Anja Seuthe, Muslime, Islam, Religion, Kopftuch
Anja Seuthe © privat, Zeichnung MiGAZIN

Was falsch läuft

Niedersachsensurvey bringt Neuntklässler auf Ideen

Der Niedersachsensurvey des Kriminologischen Forschungsinstituts und „Bild“ machen wieder einmal Schlagzeilen – natürlich mit Muslimen. Dabei gibt es viel interessantere Punkte. Gucken wir einmal rein.

Von Sonntag, 28.04.2024, 11:54 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 28.04.2024, 11:54 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Haben Sie gelesen, dass ganze zwei Drittel der muslimischen Schüler in Deutschland sagen: „Die Regeln des Korans sind mir wichtiger als die Gesetze in Deutschland“? Das Boulevardblatt „Bild“ macht eine große Schlagzeile daraus und berichtet vom Entsetzen der Politiker, wie CDU-Innenexperte Christoph de Vries, der Multi-Kulti nun endgültig für gescheitert hält, und Schleswig-Holsteins Schulministerin und CDU-Bundesvize Karin Prien, die gar den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet sieht. Und der Lehrer-Präsident Stefan Düll konstatiert: „Da gilt null Toleranz.“

Aber auch andere Zeitungen beschäftigen sich mit den „schockierenden“ Erkenntnissen, dass zum Beispiel jeder zweite muslimische Schüler findet, nur der Islam sei in der Lage, die Probleme unserer Zeit zu lösen. Wächst bei uns gerade eine neue Generation von radikalen Muslimen heran? Das ist die Frage, die nun überall gestellt wird. Und vermutlich auch in die Politik einfließen wird.

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Die Frage, die nicht gestellt wird, ist, wo kommen diese Zahlen überhaupt her? Nun, die kommen aus dem Niedersachsensurvey 2022 des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN). Das klingt seriös. Ist es auch. Denn selbst bei „Bild“ steht, dass die Stichprobe aus nur rund 300 muslimischen Schülern bestand. Damit ist die Untersuchung nicht repräsentativ und kann nicht auf alle muslimischen Schüler in Niedersachsen oder gar Deutschland übertragen werden. Das haben Sie nicht gelesen? Nun, letzteres war auch im Kleingedruckten. Also wirklich, im ganz, ganz Kleingedruckten. In einer Fußnote unter einer Abbildung.

„Im Test selbst erfahren wir, dass nur 308 muslimische Neuntklässler diesen Teil des Fragebogens bearbeitet haben. 308. Von denen nicht einmal alle, alle Fragen beantwortet haben.“

Wenn man in den Forschungsbericht 169 des KFN selbst hineinliest, sieht man diese Info groß in einem Schaukasten zu Beginn des Abschnittes über „Islamismus“. Im Test selbst erfahren wir, dass nur 308 muslimische Neuntklässler diesen Teil des Fragebogens bearbeitet haben. 308. Von denen nicht einmal alle, alle Fragen beantwortet haben. Neuntklässler. Die in der Schulklasse einen Fragebogen ausgefüllt haben, der mehr als 30 Seiten hat. Die Fragen zum Islam stehen dabei im letzten Teil.

Erinnern Sie sich noch, wie das in der neunten Klasse so war? Dann sollte es Sie nicht wundern, dass die Wissenschaftler festhalten, dass es in 85,7 Prozent der teilnehmenden Schulklassen zu „geringen Disziplinproblemen“ kam. Je nach Schulform liegt die Zahl auch noch darüber. In gut 40 Prozent der Klassen gab es „besondere Vorkommnisse“, wie zum Beispiel einen Computerabsturz, weshalb die Befragung neu begonnen werden musste. Eigens vom KFN eingesetzte Beobachter schätzen aber, dass trotzdem 92,4 Prozent der Schüler die Befragung ernst genommen haben. Die anderen haben während der Erhebung gequatscht, gelacht, hatten sichtlich keine Lust oder haben den Fragebogen recht schnell wieder abgegeben. Aber auch das ist wohl zu erwarten bei Neuntklässlern.

„Tatsächlich hat nicht einmal die Hälfte der vom Forscherteam ausgewählten und angefragten Schulklassen überhaupt an der Befragung teilgenommen.“

Für wie sinnvoll Schulleiter diese Art der Befragung halten, zeigt sich an den Teilnahmerzahlen. Tatsächlich hat nicht einmal die Hälfte der vom Forscherteam ausgewählten und angefragten Schulklassen überhaupt an der Befragung teilgenommen. Dabei wurde bei 44,7 Prozent noch nicht einmal ein Grund für die Absage angegeben. Zu den genannten Absagegründen gehörten neben organisatorischen und zeitlichen Problemen auch Corona und der Ukrainekrieg.

Aber kommen wir mal weg von der Methodik und hin zum Inhalt. Während sich die ersten Seiten des Fragebogens mit den persönlichen Erfahrungen der Schüler mit Kriminalität beschäftigen, sei es als Täter oder als Opfer, geht es weiter hinten um vermutete Ursachen für Jugendkriminalität, also beispielsweise Alkohol- und Drogenkonsum, Gewalterfahrungen im Elternhaus und eben auch extremistische Einstellungen. Um diese abzufragen, wurden den Schülern Aussagen vorgelegt, wo sie anhand einer Skala ankreuzen konnten, inwieweit sie der Aussage zustimmen oder nicht. Dabei gab es verschiedene Abstufungen. Die Aussagen überschneiden sich zum Teil.

„Die Regeln des Korans sind mir wichtiger als die Gesetze in Deutschland.“ 67,8 Prozent Zustimmung. 208 Schüler. „Die deutsche Gesellschaft sollte stärker nach islamischen Regeln gestaltet werden.“ 36,5 Prozent Zustimmung. 112 Schüler. So ganz konkret möchte man offenbar doch nichts ändern. Braucht man ja auch nicht. Das, was man an Islam praktiziert, ist ja problemlos innerhalb des deutschen Rechts und innerhalb der deutschen Gesellschaft machbar. Offensichtlich schränkt das deutsche Gesetz die Befolgung der koranischen Vorschriften gar nicht ein. Es gibt keine Konkurrenz der Regeln, anders als die erste Aussage suggeriert.

„Die Aussagen spiegeln generell eher die gesellschaftlichen Erwartungen wider als die Lebenswelt unserer niedersächsischen Schüler.“

Die Aussagen spiegeln generell eher die gesellschaftlichen Erwartungen wider als die Lebenswelt unserer niedersächsischen Schüler. Denn den Forschern geht es hauptsächlich um politische Einstellungen. „Ein islamischer Gottesstaat ist die beste Staatsform.“ 45,8 Prozent Zustimmung. 141 Schüler. „Einen religiösen Führer, der von einem Rat unterstützt wird, finde ich besser als das demokratische System in Deutschland.“ 30,2 Prozent Zustimmung. 93 Schüler. Wie sich die Differenz von 48 Schülern den Gottesstaat denn sonst so vorstellt? Nun, vermutlich gar nicht. Politik ist eben nicht jedermanns Sache. Wenn man sich die Zahlen zum Alkoholkonsum und illegalem Download von Musik ansieht, dann haben die Jugendlichen offenbar anderes zu tun, als sich mit Staatsmodellen auseinanderzusetzen.

Interessant, aber unerwähnt, sind auch andere Aussagen aus dem Fragebogen, die mehr als 8.000 Schüler bewerten sollten, zum Beispiel zum Rechtsextremismus. „Durch die vielen muslimischen Personen hier fühle ich mich manchmal wie ein:e Fremde:r im eigenen Land.“ „Muslimischen Personen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden.“ „Muslimischen Personen sollte jede Form der Religionsausübung in Deutschland untersagt werden.“ Oder „Die meisten Geflüchteten begehen in Deutschland Straftaten.“ „Man sollte den in Deutschland lebenden Ausländer:innen jede politische Betätigung untersagen.“ Und so weiter. Die Liste ist lang.

„Warum genau bringt man Neuntklässler auf solche Ideen? Klar soll ein Meinungsbild erfasst werden, aber diese Fragen machen doch was mit den Jugendlichen.“

Warum genau bringt man Neuntklässler auf solche Ideen? Klar soll ein Meinungsbild erfasst werden, aber diese Fragen machen doch was mit den Jugendlichen. Warum werden Muslime hervorgehoben? Warum Ausländer, Geflüchtete, Juden, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, Obdachlose und Hartz-IV-Empfänger? Der Fragebogen des KFN enthält zu all diesen Gruppen vergleichbare Aussagen. Da muss doch jedem Schüler klar werden, wer bei uns als nicht dazugehörig empfunden wird. Oder? Selbst den Schülern, die selbst einer oder mehreren dieser Gruppen angehören.

Die Zustimmung zu diesen Aussagen war übrigens in 2019 deutlich höher als bei der Befragung im Jahr 2022. Damals stimmten beispielsweise 25,2 Prozent der befragten Schüler der Aussage zu: „Ich hätte Probleme, in eine Gegend zu ziehen, in der viele muslimische Personen leben.“ Dieses Mal waren es nur noch 14,5 Prozent. Das klingt wenig, aber wenn man von der Gesamtheit der Befragten ausgeht, handelt es sich hier immer noch um etwa 1.150 Schüler, die offenbar nicht viel von muslimischen Nachbarn halten. Durch die vielen muslimischen Personen fremd im eigenen Land fühlen sich gar gut 1.300 Schüler.

„160 Schüler haben Muslime beleidigt und 52 Muslime mit Worten bedroht, 19 gar mit einer Waffe, nur weil sie Muslime sind. Was läuft da falsch?“

Diese Einstellungen spiegeln sich auch im Verhalten wider. Es kamen einige bejahende Antworten auf die Frage „Hast du in den letzten 12 Monaten einer Person, die folgenden Dinge angetan, allein deswegen, weil sie eine Behinderung hat, homosexuell, obdachlos, eine ausländische Herkunft hat oder einer bestimmten Religion angehört?“ Neben den anderen Minderheitengruppen sind hier auch Muslime als Opfer betroffen. So gaben beispielsweise 80 Schüler an, jemanden geschlagen oder verletzt zu haben, weil er Ausländer oder Migrant war. 56 haben ein von Ausländern oder Migranten bewohntes Haus beschädigt. 160 Schüler haben Muslime beleidigt und 52 Muslime mit Worten bedroht, 19 gar mit einer Waffe, nur weil sie Muslime sind. Was läuft da falsch?

Es gibt viele Fragen, die Journalisten zum Niedersachsensurvey 2022 stellen könnten. Ganz abgesehen davon, dass auch die Daten zur Jugendkriminalität jede Menge interessanten Stoff hergeben. Schlagzeilen macht aber nur das, was bestimmte Menschen in Deutschland lesen wollen. Egal, wie wenig aussagekräftig die Daten eigentlich sind. Meinung

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