Arif Ünal im Interview

„Migranten sollten geschlossen Ihre Rechte einfordern und die Politik in die Pflicht nehmen.“

Im Juni beschloss der Nordrhein-Westfälische Landtag die Bildung eines eigenständigen Integrationsausschusses. In ihrer konstituierenden Sitzung (5.7.2012) wurde Arif Ünal (Die Grünen) zum Vorsitzenden gewählt. MiGAZIN sprach mit ihm.

Von Freitag, 06.07.2012, 8:27 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 10.07.2012, 3:31 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

MiGAZIN: Erstmals wurde ein eigenständiger Integrationsausschuss mit Ihnen an der Spitze gebildet. Was bedeutet das für die Integrationspolitik? Was darf man erwarten?

Arif Ünal: Dieser essentiell wichtige Bereich erhält nun durch einen eigenständigen Ausschuss den Stellenwert, den er verdient. Bei allen politischen Reden wird Integration als Querschnittsaufgabe verstanden. Diese Tatsache wird jedoch bei der konkreten politischen Arbeit in allen anderen Politikfeldern kaum berücksichtigt. Deshalb ist es wichtig, einen Fachausschuss zu haben, indem für die Migrationspolitik Ideen entwickelt werden und diese anschließend in andere Politikfelder einfließen. Wir Grüne haben uns seit jeher für Chancengleichheit und Teilhabe für alle Menschen eingesetzt.Insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund wird dies nach wie vor erschwert. Wir verstehen Vielfalt als Mehrwert und nicht als Defizit. Mit diesem Fokus werde ich konstruktiv meine Arbeit in dem neuen Ausschuss aufnehmen, diese Stärken unterstreichen und die politischen Rahmenbedingungen, um gleichberechtigte Teilhabe zu gewährleisten, schaffen. Auch im Unterausschuss Integration habe ich durch meine Arbeitsweise viele positive Erfahrungen gemacht, die ich auch als Vorsitzender des Integrationsausschusses miteinfließen lassen werde. Im Ausschuss werden wir Themen wie das kommunale Wahlrecht, die Erleichterung von Einbürgerungen, die Erleichterung der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse und vieles mehr diskutieren und auf den Weg bringen.

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MiG: Welche Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten wird der Ausschuss bei der Ausgestaltung der Integrationspolitik des Landes haben?

Ünal: Wir werden Themen setzen und Integrationspolitik aktiv aus- und mitgestalten. Alle Anträge, die direkt und indirekt die Migrationspolitik tangieren, werden fortan im Integrationsausschuss mitberaten und aktiv mitgestaltet. Dabei werden wir auch eng mit Migrantenselbsthilfeorganisationen, Verbänden und Einzelpersonen zusammenarbeiten.

MiG: Was werden die Schwerpunktthemen des Ausschusses sein?

Ünal: Zuerst werden wir das Teilhabe – und Integrationsgesetz umsetzen und den islamischen Religionsunterricht begleiten. Da das Integrationsgesetz ein Artikelgesetz ist, führt dies unwiderruflich dazu, dass Änderungen in verschiedenen Gesetzen wie dem Kurgesetz, Wohn- und Teilhabegesetz, Landespflegegesetz, Krankenhausgestaltungsgesetz und vieles mehr umgesetzt werden müssen. Außerdem werden wir die politische Beteiligung von MigrantInnen verbessern und Einbürgerungen mit der Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft erleichtern.

Vor allem werden wir die Ausländerbehörden zu Servicezentren umwandeln und den Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl geben, dass sie dazu gehören. Wir wollen nicht defizitorientiert sondern ressourcenorientiert diskutieren und ein Klima schaffen, in dem Multikulturalität und Multireligiösität als ein gesellschaftlicher Gewinn und Normalität für NRW angesehen wird.

MiG: Kommen wir zu einigen derzeit heiß diskutierten Themen: Wie beurteilen Sie das Urteil des Kölner Landgerichts, wonach die religiöse Beschneidung von Jungen eine Straftat sein soll?

Das Selbstbestimmungsrecht ist ein hohes Gut, das auch im Grundgesetz verankert ist. Das Recht auf die Freiheit der Religionsausübung ist ebenso im Grundgesetz fest verankert. Auf den ersten Blick kommt es deshalb zu einer Kollision dieser beiden Grundrechte. Die Rechtsprechung ist bei solchen Grundrechtskollisionen zu einer sauberen und differenzierten Abwägung der betroffenen Rechtsgüter gehalten. Ein solcher Abwägungsprozess muss nicht nur stattfinden, er muss sich auch in der Urteilsbegründung wiederfinden und somit transparent sein.

Ich halte das Kölner Urteil für unsensibel und problematisch, weil es die Bürger mit jüdischen und islamischen Glauben kriminalisiert und die Gesundheit der Jungen eher gefährdet, da die Beschneidungen dann illegal oder im Ausland durchgeführt werden. Übrigens muss hier auch deutlich von der Beschneidung von Mädchen unterschieden werden, die zwar nicht in der jüdischen oder muslimischen Religion vorkommt, aber in einigen afrikanischen Kulturen. Die Klitoris-Beschneidung ist sehr wohl eine Körperverletzung, da sie letztlich mit einer Amputation gleichzusetzen ist. Der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen hat daher keinerlei Entscheidung gegen die Beschneidung von Jungen, sehr wohl aber gegen die Genitalverstümmelung bei Mädchen getroffen.

MiG: Inwieweit wird der NSU-Skandal die Einstellung der Zuwanderer zur Politik beeinflussen? Sehen Sie langfristige Auswirkungen?

Ünal: Es gab auch schon vor dem NSU-Skandal ein Unbehagen gegenüber der Gesellschaft und der Politik. Nach dem NSU-Skandal fühlten sich viele Migranten vor den Kopf gestoßen. Sie haben ein Stück Vertrauen verloren. Als Gesellschaft werden wir vor eine Zerreißprobe gestellt. Hier muss konsequent und akribisch alles aufgearbeitet werden, um gegen dieses Vertrauensvakuum anzukämpfen. Es kann leider nichts rückgängig gemacht werden, jedoch gilt es nun genauer hinzuschauen, alles restlos aufzuklären und alles stärker zu hinterfragen. Migranten sollten sich aber jetzt nicht von der Politik abwenden, ganz im Gegenteil. Sie sollten geschlossen Ihre Rechte einfordern und die Politik in die Pflicht nehmen.

MiG: Dem MiGAZIN liegen Informationen vor, wonach das Integrationsministerium NRW ein Dialogforum Islam plant. Wird das der Deutschen Islamkonferenz Konkurrenz machen?

Ünal: Anlässlich der Unterrichtung des Landtags zu den Ergebnissen der Studie „Muslimisches Leben in Nordrhein-Westfalen“ hat der Landtag den Entschließungsantrag „Der Islam ist ein Teil Deutschlands und Nordrhein-Westfalens“ der SPD, der Grünen und der FDP einstimmig verabschiedet und der Landesregierung den Auftrag erteilt, ein Handlungskonzept zu entwickeln und dieses Dialogforum einzuberufen.

Anhand der Entstehung kann man deutlich erkennen, dass es in keinem Zusammenhang mit der Islamkonferenz steht. Dieses Dialogforum beschränkt sich zudem nur auf NRW und ist somit nicht als Konkurrenz zur Islamkonferenz zu verstehen, die ja von der Bundesregierung berufen wurde.

Im Dialogforum Islam werden Vertreter der Landesregierung mit Musliminnen und Muslimen und Ihren Organisationen zusammenkommen, um den gemeinsamen Dialog zu verbessern, zu intensivieren und mögliche Projekte gemeinschaftlich zu erarbeiten. Mögliche Themenschwerpunkte sind u.a. die Förderung des interreligiösen bzw. interkulturellen Dialogs, Bildung und Ausbildung von Fachpersonal, Bürgerschaftliches Engagement und Soziale Dienste, Kinder und Jugendliche, Beschäftigung, Moscheebauten uvm.

MiG: Eine sportliche Frage zum Abschluss: Stört es Sie, dass Özil, Khedira oder Podolski die Nationalhymne nicht mitsingen?

Ünal: Es stört mich nicht. Es ist jedem selber überlassen, ob er nun die Nationalhymne mitsingt oder nicht. Aktuell Interview

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  1. Klaus sagt:

    Zum Themenkomplex Integration und Religion:
    Im rot-grünen Koalitionsvertrag heißt es unter dem Titel „Religiöse [nicht: islamische] Vielfalt gestalten: […] Wir wollen einen […] Dialog schaffen, in dem der Staat [sic!] den Muslimen […] Hilfe bei der Gründung von Religionsgemeinschaften [plural!] anbietet … .“
    Ich halte fest:
    – Rot-Grün will islamische Religionsgemeinschaften ¬- und keine anderen! – hilfsweise mitgründen.
    – Rot-Grün will nicht nur EINE islamische Religionsgemeinschaft für NRW, sondern gleich mehrere.
    Mögliche Auswahl für diese „Vielfalt“: Sunniten, Schiiten, Salafisten (!), Aleviten?, Drüsen??, Bahai??? – die werden von den Muslimen selbst nicht anerkannt und teils verfolgt – aber: Rot-Grün wird’s richten. Oder Aufteilung nach zerstrittenen Völkern: türkischer, arabischer, pakistanischer Islam – klingt sehr religiös und friedvoll. Vielleicht soll es aber auch einen Westfälischen und einen Rheinischen Islam geben? Ich bin gespannt – und die kreative Regierung hat das Wort.

    Der Staat gewährleistet eine ungestörte Religionsausübung, soweit, so gut. Es heißt aber auch: die (staats)bürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. Der Staat kann also religiöse Vielfalt achten und schützen. Aber wie kann eine Landesregierung – Grundgesetz und Landesverfassung achtend – Religionsgemeinschaften mit ERSCHAFFEN (im Sinne von: „gestalten“)? Und warum bezieht sich diese „Hilfe“ (was genau ist darunter – neben Dialog – zu verstehen?) nur auf den Islam? Der Hinweis, dass der Islam die drittgrößte Religion in NRW darstellt, ist hierfür keine Begründung – lediglich unter 3% der Bevölkerung in NRW sind Muslime. Mit dieser Begründung müsste die Regierung gleichartig auch Orthodoxe, Buddhisten, Hindu und Anhänger des Fliegenden Spaghettimonsters fördern.

    Es drängt sich doch stark der Eindruck auf, dass Rot-Grün das Deckmäntelchen der Religions“vielfalt“ benutzen, um Islamisierungstendenzen zu forcieren. Und das hat seitens der Landesregierung keine religiöse Motivation sondern ist höchst politisch begründet! Unter anderem Herr Arif Ünal spricht das ja unverblümt aus.

    In Deutschland haben sich bislang vorwiegend politisch aktive Muslime organisiert (Quelle: „Möglichkeiten und Grenzen der Bildung islamischer Religionsgemeinschaften in Deutschland“; Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg). Religiös motivierte islamische Organisationen wurden in Deutschland bislang NUR IN VEREINZELTEN AUSNAHMEFÄLLEN gegründet (und nicht etwa: zugelassen). Die gesellschaftlichen Anliegen politisch aktiver Muslime mögen ihre Berechtigungen haben – sie haben aber KEINE religionsspezifischen Hintergründe.
    Man kann also gespannt sein, wie Rot-Grün den Muslimen in NRW religiöse Mores lehren wird. Für mich ist das eine schlimme Farce von in theologischen Fragen unterbelichteten und zugleich hochmütigen Politikern.