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Kind wartet am Flughafen (Symbolfoto) © claudiodivizia/123rf.com

Ein Jahr Ampel-Koalitionsvertrag

Weiter warten auf Verbesserungen beim Familiennachzug

In ihrem Koalitionsvertrag versprach die „Ampel“-Koalition Verbesserungen beim Familiennachzug zu Geflüchteten. Das weckte Hoffnung auf einen „Paradigmenwechsel“. Heute, ein Jahr später, ist davon wenig zu spüren: Strukturelle Probleme bestehen weiter, angekündigte Gesetzesänderungen lassen auf sich warten, viele Geflüchtete bleiben weiter von ihren Familien getrennt.

Von und Montag, 28.11.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 28.11.2022, 11:23 Uhr Lesedauer: 15 Minuten  |  

Seit Jahren kritisieren Geflüchteteninitiativen, Verbände und Menschenrechtsorganisationen die Gesetzgebung durch die Regierungsparteien und deren Umsetzung durch das Auswärtige Amt: Sie haben zahlreiche Hürden errichtet, die es in Deutschland lebenden Geflüchteten auch nach Erhalt eines Schutzstatus im Asylverfahren häufig schwer machen, ihre Familienangehörigen nachzuholen, um mit ihnen gemeinsam in Deutschland zu leben. Hierüber wurde unter anderem im MiGAZIN regelmäßig berichtet.

Der „Ampel“-Koalitionsvertrag vom November 2021 machte insofern Hoffnungen auf Verbesserungen. Nicht alle, aber doch einige zentrale Forderungen in Bezug auf den Abbau von Barrieren sind in ihm enthalten. Ein Jahr später muss leider festgestellt werden, dass die Umsetzung der angekündigten Erleichterungen weiter aussteht und von einem progressiven „Paradigmenwechsel“ im Auswärtigen Amt bislang nicht die Rede sein kann. Im Folgenden werden wir die einzelnen Ankündigungen aus dem Koalitionsvertrag in Bezug auf den Familiennachzug nennen und beschreiben, welches Problem jeweils dahintersteht und welche Anforderungen an die Umsetzung der Ankündigungen aus unserer Sicht bestehen.

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Koalitionsvertrag:Wir wollen die Visavergabe beschleunigen und verstärkt digitalisieren.“ (S. 138)

Um ein Visum zum Familiennachzug beantragen zu können, müssen die Familienangehörigen von in Deutschland lebenden Schutzberechtigten bei der jeweils zuständigen deutschen Auslandsvertretung persönlich vorsprechen. Dafür brauchen sie einen Termin. Seit Jahren stellen die langen Wartezeiten zwischen Terminbuchung und Vorsprachetermin sowie die langen Bearbeitungszeiten nach der Antragstellung für die Betroffenen ein großes Problem dar. Aktuell sind es die Auslandsvertretungen in Pakistan und Iran, die für die Anträge von Menschen aus Afghanistan zuständig sind, sowie jene in Ostafrika, bei denen die längsten Wartezeiten von mehr als zwei Jahren zu ertragen sind, bevor die Familienmitglieder überhaupt einen Antrag stellen können. So lange sind Partnerinnen von ihren Partnern, Kinder von ihren Eltern getrennt. Das löst große Verzweiflung bei den Betroffenen aus, zumal die Familienangehörigen in den Herkunfts- oder Aufenthaltsstaaten sich meist in sehr prekären, oft auch sehr gefährlichen Lebenssituationen befinden.

„Seit dem Amtsantritt von Annalena Baerbock (Grüne) als Außenministerin und damit Leiterin des Auswärtigen Amtes hat sich an dieser problematischen Situation nichts grundsätzlich geändert.“

Seit dem Amtsantritt von Annalena Baerbock (Grüne) als Außenministerin und damit Leiterin des Auswärtigen Amtes hat sich an dieser problematischen Situation nichts grundsätzlich geändert. Aus der Zivilgesellschaft liegen zahlreiche Vorschläge vor, die auch ohne Gesetzesänderung zu realisieren wären, die aber bis jetzt nicht oder nicht in ausreichendem Maße umgesetzt wurden. Diese umfassen zunächst die Ausweitung der personellen und infrastrukturellen Kapazitäten an den Auslandsvertretungen, um den „Bearbeitungsstau“ abbauen zu können. Angesichts der Argumentation des Auswärtigen Amtes, dass die Ausbaumöglichkeiten an den entsprechenden Auslandsvertretungen begrenzt seien, regt zum Beispiel UNHCR Deutschland 1 an, digitale Antragstellungen und Video-Interviews zu ermöglichen. So könnte das Verfahren auch ohne zwingende persönliche Vorsprache bereits eingeleitet und die Anträge dann auch durch Personal im Auswärtigen Amt in Deutschland bearbeitet werden. Außerdem könnte die örtliche Zuständigkeit der deutschen Auslandsvertretungen flexibler gehandhabt werden, so dass die Familienmitglieder bei deutschen Vertretungen in weiteren Ländern ihre Anträge einreichen könnten und sich die Terminregistrierungen nicht bei den wenigen zuständigen Auslandsvertretungen in und um bestimmte Herkunftsländer extrem anstauen.

„Es scheint leider immer noch am politischen Willen zu mangeln, tatsächlich die vorhandenen Handlungsspielräume auszuschöpfen.“

Ein digitalisiertes, auf wenige Monate beschleunigtes Visumverfahren wurde jedoch bislang nur zur Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes eingerichtet. Die Bundesregierung argumentiert, das beschleunigte Verfahren für Fachkräfte lasse sich „aufgrund der sehr unterschiedlichen Prozeduren und Sachverhaltskonstellationen nicht ohne Weiteres auf Verfahren zur Familienzusammenführung übertragen” – jedoch ohne weiter auszuführen, was genau die ausschlaggebenden Unterschiede sein sollen. Angesichts des grund- und menschenrechtlichen Stellenwerts des Rechts auf Familienleben auf der einen und der quälend langen Wartezeiten auf der anderen Seite ist die klare Benachteiligung der Familienzusammenführung gegenüber der Fachkräfteeinwanderung in jedem Fall hochproblematisch – es scheint leider immer noch am politischen Willen zu mangeln, tatsächlich die vorhandenen Handlungsspielräume auszuschöpfen.

Koalitionsvertrag:Wir werden die Familienzusammenführung zu subsidiär Geschützten mit den GFK-Flüchtlingen gleichstellen.“ (S. 140)

Um den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten – also zu Personen, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, weil ihnen dort z.B. wegen Krieg ein ernsthafter Schaden droht – wurde in den letzten Jahren, insbesondere zwischen 2015 und 2018, politisch viel diskutiert und gestritten. Und vor allem war er Gegenstand restriktiver Gesetzgebungen: Von März 2016 bis Juli 2018 wurde der Familiennachzug zu Personen mit subsidiärem Schutzstatus ausgesetzt. Seit August 2018 gibt es zwar eine Neuregelung, nach der der Familiennachzug wieder möglich ist – allerdings mit verschiedenen Einschränkungen: So wurde im Gesetz, sonst unüblich, eine Höchstgrenze von 1.000 Visa pro Monat festgeschrieben, der Nachzug an das Vorliegen von „humanitären Gründen“ gekoppelt und eigene Ausschlussgründe nur für diese Personengruppe geschaffen, insbesondere die Eheschließung nach der Flucht aus dem Herkunftsland.

„Im ersten Halbjahr 2022 wurden nur ca. 3.500 statt der vorgesehenen 6.000 Visa zum Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten erteilt. Der „Flaschenhals“ liegt bei den deutschen Auslandsvertretungen.“

Nach der Gesetzesänderung zeigte sich bald, dass die monatlichen 1.000er-Kontingente bis auf wenige Monate zu Beginn des Jahres 2019 nie ausgeschöpft wurden – und das zu diesem Zweck extra zur Fallauswahl ins Verfahren eingebundene Bundesverwaltungsamt nicht ein Mal eine Auswahlentscheidung aufgrund der im Gesetz vorgesehenen Kriterien „humanitäre Gründe“ und „Integrationsaspekte“ treffen musste bzw. konnte. So wurden im ersten Halbjahr 2022 nur ca. 3.500 statt der vorgesehenen 6.000 Visa zum Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten erteilt. Der „Flaschenhals“ liegt bei den deutschen Auslandsvertretungen, da die betroffenen Familien nach der Terminregistrierung meist lange warten müssen, bis sie zum Vorsprachetermin eingeladen werden und den Visumsantrag stellen können.

Bereits im März 2021 kam ein Rechtsgutachten der Menschenrechtsorganisationen Pro Asyl und Jumen e.V. zum Ergebnis, die Regelung des Paragrafen 36a Aufenthaltsgesetz sei in vielerlei Hinsicht praktisch problematisch und nicht mit grundrechtlichen und völkerrechtlichen Vorgaben vereinbar. Dementsprechend forderte zum Weltkindertag im September 2022 ein Netzwerk von mehr als 20 zivilgesellschaftlichen Organisationen und Verbänden die Abschaffung der Sonderregelung und die Gleichstellung subsidiär Schutzberechtiger mit anerkannten Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), wie sie im Koalitionsvertrag bereits angekündigt wurde.

Um das Versprechen, subsidiär Schutzberechtigte mit anerkannten Flüchtlingen in Bezug auf das Recht auf Familiennachzug wieder gleichzustellen, tatsächlich einzulösen, sollte Deutschland außerdem von seiner Möglichkeit Gebrauch machen, die EU-Familienzusammenführungs-Richtlinie für subsidiär Schutzberechtigte für anwendbar zu erklären. Hintergrund ist, dass am 1. August 2022 der Europäischen Gerichtshof eine wichtige Entscheidung getroffen hat, die das Recht von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten auf Elternnachzug gestärkt hat, weil sie klargestellt hat, dass dieses Recht auch dann bestehen bleibt, wenn die Jugendlichen während des Asylverfahrens volljährig werden.

Diese Rechtsprechung basiert auf der EU-Familienzusammenführungs-Richtlinie, die die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familiennachzug (unter anderem) für anerkannte Flüchtlinge festlegt. Für subsidiär Schutzberechtigte gilt sie nur dann, wenn der jeweilige Staat dies in seinem nationalen Recht ausdrücklich erklärt – was Deutschland, anders als z.B. die Niederlande, bisher nicht getan hat. Daher gibt es nun auch hier eine Ungleichbehandlung: Unbegleitete Minderjährige mit Flüchtlingsstatus behalten ihr Recht auf Elternnachzug auch über ihren 18. Geburtstag hinaus, solche mit subsidiärem Schutzstatus hingegen verlieren ihr Recht auf Elternnachzug mit ihrem 18. Geburtstag. Um dieser ungerechtfertigten Ungleichbehandlung entgegenzuwirken, braucht es also auch hier eine gesetzliche Klar- und Gleichstellung.

Koalitionsvertrag:Wir werden beim berechtigten Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen die minderjährigen Geschwister nicht zurücklassen.“ (S. 140)

Grundsätzlich ermöglichen die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten, ihre sogenannte „Kernfamilie“ nachzuholen – also verheiratete Ehepartner:innen, minderjährige Kinder sowie, im Fall von unbegleiteten minderjährigen Schutzberechtigten, die Eltern. Für die minderjährigen Geschwister von unbegleiteten minderjährigen Schutzberechtigten hingegen fehlt eine eigenständige Rechtsgrundlage für den Nachzug, obwohl auch sie zur „Kernfamilie“ gehören. Über eine rechtliche Hilfskonstruktion – die Kinder ziehen nicht direkt zur Schwester oder zum Bruder in Deutschland nach, sondern mit einem Visum zum Kindernachzug zu ihren Eltern, die ja ein Recht auf Nachzug zu ihrem Kind haben – ist zwar ein Nachzug theoretisch möglich. In der Praxis aber scheitert dieser Weg in vielen Fällen an einer rechtlichen Hürde, denn beim regulären Kindernachzug werden für die Visumserteilung die Sicherung des Lebensunterhaltes und ausreichender Wohnraum gefordert. Und natürlich sind unbegleitete Minderjährige in Deutschland in aller Regel nicht in der Lage, für sich und ihre nachziehenden Eltern und Geschwister durch Erwerbstätigkeit den kompletten Lebensunterhalt zu sichern und eine Wohnung zu mieten.

„Für die Kinder und ihre Eltern führt die derzeitige Rechtslage also zunächst nicht zu einer Familienzusammenführung, sondern zu einer fortgesetzten Familientrennung in anderer Konstellation.“

Das führt zur Situation, dass häufig die Eltern von in Deutschland lebenden minderjährigen Schutzberechtigten Visa bekommen und zu ihrem Kind nachziehen können, die Geschwister jedoch nicht. Ein Nachzug ist letztendlich oft verzögert möglich, indem die nachgezogenen Eltern nach Ankunft in Deutschland einen Asylantrag stellen und dann aufgrund einer gesetzlichen Regelung im Asylgesetz („Familienschutz“) den gleichen Schutzstatus erhalten wie ihr minderjähriges Kind, mit dem sie wiederum ihre Kinder auch ohne Wohnraum und Lebensunterhaltsicherung nachholen können. Für die Kinder und ihre Eltern führt die derzeitige Rechtslage also zunächst nicht zu einer Familienzusammenführung, sondern zu einer fortgesetzten Familientrennung in anderer Konstellation – und damit zu einer unerträglichen Belastung.

Kein Wunder, dass daher Kinderrechts- und Menschenrechtsorganisationen seit Jahren fordern, das Aufenthaltsgesetz zu ändern und eine Rechtsgrundlage für den direkten Nachzug der „vergessenen Kinder“ zu ihren Geschwistern in Deutschland zu schaffen. Während diese Forderungen in der Großen Koalition komplett auf taube Ohren stießen, hat die „Ampel“-Koalition nun immerhin in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, Geschwisterkinder künftig nicht mehr zurückzulassen. Es wird höchste Zeit, dieses Versprechen einzulösen. Einen konkreten Vorschlag hierfür hat zum Beispiel Sophia Eckert, rechtspolitische Referentin bei der NGO terre des hommes Deutschland formuliert2: Es müsste lediglich die Regelung, auf der der Rechtsanspruch der Eltern auf Nachzug zu ihrem in Deutschland lebenden Kind basiert3, um die Geschwister ergänzt werden.

Koalitionsvertrag:Zum Ehepartner oder zur Ehepartnerin nachziehende Personen können den erforderlichen Sprachnachweis auch erst unverzüglich nach ihrer Ankunft erbringen.“ (S. 140)

„Die Bundesregierung begründete die Einführung der Sprachnachweispflicht damals mit der Prävention von „Zwangsehen“ und „Parallelgesellschaften“, de facto führt sie aber vor allem dazu, dass verheiratete Paare deutlich länger getrennt voneinander leben müssen.“

Seit 2007 müssen Personen, die zu ihrer Ehepartnerin oder ihrem Ehepartner nach Deutschland nachziehen wollen, der Auslandsvertretung ein Zertifikat einer bestandenen A1-Deutschprüfung vorlegen, um ein Visum zu erhalten. Lediglich anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte, die bereits im Herkunftsland zusammenlebten, sowie einige weitere Gruppen sind von dieser Voraussetzung ausgenommen. Die Regelung wurde vielfach kritisiert: Die Bundesregierung begründete die Einführung der Sprachnachweispflicht damals mit der Prävention von „Zwangsehen“ und „Parallelgesellschaften“, de facto führt sie aber vor allem dazu, dass verheiratete Paare deutlich länger getrennt voneinander leben müssen. Sie diskriminiert Menschen in Orten, wo es keine Deutschkurse gibt und jene mit wenig Geld und schwierigeren Lernvoraussetzungen, wie z.B. Analphabet:innen.

Nach Zahlen der Bundesregierung fiel 2021 rund ein Drittel der nachzugswilligen Ehegatt:innen, die die geforderte Prüfung „Start Deutsch 1“ bei einem Goethe-Institut im Ausland machten, durch den Test und erhielt aus diesem Grund kein Visum – obwohl die deutsche Sprache sich in Deutschland natürlich sehr viel schneller und einfacher lernen ließe. Die Härtefallregelung, die das Gesetz enthält, wird vom Auswärtigen Amt nur restriktiv und selten angewandt.

Erschwerend hinzu kommen die begrenzten Kapazitäten in einigen Goethe-Instituten, wie z.B. jenem in Beirut, das die Anlaufstelle für die meisten syrischen Antragstellenden ist. Termine sind dort regelmäßig vollständig ausgebucht, sodass die nachzugswilligen Ehepartner:innen meist monatelang warten müssen, bevor sie das Glück haben, einen Prüfungstermin zu erhalten. Aus diesen Gründen erinnerte vor einigen Wochen der Verband binationaler Familien und Partnerschaften, unterstützt von zahlreichen weiteren Organisationen, die „Ampel“-Koalition an ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag und forderten sie auf, den Sprachnachweis als Voraussetzung für den Ehegattennachzug aus dem Gesetz zu streichen.

Koalitionsvertrag: „Wir werden ein humanitäres Aufnahmeprogramm des Bundes in Anlehnung an die bisher im Zuge des Syrien-Krieges durchgeführten Programme verstetigen und diese jetzt für Afghanistan nutzen.“ (S. 142)

Mehr als ein Jahr hat es nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gedauert, bis nun im Oktober das lange angekündigte Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Personen aus Afghanistan zumindest der Öffentlichkeit bekannt gegeben worden, wenn auch offenbar noch nicht gestartet ist, über das monatlich 1.000 Personen aufgenommen werden sollen. Es richtet sich vor allem an besonders vulnerable Personengruppen und Personen, die sich z.B. durch Einsatz für Frauen-/Menschenrechte oder durch andere Tätigkeiten besonders exponiert haben und deswegen individuell gefährdet sind.

Für die afghanischen Geflüchteten in Deutschland, die häufig in großer Angst und Sorge um ihre Familienangehörigen in Afghanistan sind, verband sich mit dem Aufnahmeprogramm viel Hoffnung. Die Bilanz nach den ersten sechs Wochen ist jedoch ernüchternd. Den Menschen wird kein Weg aufgezeigt, wie sie die besondere Gefährdungslage ihrer Angehörigen geltend machen und die Aufnahme ihrer Angehörigen bei den hierfür eigentlich zuständigen Behörden beantragen können.

„Für die große Mehrheit der afghanischen Geflüchteten, die besonders gefährdete Angehörige in Afghanistan haben, gibt es daher bislang faktisch keinen Zugang zur Antragstellung bzw. „Bewerbung“.“

Die Vorauswahl wurde an zivilgesellschaftliche Organisationen mit Afghanistan-Bezug, sogenannte „meldeberechtigte Stellen“, ausgelagert. Sie sollen die Fälle über einen umfangreichen Online-Fragenkatalog an eine Koordinierungsstelle melden, die dann offenbar die Auswahl der monatlich 1.000 aufzunehmenden Personen treffen soll. Viele Details sind noch völlig intransparent und unklar, so wurde zum Beispiel die Aufnahmeanordnung noch nicht veröffentlicht. Auch welche Organisationen „meldeberechtigte Stellen“ sind, wurde bislang nicht veröffentlicht, und die involvierten Stellen arbeiten offenbar zunächst die bei ihnen bereits angebundenen Fälle ab. Für die große Mehrheit der afghanischen Geflüchteten, die besonders gefährdete Angehörige in Afghanistan haben, gibt es daher bislang faktisch keinen Zugang zur Antragstellung bzw. „Bewerbung“.

Problematisch ist zudem, dass Personen, die nach der Machtübernahme der Taliban bereits aus Angst vor Verfolgung aus Afghanistan geflohen sind und seitdem unter prekären Verhältnissen in einem Nachbarstaat leben, vom Programm ausgeschlossen sind. Um ein Visum zu erhalten, müssten die ausgewählten Personen nach einer Aufnahmezusage es dann aber irgendwie schaffen, aus Afghanistan aus- und in ein Nachbarland einzureisen, um bei der dortigen deutschen Auslandsvertretung ein Visum zu erhalten. Und für diese Reise werden wiederum regelmäßig ein Visum für das Nachbarland und ein Reisepass benötigt, den Personen, denen Verfolgung durch die Taliban droht, kaum gefahrlos beantragen können. Aus diesen verschiedenen Gründen steht zu befürchten, dass der Zugang zum Aufnahmeprogramm für die gefährdeten Zielgruppenpersonen hürdenreich bleiben wird. Involvierte Organisationen, wie Kabul Luftbrücke oder Reporter ohne Grenzen, kritisieren das Programm in seiner bis jetzt geplanten Form.

Außerdem ist kritisch anzumerken, dass Initiativen von mehreren Bundesländern, die wenige Monate nach der Machtübernahme der Taliban Landesaufnahmeprogramme zur schnellen, unbürokratischen Aufnahme von Familienangehörigen und/oder gefährdeten Personen an den Start bringen wollten, vom Bundesinnenministerium ausgebremst wurden: Es verweigerte seine Zustimmung, weil es zunächst den Start des Bundesaufnahmeprogramms abwarten wollte – und das dauerte bekanntlich. Auch hier standen langsam mahlende Mühlen im zuständigen Bundesministerium der akuten Not und Verzweiflung der Geflüchteten in Sorge um ihre gefährdeten Familienangehörigen gegenüber.

Mittlerweile gab es offenbar grünes Licht für das Landesaufnahmeprogramm in Thüringen – in Berlin und Bremen drohen die Vorhaben jedoch schon wieder auf die lange Bank geschoben oder gar ganz in Frage gestellt zu werden. Aufgrund ihres geringen Umfangs und/oder hohen Hürden werden die Landesaufnahmeprogramme absehbar nur einer kleinen Zahl an afghanischen Geflüchteten die Möglichkeit zur Aufnahme von Angehörigen bieten, aber für manche Politiker:innen scheint das auszureichen, um auf deren Rücken Ängste und xenophobe Vorbehalte zu schüren.

Was fehlt

Der Koalitionsvertrag verspricht wie dargestellt wichtige Verbesserungen, die schnellstmöglich in die Praxis umgesetzt werden sollten. Aber längst nicht alle Forderungen nach dem Abbau von Hürden bei der Familienzusammenführung wurden von den „Ampel“-Koalitionär:innen berücksichtigt. So forderten vor einem Jahr Initiativen von Geflüchteten aus Afghanistan und Eritrea und ihre Unterstützer:innen unter anderem, das enge Familienkonzept im deutschen Aufenthaltsrecht an familiäre Lebensrealitäten anzupassen und die bislang extrem hohen Hürden für den Nachzug von „sonstigen Familienangehörigen“ außerhalb der sogenannten „Kernfamilie“, etwa von volljährigen Kindern, Geschwistern oder Eltern, zu senken.

„Der Bedarf an Verbesserungen und Erleichterungen beim Familiennachzug zu Geflüchteten geht also über die Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag hinaus.“

Außerdem forderten sie die Erleichterung des Familiennachzugs zu Menschen, bei denen ein Abschiebungsverbot festgestellt wurde, etwa weil ihnen nach einer Abschiebung eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit oder eine anderweitige Menschenrechtsverletzung drohen würde. Das betrifft nach aktueller Asylstatistik des Bundesamtes weiterhin mehrheitlich Asylsuchende aus Afghanistan. Obwohl auch in diesen Fällen behördlich festgestellt wurde, dass die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist, ist der Familiennachzug mit einem Abschiebungsverbot nur unter eingeschränkten Bedingungen möglich: Ehepartner:innen oder minderjährigen Kindern wird ein Nachzug nur „aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen“ 4 und mit ausreichendem Wohnraum, Lebensunterhaltsicherung und (beim Ehegattennachzug) A1-Deutschkenntnissen gewährt. Für den Elternnachzug zu unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten mit Abschiebungsverbot fehlt – abgesehen von der erwähnten extrem restriktiven Härtefallregelung für den Nachzug „sonstiger Familienangehöriger“ 5 – eine rechtliche Grundlage ganz. Der Bedarf an Verbesserungen und Erleichterungen beim Familiennachzug zu Geflüchteten geht also über die Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag hinaus.

  1. Asylmagazin 9/2022
  2. Asylmagazin 9/2022
  3. § 36 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz
  4. § 29 Absatz 3 Aufenthaltsgesetz
  5. § 36 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz
Leitartikel Politik
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