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Volkswagen © de.depositphotos.com

VW-Vertreter vor Gericht

Ermittlungen wegen Sklaverei auf „Musterfarm“ in Brasilien

Der Sänger Chico Buarque schrieb schon in den 70er Jahren über Ausbeutung von Mensch und Umwelt auf der Mega-Farm im brasilianischen Amazonasgebiet. Zwölf Jahre gehörte sie dem Volkswagen-Konzern. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Von Montag, 06.06.2022, 19:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 06.06.2022, 10:03 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Entwürdigende Strafen, Freiheitsberaubung und Schläge: Schon in den 1980er Jahren wird von „sklavenähnlichen Zuständen“ auf der angeblichen Musterfarm Rio Cristalino am Rande des Amazonas-Regenwaldes in Brasilien berichtet. Eigentümer der Rinderfarm ist von 1974 bis 1986 der Volkswagen-Konzern. Jetzt gibt es nach neuen Recherchen über Misshandlungen von Arbeitern eine Untersuchung der brasilianischen Staatsanwaltschaft.

„Diejenigen, die zu fliehen versuchten, wurden geschlagen, an Bäume gefesselt und tagelang dort gelassen“, berichtet Staatsanwalt Rafael García Rodrigues, der nach eigener Aussage drei Jahre lang ermittelt hat. Er spricht in brasilianischen Medien von systematischen und schwerwiegenden Misshandlungen und Vergewaltigungen, die die Arbeiter erleiden mussten.

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Vier Ordner voller Fälle

Vertreter von Volkswagen sollen deshalb am 14. Juni vor dem Arbeitsgericht der Hauptstadt Brasília bei einer Anhörung aussagen. Dort könnte eine Entschädigung für die Opfer ausgehandelt werden. Ansonsten muss Volkswagen mit einem Strafverfahren rechnen. Der Konzern möchte mit Blick auf ein mögliches Verfahren nicht viel dazu sagen. „Wir können Ihnen aber versichern, dass wir die geschilderten Vorgänge auf der Fazenda Rio Cristalino sehr ernst nehmen“, sagte ein Sprecher. Zudem halte sich Volkswagen eng an die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen und trete weltweit gegen Zwangsarbeit ein.

Der Priester Ricardo Rezende, der ab dem Jahr 1978 für das Landpastoral der Brasilianischen Bischofskonferenz im Süden des Amazonas-Bundesstaates Pará tätig war, hat viele Fälle von Verbrechen gegen Beschäftigte dokumentiert. „Ich habe in den 1980er Jahren ein Archiv über Volkswagen zusammengestellt. Es sind vier Ordner mit mehr als 600 Seiten“, sagte er der Tageszeitung „Folha de São Paulo“. Er habe während dieser Zeit viele Geschichten über die Farm gehört, aber immer erst, wenn schon etwas passiert war. „Dann haben wir auf die Gelegenheit gewartet, um eine Anzeige zu erstatten.“

Verbrechen „wohl mit Wissen des VW-Vorstands“

Das geschah 1983, als er drei junge Männer kennenlernte, die von der Farm fliehen konnten. Sie hatten behauptet, zum Militärdienst zu müssen. Nur deshalb hätten die bewaffneten Wachen sie gehen lassen, sagt Rezende. In seinem Archiv gibt es auch Fotos und zahlreiche weitere Unterlagen, die belegen, dass die Menschen in Schuldknechtschaft gehalten und gezwungen wurden, ihren ganzen Lohn für überteuerte Lebensmittel auf der Farm auszugeben. Einige Menschen starben, weil es keine medizinische Versorgung gab. Auf Arbeiter wurde auch geschossen. Laut Recherchen von NDR, SWR und „Süddeutscher Zeitung“ geschahen die mutmaßlichen Verbrechen „wohl mit Wissen des VW-Vorstands in Wolfsburg“.

Die damals regierenden Militärs (1964 bis 1985) propagierten die Idee eines „großen Brasiliens“ und wollten im Amazonas expansive Landwirtschaft betreiben. Dazu lockten sie Investoren mit sattem Profit, Krediten und Steuerersparnissen. Zudem waren die Behörden weit weg und drückten bei Vergehen gegen Umweltschutz und Arbeitsrecht nur allzu oft beide Augen zu. Auf dieses Angebot ließ sich auch Volkswagen ein, der größte Autobauer in Brasilien.

Ausbeutung von Mensch, Tier und Umwelt

Die Farm Rio Cristalino am Rande des Amazons-Regenwaldes war mit rund 140.000 Quadratmetern so groß wie die Millionenmetropole São Paulo. Bis zu 86.000 Rinder sollten dort gezüchtet werden. Rund 300 Arbeiter waren angestellt. Hinzu kamen zahlreiche Tagelöhner und Leiharbeiter, die meist für Abholzungsarbeiten eingesetzt wurden. Es entstand eine der größten Farmen in ganz Brasilien und mit Campo Grande eine neue Ortschaft dazu.

Der damals schon bekannte Sänger Chico Buarque schrieb 1974 eine Novelle unter dem Titel „Fazenda Modelo“ („Modell-Farm“) über die Plantage, in der er die Ausbeutung von Mensch, Tier und Umwelt anprangert. Im selben Jahr stiegen riesige Rauchwolken aus dem brasilianischen Regenwald empor und wurden sogar von US-amerikanischen Satelliten aufgezeichnet.

Verheerende Bilanz der „VW-Musterfarm“

Volkswagen verkündete kurze Zeit später, 4.000 Hektar Amazonaswald seien in wenigen Monaten abgebrannt worden. Das Unternehmen beanspruchte damit für sich einen Rekord, „der bis heute von keinem anderen ähnlichen Projekt in der Region erreicht wurde“. Der Historiker Antoine Acker berichtet über diese Episode in seinem 2017 erschienenen Buch „Volkswagen in the Amazon: The Tragedy of Global Development in Modern Brazil“.

Die Bilanz der angeblichen VW-Musterfarm ist verheerend: großflächige Vernichtung des Regenwaldes, Menschenrechtsverletzungen und Anbiederei an die regierenden Militärs. 1986 verkaufte Volkswagen seine Farm, ohne dass es weitere juristische Untersuchungen gab – bis jetzt. (epd/mig) Ausland Leitartikel

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