Endloses Warten
Familiennachzug zu subsidiär Geschützten: Regierung erreicht selbstgesteckte Ziele nicht
Seit August 2018 gibt es wieder ein Gesetz, nach dem Familienangehörige von Geflüchteten mit subsidiärem Schutzstatus einen Antrag auf Familiennachzug stellen können. Das Gesetz sieht vor, dass monatlich 1.000 Angehörige ein Visum erhalten können. Aktuelle Zahlen zeigen, dass die Bundesregierung ihre eigenen Ansprüche nicht erfüllt.
Von Sebastian Muy Donnerstag, 14.11.2019, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 17.11.2019, 18:04 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Am 1. August 2018 trat das ‚Familiennachzugsneuregelungsgesetz‘ in Kraft. Seitdem können enge Familienangehörige von Geflüchteten, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, wieder einen Antrag auf Familiennachzug stellen. Zuvor war die Möglichkeit des Familiennachzugs zu dieser Gruppe von Geflüchteten, die mehrheitlich aus Syrien kommen, für insgesamt 28,5 Monate ausgesetzt worden. Nun gibt es also seit mehr als fünzehn Monaten wieder eine Rechtsgrundlage für den Familiennachzug: § 36a des Aufenthaltsgesetzes.
Mit diesem Gesetz wurde jedoch nicht der bis März 2016 geltende Rechtsanspruch subsidiär Schutzberechtigter auf Familiennachzug wieder hergestellt, sondern es wurde eine Kontingentregelung eingeführt: Monatlich sollen maximal 1.000 Familienangehörige ein Visum erhalten können, „aus humanitären Gründen“.
Das Gesetz listet vier Fallkonstellationen auf, in denen ein humanitärer Grund vorliegt: wenn die Herstellung des Familienlebens seit langer Zeit nicht möglich ist, wenn ein minderjähriges Kind betroffen ist, wenn das Leben eines Familienmitglieds im Ausland ernsthaft gefährdet ist oder wenn ein Familienmitglied schwer krank, behindert oder pflegebedürftig ist. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien sowie von „Integrationsaspekten“ sollen unter den Familienangehörigen von subsidiär Schutzberechtigten monatlich 1.000 Personen ausgewählt werden und ein Visum erhalten. Andere müssen warten.
Kompliziertes Auswahlverfahren
Für die Umsetzung des neuen Gesetzes entwarf die Bundesregierung ein aufwändiges Verfahren unter Beteiligung der Auslandsvertretungen, der Ausländerbehörden und des Bundesverwaltungsamtes. Die deutschen Auslandsvertretungen nehmen die Anträge entgegen und prüfen, unter Beteiligung der Ausländerbehörden, das Vorliegen humanitärer Gründe, positive und negative Integrationsaspekte sowie Ausschlussgründe. Wenn die Voraussetzungen für die Visumserteilung grundsätzlich gegeben sind, übermittelt die Auslandsvertretung die Anträge an das Bundesverwaltungsamt. Dort wird dann entschieden, welche Familienangehörigen zu den 1.000 monatlich Nachzugsberechtigten gehören, denen die jeweilige Auslandsvertretung dann ein Visum erteilt.
In einer Verwaltungsvereinbarung zwischen Bundesinnenministerium (BMI) und Auswärtigem Amt vom August 2018 heißt es, dass zur Auswahl der 1.000 Personen insbesondere Familien mit Kindern unter 14 Jahren sowie Familien, die seit langer Zeit getrennt sind, bevorzugt werden sollen, wenn mehr als 1.000 entscheidungsreife Anträge, bei denen mindestens ein „humanitärer Grund“ besteht, vorliegen.
Gegen die Einführung des Gesetzes gab es Proteste von subsidiär schutzberechtigten Geflüchteten und ihren Unterstützern: Angesichts von mehreren zehntausend Familienangehörigen, die wegen der Aussetzungsentscheidung der Bundesregierung bereits seit sehr langer Zeit von ihren Angehörigen in Deutschland getrennt leben mussten, war ihnen klar: Humanitäre Fälle sind sie alle, aber das neue Gesetz wird nur einigen wenigen eine Chance auf baldigen Familiennachzug eröffnen, für die meisten jedoch bedeutet es weiter warten in Unsicherheit.
Jetzt, fast 16 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes, wird immer klarer: Die Bundesregierung hält sich nicht einmal an die selbst gesetzten Ziele. Dies geht aus aktuellen Zahlen hervor, die sie in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion Ende Oktober veröffentlichte.
Monatskontingente nicht ausgeschöpft
In den ersten fünf Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes im August 2018 wurden statt der vorgesehenen 5.000 Visa nur 2.612 Visa erteilt. Die zwischenzeitlich von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Übertragung nicht ausgeschöpfter Kontingentplätze auf 2019 fand nicht statt – rund 2.400 Kontingentplätze sind damit verfallen. Dachte man zunächst, es handele sich hierbei um Startschwierigkeiten, scheinen sich die Zahlen der erteilten Visa nun deutlich unter der monatlichen 1.000er-Obergrenze einzupendeln: Während von Januar bis Mai 2019 noch tatsächlich jeweils rund 1.000 Visa nach § 36a erteilt wurden, wurden im Juni nur noch 804, im August 793 und im September 764 Visa erteilt.
Das Bundesverwaltungsamt konnte bislang keine Auswahlentscheidung anhand der beschriebenen humanitären Kriterien treffen. Mehr als 15 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes wenden die Behörden immer noch eine „Übergangsregelung“ aus der Vereinbarung zwischen Auswärtigem Amt und BMI an. Danach erfolgt die Bearbeitung der Anträge beim Bundesverwaltungsamt „nach Antragseingang“, wenn dort insgesamt nicht mehr als 3.000 entscheidungsreife Anträge vorliegen.
Das heißt: De facto erhalten diejenigen Familienangehörigen ein Visum, die sehr früh einen Termin bei einer deutschen Auslandsvertretung gebucht haben und daher schnell einen Antrag stellen konnten. Ein humanitärer Grund im Sinne des Gesetzes dürfte in fast allen Fällen vorliegen – z. B. weil ein minderjähriges Kind betroffen ist oder weil ein Ehepaar schon seit mehr als zwei Jahren voneinander getrennt leben muss – so dass Ablehnungen aus diesem Grund sehr selten sein dürften. Darüber hinaus spielen Dringlichkeits- wie auch Integrationsaspekte jedoch de facto überhaupt keine Rolle.
Den Zahlen zufolge liegt das Problem nicht beim Bundesverwaltungsamt, dem regelmäßig weniger als 1.000 Anträge vorgelegt werden. Bei vielen Ausländerbehörden hingegen scheinen die Prüfungen zu lange zu dauern. Aber das große Problem bei der Umsetzung des Gesetzes liegt beim Auswärtigen Amt: Von den Auslandsvertretungen werden monatlich nur knapp über 1.000 Anträge ins Verfahren gegeben – mit der Folge, dass das Bundesverwaltungsamt lediglich nach Eingang der Anträge durchwinkt und am Ende deutlich unter 1.000 Visa im Monat erteilt werden.
Lange Wartezeiten bei den Botschaften
Der „Flaschenhals“ liegt bei den deutschen Auslandsvertretungen. Um einen Antrag stellen zu können, müssen die Familienangehörigen zunächst einen Termin bei einer deutschen Auslandsvertretung buchen. Nach Erfahrungen von Beratungsstellen dauert es nach der Terminbuchung mehr als ein Jahr, bis die Angehörigen zu einem Vorsprachetermin eingeladen werden. Die Bundesregierung erklärt hierzu, die Wartezeiten würden „statistisch nicht erfasst“, die Zahl der monatlich vergebenen Vorsprachetermine „hängt von den Annahme- und Bearbeitungskapazitäten der jeweils zuständigen Auslandsvertretungen ab und variiert entsprechend“. Dass jedoch auch Annahme- und Bearbeitungskapazitäten durch politische Entscheidungen reguliert werden können, erwähnt die Regierung nicht.
So zeigen offizielle Zahlen, dass in den Jahren 2016 und 2017 die Kapazitäten bei den Auslandsvertretungen es erlaubten, jährlich jeweils mehr als doppelt so viele Familiennachzugsvisa auszustellen als von Mitte 2018 bis Mitte 2019. In der erwähnten Verwaltungsvereinbarung heißt es, das Auswärtige Amt stelle sicher, dass bei den Auslandsvertretungen „die notwendigen Ressourcen für die Erfüllung des gesetzlichen Auftrages zur Verfügung stehen“. Den aktuellen Zahlen zufolge warten jedoch ca. 20.000 Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten noch immer auf einen Termin zur Antragstellung.
Die Befürchtungen von Geflüchteten und Menschenrechtsorganisationen in Bezug auf die Neuregelung des Familiennachzugs werden durch den Stand der Umsetzung also noch übertroffen: Die Bundesregierung unterschreitet mehr als ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes deutlich die vorgesehene Zahl von 1.000 Visaerteilungen pro Monat. Diejenigen, die ein Visum erhalten, haben das Glück, früh einen Termin gebucht zu haben – „humanitäre Gründe“ spielen de facto eine absolut nachrangige Rolle.
Das SPD-geführte Auswärtige Amt ist durch lange Wartezeiten und verknappte Vorsprachetermine hierfür hauptverantwortlich. Trotzdem erklärt die Bundesregierung in ihrer Antwort lapidar, die Umsetzung sei „nach Einschätzung der beteiligten Ressorts erfolgreich“. Das mag dann stimmen, wenn man unter „Erfolg“ versteht, dass die Familiennachzugszahlen sogar unter der gesetzlich definierten monatlichen Obergrenze bleiben, und das ohne möglicherweise aufwändigere Auswahl- und Abwägungsentscheidungen. Aber für die Geflüchteten und ihre Familien, die nach mehrjähriger politisch forcierter Trennung noch immer auf ihre Zusammenführung warten müssen, kann von einer erfolgreichen Umsetzung keine Rede sein. Aktuell Meinung
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Der Artikel geht von dem Ziel = 1.000 erteilte Visa aus. So gesehen hätte der Gesetzgeber sein Ziel verfehlt. Tatsächlich handelt es sich aber nicht um ein Ziel, sondern eine monatliche Obergrenze. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Bereits die Überschrift zu diesem Artikel ist daher falsch.
@Matthias
Soll aber die Obergrenze von 1000 unterschritten werden, wenn der Bedarf offensichtlich da ist und der Gesetzgeber die Grenze als Ziel setzt? Durch Verwaltungshandeln dann weniger Leute in das Land zu lassen, die offensichtlich berechtigt wären, kann ja dann auch nicht als Ziel (des Gesetzgebers) gesehen werden?
Interessant wird auch hier die Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, wo bestimmte Personen(gruppen) dann noch auf die eh schon häufig viel zu knapp bemessenen Ressourcen der deutschen Auslandsvertretungen prioritär Zugriff bekommen.
Führt dies zu einer weiteren Verschlechterung der humanitären Lage? Schön wäre, wenn dies ggf. schon im Vorfeld beachtet und die Sorgendazu zerstreut werden würden, aber dies erscheint leider unrealistisch…
@ochljuff: Nö, warum sollte diese Grenze als Ziel unterschritten werden?
Es fehlen schlichtweg die Menschen bei den deutschen Auslandsvertretungen, die Termine abarbeiten können. Dieses Personal bekommt man leider nicht mehr so schnell.
Ob das Fachkräfteeinwanderungsgesetz zu der Verschlechterung der humanitären Lage führt? Das hängt wohl davon ab, aus welchem Land die Fachkräfte kommen.