchtragenden Frauen unterstellt, bei einer Einzelfallprüfung politische Motive für ihr Kopftuchtragen aus taktischen Gründen zu leugnen. Eine solche Regelung funktioniere nur mit Menschen, die die Wahrheit sagen, erklärte Christian Baldauf von der CDU im rheinland-pfälzischen Landtag.9 Der nordrheinwestfälische CDU-Abgeordnete Jostmeier, sah in einer Einzelfallregelung gar eine Mutprobe, denn Eltern oder Lehrer:innen, die eine Lehrerin mit Kopftuch ablehnten, müssten so mutig sein, sich zu Wort zu melden, gerieten dann unter Begründungszwang und müssten Spießrutenlaufen befürchten.10 Eine solche Konstellation, in der eine (mit Macht ausgestattete) Mehrheit Angst vor einer (machtlosen) Minderheit hat, entbehrt zwar jeglicher Logik und Alltagserfahrung, aber um beides ging es ja auch leider nicht.
Auswirkungen der Gesetze auf die Betroffenen11
„In NRW trugen zum Zeitpunkt der Schaffung des Verbots knapp über 30 Lehrerinnen und Referendarinnen ein Kopftuch, das ist ein Anteil von 0,018 %.“
In NRW trugen zum Zeitpunkt der Schaffung des Verbots knapp über 30 Lehrerinnen und Referendarinnen ein Kopftuch, das ist ein Anteil von 0,018 %; dies zeigt die Absurdität der Bedrohungsszenarien, die dem Verbot zugrunde lagen.
Die einzelnen kopftuchtragenden Lehrerinnen in NRW waren sich zunächst sehr sicher, dass das Gesetz sie nicht treffen werde, denn die Stereotypen, auf denen das Gesetz beruhte, träfen auf sie nicht zu – das versicherten ihnen auch ihre Schulleitungen und Kolleg:innen. Dann forderte das Ministerium die Schulleitungen auf, die kopftuchtragenden Kolleginnen auf das gesetzliche Kopftuchverbot hinzuweisen. Weigerten sich die Frauen, das Kopftuch abzulegen, mussten sie Erklärungen zu ihren Motiven abgeben, was zu erneuten Hoffnungen führte, die jedoch trog: Entsprechend der Gesetzesauslegung spielten die Motive der einzelnen Frauen keine Rolle, ausschlaggebend war der oben beschriebene „objektive Empfängerhorizont“.
In der Folge wurden fest angestellte Lehrerinnen, Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiterinnen, die ihr Kopftuch nicht ablegten, abgemahnt und gekündigt. Befristete Verträge wurden nicht verlängert, eine Einstellung nach erfolgreichem Referendariat war nicht möglich, ebensowenig wie die Rückkehr in den Job nach einer Elternzeit. Die verbeamteten Lehrerinnen erhielten eine Weisung, durften aber weiter mit Kopftuch unterrichten, waren jedoch von Beförderungen ausgeschlossen.
„Vor allem alleinerziehende Frauen und Familienernährerinnen gerieten schnell unter Druck, da sie sich einen Ausstieg aus dem Beruf wirtschaftlich nicht leisten konnten.“
Vor allem alleinerziehende Frauen und Familienernährerinnen gerieten schnell unter Druck, da sie sich einen Ausstieg aus dem Beruf wirtschaftlich nicht leisten konnten. Sie und auch diejenigen, die ihren Beruf nicht einfach aufgeben wollten, suchten nach einer alternativen Kopfbedeckung, meist griffen sie zur Baskenmütze. Das wurde nicht toleriert, denn – so das Ministerium und die Gerichte, die der Argumentation folgten – die Baskenmütze stelle einen Ersatz für das Kopftuch dar und damit sei die (negative) Symbolwirkung des Kopftuches auf diese Baskenmütze übergegangen. Ein objektiver Betrachter habe beim Anblick der Baskenmütze auf dem Kopf einer Muslima die gleichen negativen Assoziationen, wie beim Anblick eines Kopftuches. Einige der (wirtschaftlich) in die Enge getriebenen Frauen, griffen zur Perücke. Sie berichteten, dass sie dies als Erniedrigung empfanden, als tagtägliche Erinnerung daran, dass sie als erkennbare Musliminnen unerwünscht waren. Die Versuche, in andere Bundesländer zu wechseln, in denen es kein Kopftuchverbot gab, sowie Bewerbungen an Privatschulen, waren nur selten erfolgreich, denn die Stereotypen über das Kopftuch, die zum „Allgemeinwissen“ geworden waren, führten dazu, dass sie auch dort oft abgelehnt wurden.
„2011, fünf Jahre nach Schaffung des Verbots zeigte sich, dass einstige Lehrerinnen und erfolgreiche Referendarinnen ihren Lebensunterhalt meist durch befristete Stellen bestritten, die unterhalb ihrer Qualifikation lagen.“
2011, fünf Jahre nach Schaffung des Verbots zeigte sich, dass einstige Lehrerinnen und erfolgreiche Referendarinnen ihren Lebensunterhalt meist durch befristete Stellen bestritten, die unterhalb ihrer Qualifikation lagen. Viele mussten ihr Gehalt mit Sozialleistungen aufstocken, manche engagierten sich vermehrt ehrenamtlich in Projekten, immer in der Hoffnung, auf diesem Weg zu einer Festanstellung zu kommen. Hinzu kamen persönliche Belastungen: Die Familien wirkten nicht immer unterstützend, sondern übten zum Teil auch Druck aus, das Kopftuch abzulegen, um die wirtschaftliche Sicherheit nicht zu verlieren. Viele Frauen berichteten über Selbstzweifel und Vertrauensverlust in den Staat und die Politik und damit in die Institutionen, die ihre Interessen vertreten und ihnen Schutz gewährleisten sollten. Eine der Betroffenen hat die ganze Bandbreite der Auswirkungen so beschrieben:
„Bei einer Qualifikation zur interkulturellen Gesundheitsmediatorin haben die anderen Teilnehmerinnen erfahren, dass ich Lehrerin bin. Einige konnten nicht verstehen, dass es in Deutschland möglich ist, ein Kopftuchverbot durchzusetzen und hatten Mitleid mit mir. Manche konnten es nicht verstehen, dass ich nicht einfach mein Kopftuch abnahm und unterrichtete. Ich würde mir selbst im Wege stehen. Mein ganzes Studium sei umsonst gewesen. Ich fühle mich in solchen Situationen schrecklich. Ich nahm die ganze Zeit Honorartätigkeiten an, die weit unter meiner Qualifikation lagen, nur, um nicht den Glauben an mich zu verlieren, um eine gewisse Bestätigung zu bekommen. Ich leitete ein Elterncafe, Elterndiplom-Kurse, Sprachförderung für Vorschulkinder u.a. Genau die gleichen Kurse führten auch Frauen durch, die noch nicht einmal eine Ausbildung gemacht hatten. Sie hatten lediglich an einer Qualifikation teilgenommen. Wenn ich mich mit den anderen Kursleiterinnen verglich, fühlte ich mich sehr schlecht.
Ich fühle mich daher sowohl von der Gesellschaft, als auch von der Politik unterdrückt. Mir kommt das wie ein Witz vor, wenn ich ständig die Aufrufe lese, dass mehr LehrerInnen mit Migrantenhintergrund benötigt werden, während ich aus dem Beruf ausgeschlossen werde.
Ich bekomme immer mehr das Gefühl, dass man in Deutschland das Bild der Kopftuch tragenden Frau bewusst negativ darstellen möchte. Sie ist die arme, unterdrückte, nur für die Küche bestimmte Frau. Da wir dieses negative Bild nicht unterstützen und genau das Gegenteil vorleben, möchte man uns aus der Öffentlichkeit verbannen.“
Referendarinnen waren vom Kopftuchverbot ausgenommen – eigentlich
„Erwähnt sei aber, dass auch nach der Aufhebung gesetzlicher Kopftuchverbote Referendarinnen mit Kopftuch von Übernahmegesprächen berichteten, an denen schulseitig deutlich mehr Personen beteiligt waren, als bei Kolleg:innen und die Gespräche auch sehr viel länger dauerten.“
Da der Staat das Ausbildungsmonopol für Lehrkräfte besitzt, wurden Referendarinnen vom Kopftuchverbot ausgenommen. Das Recht auf freie Berufswahl wog für die Zeit des Referendariats schwerer als das Recht des Gesetzgebers, ein Verbot zu schaffen. Eigentlich wäre damit alles gesagt, denn eine Ausnahme von einem Kopftuchverbot bedeutet schließlich, es tragen zu dürfen. So kann man sich irren. Um in den Genuss dieses Rechts zu kommen, musste ein Ausnahmeantrag gestellt werden, ohne, dass es je konkrete Kriterien gegeben hätte, nach denen über einen solchen Antrag entschieden wird. Die Anforderungen an die Anträge wurden sukzessiv erhöht, zuletzt sollten die Antragstellerinnen erklären, inwieweit es im öffentlichen Interesse liege, ihnen die Wahrnehmung ihres Rechts zu erlauben. Darauf zu antworten: „Weil sonst offensichtlich wird, dass diejenigen, die politische Macht ausüben, sich nicht um Gesetze scheren und das den Glauben in den Rechtsstaat untergräbt!“ war angesichts der Abhängigkeitsverhältnisse, in denen die Frauen standen und den Befürchtungen, dass zu viel Widerspruchsgeist ihr Referendariat negativ beeinflussen würde, nur ein Tagtraum zum Abbau von Frustrationen. Etliche Referendarinnen kapitulierten und legten ihr Kopftuch ab, was dazu führte, dass diejenigen, die das nicht taten, ein erhöhtes Diskriminierungsrisiko hatten – sie schienen ja kompromisslos oder gar fundamentalistisch zu sein. Weitere Probleme im Referendariat seien hier ausgespart. Erwähnt sei aber, dass auch nach der Aufhebung gesetzlicher Kopftuchverbote Referendarinnen mit Kopftuch von Übernahmegesprächen berichteten, an denen schulseitig deutlich mehr Personen beteiligt waren, als bei Kolleg:innen und die Gespräche auch sehr viel länger dauerten.
Folgenlose Feststellung der Verfassungswidrigkeit des alleinigen Verbots des Kopftuches
„Die Kirchen und jüdischen Organisationen schwiegen.“
Die Lehrerinnen, die sich gegen Kündigung, Abmahnung und Weisung gerichtlich gegen das in NRW 2006 erlassene Verbot zur Wehr setzten, bekamen bereits 2007 die Bestätigung, dass die Ungleichbehandlung der Religionen und die damit die Privilegierung christlicher und jüdischer Zeichen verfassungswidrig ist.12 Doch Konsequenzen hatte das keine: Die Auslegung des Schulgesetzes wurde stillschweigend auf ein Verbot aller Zeichen geändert, die Kirchen und jüdischen Organisationen schwiegen. So konnte der damalige Integrationsminister Armin Laschet (CDU) noch 2010 vollmundig behaupten, der Staat sei eben nicht neutral und ihm sei das Husarenstück gelungen, das Kopftuch zu verbieten und christliche und jüdische Werte zu schützen.13
Das zähe Ende der Kopftuchverbote im Schuldienst
„Den Teufel, der im Detail steckt, hatten wir ja zur Genüge kennengelernt.“
Als am 13. März 2015 das Bundesverfassungsgericht in einer Pressemeldung bekanntgab, ein pauschales Kopftuchverbot sei verfassungswidrig, saß ich nichtsahnend im sonnigen Südfrankreich, in einer Ferienwohnung mit atemberaubender Aussicht. Dort erreichte mich der aufgeregte Anruf meiner Vorstandskollegin Tuba. 2003 war meine erste Reaktion auf die Entscheidung des BVerfGs Erleichterung gewesen – diesmal war es ein tiefes Misstrauen. „Das glaube ich erst, wenn ich es schwarz auf weiß auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts lese und zwar die GANZE Entscheidung!“ Den Teufel, der im Detail steckt, hatten wir ja zur Genüge kennengelernt. Es stellte sich heraus, dass der Beschluss bereits am 27. Januar 2015 gefasst worden war. Angesichts der Lebenssituationen der betroffenen Frauen wünsche ich mir bis heute, das Gericht hätte ihn früher bekanntgegeben.
„Eine größere Ohrfeige kann man sich als Gesetzgeber nicht abholen.“
Das Gericht erklärte die verfassungswidrige Privilegierung jüdischer und christlicher Zeichen für nichtig – eine größere Ohrfeige kann man sich als Gesetzgeber nicht abholen. Das pauschale Kopftuchverbot aufgrund einer lediglich abstrakten Gefahr beurteilte das Gericht als einen unverhältnismäßigen und damit unzulässigen Eingriff in die Glaubensfreiheit. Diese Entscheidung führte dazu, dass die Verbotsgesetze – außer in Berlin – noch 2015 aufgehoben wurden; Bayern führte eine Einzelfallregelung ein. Berlin ignorierte die höchstrichterliche Entscheidung bis 2023, hielt damit ein verfassungswidriges Verbot acht Jahre lang weiter aufrecht und zahlte lieber Entschädigungen, als den Frauen ihr Recht zu geben. Wie sich der neue Senat letztendlich verhalten wird, muss sich erst noch zeigen.
„Die Zahl der Schulleitungen, die auch nach der Entscheidung des BVerfGs der Meinung waren, sie könnten in einer Lehrerkonferenz darüber abstimmen lassen, ob eine Kollegin mit Kopftuch eingestellt werden solle oder nicht, hat über die Jahre abgenommen, aber es gibt sie noch.“
Die Zahl der Schulleitungen, die auch nach der Entscheidung des BVerfGs der Meinung waren, sie könnten in einer Lehrerkonferenz darüber abstimmen lassen, ob eine Kollegin mit Kopftuch eingestellt werden solle oder nicht, hat über die Jahre abgenommen, aber es gibt sie noch. Leider gibt es auch noch immer Lehrerinnen, die sich von derlei verquerem Rechtsverständnis einschüchtern lassen, weil ihnen selbst Wissen fehlt.
Ist jetzt alles gut und Kopftuchverbote gehören der Vergangenheit an?
Leider nicht.
„Leidtragende sind vor allem muslimische Frauen, denn ein Schmuckkreuz lässt sich unter den Kragen schieben und die ausbleibende Empörung jüdischer Organisationen lässt darauf schließen, dass der Leidensdruck nicht groß zu sein scheint.“
Nach dem Kopftuchverbot scheint vor dem Kopftuchverbot zu sein, auch wenn Verbote nun dem Wortlaut nach alle politisch, religiös oder weltanschaulich konnotierten Bekleidungs- und Schmuckstücke treffen. Seit 2017 wurden in sechs Bundesländern Verbote in der Justiz geschaffen; in zwei Bundesländern (Hessen und Berlin) gab es sie schon seit 2004 bzw. 2005. Diese Verbote entstanden nach dem bekannten Muster. Eine kopftuchtragende Frau wird in einer Institution sichtbar, wird benachteiligt und klagt dagegen. Sie bekommt Recht, falls es für die Benachteiligung keine gesetzliche Grundlage gibt. Die politische Debatte beginnt, der Gesetzgeber schafft ein Verbotsgesetz, das folgendermaßen argumentiert wird: Ein „objektiver Betrachter“, der das Kopftuch, das Kreuz oder die Kippa sehe, könne auf eine Verbundenheit der Person mit einer Religion schließen. Diese Wahrnehmung könne zu einem Vertrauensverlust des Betrachters in die Neutralität des Amtsträgers führen und das könne dann die Funktionsfähigkeit der ganzen Institution bedrohen. Entsprechend dieses – völlig unbelegten – Szenarios, werden die Gesetze als notwendig zur Stärkung der staatlichen Neutralität propagiert und zugleich der Begriff der staatlichen Neutralität pervertiert. Leidtragende sind vor allem muslimische Frauen, denn ein Schmuckkreuz lässt sich unter den Kragen schieben und die ausbleibende Empörung jüdischer Organisationen (einschließlich der unsererseits mehrfach angeschriebenen Antisemitismusbeauftragten in NRW, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger) lässt darauf schließen, dass der Leidensdruck nicht groß zu sein scheint.
Weit breitflächigere berufliche Einschränkungen für Kopftuchträgerinnen könnte das von der CDU/SPD-Regierung geschaffene und im Juli 2021 in Kraft getretene „Gesetz zur Regelung des Erscheinungsbildes von Beamt:innen“ nach sich ziehen. Zwar sind Beamtinnen im Schuldienst davon ausgenommen, doch in allen anderen Bereichen kann der Gesetzgeber religiös konnotierte Erscheinungsmerkmale „wie beispielsweise das muslimische Kopftuch, die jüdische Kippa oder ein christliches Kreuz“ untersagen, wenn sie „objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die neutrale Amtsführung der Beamtin oder des Beamten zu beeinträchtigen.“14 Zudem müssen die einzelnen Bundesländer kein eigenes Gesetz mehr erlassen, falls sie eine solche Regelung einführen wollen; ein Bezug auf das Bundesgesetz reicht, was die Hürde beträchtlich absenkt.
„Der Gesetzgeber argumentiert also erneut, dass Menschen, die Frauen mit Kopftuch sehen, ihnen möglicherweise nicht über den Weg trauen.“
Der Gesetzgeber argumentiert also erneut, dass Menschen, die Frauen mit Kopftuch sehen, ihnen möglicherweise nicht über den Weg trauen. Vor allem nicht, wenn sie den Staat repräsentieren und man mit einem Anliegen an sie herantritt. Dass diese Stereotypen verbreitet sind, ist kaum zu bestreiten, aber Politiker:innen müssen sich fragen lassen, inwiefern sie selbst genau dazu beigetragen haben. Statt diese Stereotype einmal mehr zur Grundlage von Verboten zu machen und damit zu adeln, ist es die Aufgabe der Politik und des Staates, ihnen entgegenzuwirken und sie zu bekämpfen, heute mehr denn je.
„Das, was, im Hinblick auf das Kopftuch verboten werden kann, wird auch verboten.“
Das alles sind keine rosigen Aussichten, denn die Erfahrung in unserer langjährigen Vereinsarbeit zeigt: Das, was, im Hinblick auf das Kopftuch verboten werden kann, wird auch verboten. Wir können nur hoffen, dass von den neuen Regelungen betroffene Frauen sich rechtlich zur Wehr setzen, so, wie es die Lehrerinnen und Erzieherinnen getan haben.
Am Jahrestag der ersten Kopftuchentscheidung, wurde bei Phönix ein interessantes Gespräch mit Udo Di Fabio ausgestrahlt. Er war einst Richter am Bundesverfassungsgericht und zwar in dem Senat, der die Kopftuchverbote schließlich 2015 als verfassungswidrig befand. Er vertrat damals allerdings die Mindermeinung, die Verbote seien rechtmäßig und sollten beibehalten werden. Am Ende des Gesprächs wurde er gefragt, wieso es eine zunehmende Anzahl von Klagen gegen politische Entscheidungen und Gesetze gebe. Er antwortet: „Es gibt manchmal eine Sehnsucht nach einer Instanz über den Parteien. Das war in früheren Zeiten mal der Kaiser. Heute sind es oft die Gerichte.“
Ja, tatsächlich: Wenn es diese Instanz nicht gegeben hätte, würde das Unrecht, das man kopftuchtragenden Lehrerinnen, Sozialpädagoginnen, Sozialarbeiterinnen und Erzieherinnen angetan hat, immer noch andauern. Ob dieser Schutz durch Gerichte auch in Zukunft noch gewährleistet sein wird, muss die Zukunft zeigen. Die weite Verbreitung rechtsextremer Positionen, die uns die neue „Mitte-Studie“15 gerade schmerzhaft vor Augen führt, dürfte sich langfristig auch bei einzelnen Richter:innen wiederfinden und könnte das Gefüge zuungunsten des Minderheitenschutzes verschieben. Diesmal hoffe ich allerdings, dass ich mich irre.
- Wolfgang Reinhardt (CDU) Baden-Württemberg, Landtag Baden-Württemberg Plenarprotokoll 13/62 vom 04.02.2004, S. 4399.
- Gerhard Papke (FDP) NRW,(Landtag Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 14/12 vom 09.11.2005, S. 1018.
- Frank Henkel (CDU), Berlin, zitiert in: Henkes, Christian / Kneip, Sascha (2009): Plenardebatten um das Kopftuch in den deutschen Landesparlamenten. In: Berghahn, Sabine / Rostock, Petra (Hg.): Der Stoff aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bielefeld: Transcript, S. 263.
- Verschiedene Landtagsprotokolle Hessen, NRW, Baden-Württemberg.
- Landtag Hessen Plenarprotokoll 16/30 vom 18.02.2004, S. 1910.
- Beck, Marieluise / John, Barbara / Süssmuth, Rita (als Initiatorinnen des Aufrufs) (2003): „Religiöse Vielfalt statt Zwangsemanzipation!“ – Aufruf wider eine Lex Kopftuch.
- John, Barbara (2009): Rückblick auf die Initiative „Aufruf wider eine Lex Kopftuch“. In: Berghahn, Sabine / Rostock, Petra (Hg.): Der Stoff aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bielefeld: Transcript, S. 467.
- Ebd. S. 470f.
- Landtag Rheinland-Pfalz Plenarprotokoll 14/103 vom 30.11.2005, S. 6887 und 6891.
- Landtag NRW, Plenarprotokoll 14/12 vom 09.11.2005, S. 1027.
- 2006 gab es in NRW über 6.000 öffentliche Schulen und ca. 186.000 Lehrkräfte, davon ca. 63 % (118.000) weiblich. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2006): Das Schulwesen in NRW aus quantitativer Sicht, Schuljahr 2005/06, Statistische Übersicht Nr. 355
- Z.B. VG Düsseldorf, Urteil vom 14.08.2007 – 2 K 1752/07, Rn. 70.
- Armbrüster, Tobias (2010): „Jeder von uns muss immer mal zurückrudern“. Interview mit NRW-Integrationsminister Armin Laschet (CDU) im Deutschlandfunk.
- Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften, DRS 19/26839, S. 40.
- Zick, Andreas / Küpper, Beate / Mokros, Nico: „Die Distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/2023“, Hrsg. Friedrich Ebert-Stiftung, 2023.
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