Deutscher Psychologenverband

Warum wird der Begriff „Rassismus“ vermieden?

Der deutsche Psychologenverband fordert Rassismusprävention und eine kritische und breite Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus und Ausgrenzung statt einer akademischen Diskussion über ein NPD-Verbot.

Montag, 12.12.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 16.12.2011, 1:46 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Deutschland im Spätherbst 2011: Entsetzen über die Aufdeckung einer Nazi-Terrorzelle in Zwickau, die mindestens zehn Tote zu verantworten hat, beherrscht die Schlagzeilen. Der Bundestag entschuldigt sich für die eklatanten Versäumnisse bei den Ermittlungen; Journalisten äußern sich öffentlich beschämt über den damaligen Sprachgebrauch, als in Berichten über diese rassistisch motivierten Morde vorschnell von „Dönerbuden-Morden“ die Rede war.

Psychologen kennen die Auswirkungen von rechtlichen Prozessen und von Medienberichterstattung auf die Verarbeitung von traumatischen Geschehen insbesondere durch die betroffenen Familien und die Hinterbliebenen der Mordopfer. Diese leben seit Jahren in der Unklarheit über die wahren Täter. Sie sind täglich in den Medien mit neuen Details über die Täter und die Taten konfrontiert und erleben sich gleichzeitig einer Gruppe zugehörig, die von dieser Terrorzelle als Zielgruppe definiert wurde.

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Der alltägliche Rassismus
Auf der anderen Seite stehen nicht nur die einzelnen Familien der Mordopfer im Fokus, auch eine große Gruppe an Zuwandern erlebt eine zunehmende Verunsicherung. Nach der emotionsgeladenen Debatte der breiten deutschen Mittelschicht über ein ausländerfeindliches Buch mit biologistischen Argumenten im vergangenen Jahr wird jetzt das Ausmaß des organisierten rechten Terrors deutlich. Sorgen und Ängste, die sich seit dem ausländerfeindlichen Solinger Brandanschlag mit fünf Todesopfern 1993 langsam beruhigt hatten, flackern wieder auf. Wie sicher können sich Nachbarn, und Kollegen mit Zuwanderungsgeschichte aktuell fühlen?

„Es wäre fatal, nun lediglich die extremen neonazistischen Auswüchsen in den gesellschaftlichen Fokus zu nehmen“, warnt die Menschenrechtsbeauftragte des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), Eva van Keuk. „Es ist der alltägliche Rassismus, die alltägliche Erfahrung von Ausgrenzung, die von gut gemeinten Redewendungen bis hin zu offenen Ausgrenzung und Abwertung reicht, die das Leben in Deutschland erschweren und Ungleichheit produzieren.“ Menschenrechte bedeuteten auch Chancengleichheit und Partizipation. Diskriminierung beginne bei verbaler Abwertung und ende bei Morden aus rassistischen Gründen.

Warum wird der Begriff „Rassismus“ vermieden?
Der BDP fordert eine kritische und breite Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus und Ausgrenzung ein. Die gesamte Gesellschaft – Bildungseinrichtungen, Institutionen im Gesundheits- und Sozialwesen, Kirchen, Verbände, Behörden, Politik und Medien – seien gefragt. Der Begriff „Rassismus“ sei in der Vergangenheit im deutschsprachigen Raum, anders als im anglophonen Sprachraum, gerne vermieden. „Warum?“, fragt Eva van Keuk. „In der Annahme, wir seien längst darüber erhaben? Um Erinnerungen an eine unangenehme Vergangenheit zu vermeiden?“ Die Menschenrechtsbeauftragte plädiert dafür, ihn wieder auf die Tagesordnung zu setzen, denn es gibt jenseits des Naziterrors genügend Anzeichen für einen dringenden Handlungsbedarf. Als Beispiele nennt sie das Urteil der Kanzlerin, wonach „Multi Kulti gescheitert“ sei, die zunehmende Auswanderung von hoch qualifizierten Fachkräften mit Zuwanderungsgeschichte und die Rüge des UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte für Deutschland – wegen Ausgrenzung von Zuwandern auf dem Arbeitsmarkt und im Gesundheitswesen.

BDP-Präsidentin Sabine Siegl plädiert dafür statt der aktuellen defensiven Haltung der Regierung offen Solidarität mit den Familien der Mordopfer zu bekunden, verknüpft mit dem Angebot einer konkreten sozialen und psychologischen Unterstützung für sie, falls gewünscht. „Wie wäre es statt einer akademischen Diskussion über ein NPD-Verbot mit einer systematischen Implementierung von Menschenrechten, Rassismusprävention und Strategien zur Inklusion in Studium und Ausbildung von pädagogischen Berufen, Heilberufen, sozialen Berufen sowie bei Juristen und Journalisten“, so die Präsidentin.

Netzwerk von Antidiskriminierungsstellen
Der BDP werde sich weiterhin für dieses Thema einsetzen. Im eigenen Umfeld gelte es wachsam zu sein und Engagement zu zeigen. Aber Worte reichten nicht: „Konkrete Schritte müssen folgen – jetzt, denn der Nährboden, auf dem rassistische Morde passieren können, ist bereits vorhanden – direkt unter unseren Füßen, hier und heute.“

Eva van Keuk sieht Bedarf für ein Netzwerk von Antidiskriminierungsstellen, die kostenfrei zugänglich sind, einfache und rasche juristische Hilfe leisten und gerichtliche Verfahren unterstützen. Das dürfte Wunschtraum bleiben. Erst kürzlich hat die Bundesregierung die Mittel der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) gekürzt und damit die Kampagne „Offensive diskriminierungsfreie Gesellschaft“ nahezu stillgelegt. Die ADS hatte geplant ein bundesweites Beratungsnetzwerken gegen Diskriminierung aufzubauen. (bk) Gesellschaft Leitartikel

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  1. O. Schmidt sagt:

    Ein Plädoyer dafür, den Begriff Rassismus wieder auf die Tagesordnung zu setzen, ist gut, absolut zu befürworten und dringend nötig, weil dieser Begriff benennt, worum es wirklich geht. Gleichzeitig wäre es aber wichtig, von solchen Begriffen wie „Ausländerfeindlichkeit“ Abschied zu nehmen, da sie das eigentliche Problem, eben den Rassismus, ja gerade verschleiern und zudem nicht zutreffend sind, wenn es bspw. um nicht-weiße Deutsche geht und nicht um AusländerInnen, die von Rassismus betroffen sind. Insofern erstaunlich, dass gerade in diesem Artikel im Zusammenhang mit „Deutschland schafft sich ab“ von einem „ausländerfeindlichen Buch“ die Rede ist und nicht von einem rassistischen!!!

  2. Tina sagt:

    @O. Schmidt

    Sarrazin kritisiert ja hauptsächlich muslimische und afrikanische Migranten. Schwarzafrikaner, Türken und Araber sind aber mit nNichten einer gemeinsamen Rasse.
    Genau deshalb ist der Begriff „Rassismus“ nicht mehr zeitgemäß, zumal die Einteillung nach Rassen (so wie bei den Nazis) heute nicht nur unmöglich, sondern eben auch nazistisch ist.

  3. Marie sagt:

    @Tina: Richtig – es gibt keine Rassen. In den Köpfen vieler Menschen existiert dieses Konstrukt dennoch und Rassismus baut genau darauf auf und konstruiert Rassen, wo es eigentlich keine gibt. „RAssismus“ heißt demnach nicht „Diskriminierung anderer Rassen“ (denn die gibt es nicht), sondern Rassifizierung von Menschen und damit verbundene Ausgrenzung. Solange es diese Gedanken und Taten gibt, ist es notwendig von Rassismus zu sprechen und ihn so überhaupt erst bekämpfen zu können.
    Und zu Ihrer Aussage bzgl. Sarrazin: Sarrazin kritisiert zu einem Gutteil Deutsche (deren Eltern, Großeltern, etc. eingewandert sind). Und genau deswegen ist es eben nicht richtig von Ausländerfeindlichkeit zu reden, weil dieses Wort sich der rassistischen Logik anschließt, dass wer „nicht deutsch aussieht“ auch nicht deutsch sei.

  4. Greno sagt:

    Eben, es geht um „nicht-weiße Deutsche“, und nicht um Muslime.

    Deshalb ist der inflationäre Gebrauch des Rassismusbegriffs auch so falsch. Insbesondere gibt es keinen „anitmuslimischen Rassismus“.

  5. Surfer sagt:

    Warum eigentlich nicht beides: Ein NPD-Verbot UND eine breite Diskussion um den alltäglichen Rassismus sowie institutionalisierte Rassismusprävention / Anti-rassistische Arbeit?

  6. Mathis sagt:

    Ich schlage vor , von Diskriminierung zu sprechen.Damit kann sich dann jeder identifizieren, der sich , aus welchen Gründen auch immer, ausgegrenzt fühlt. Die viel diskutierte Pädagogik der „Inklusion“ , die Bildung und Erziehung ohne Beschränkungen allen Kindern gleichermaßen zugänglich macht, soll ja an der „Wurzel des Übels“ ansetzen und der Ausgrenzung im pädagogischen Bereich die Legitimation entziehen.
    Theoretisch besteht dieses Konzept; jetzt muss es nur noch in die allgemeine Realisierung eintreten und dort „bestehen“.
    Dem „alltäglichen Rassismus“ nun mit einer „Antidiskriminierungsindustrie“, vergleichbar mit der „Integrationsindustrie“ begegnen zu wollen, hört sich für mich wie eine weitere Arbeitsplatzbeschaffungs – und – erhaltungsmaßnahme an.Damit bleiben uns die Problem dann wenigstens bis zum St. Nimmerleinstag erhalten;schließlich lebt eine ganze Berufssparte davon, dass sich die Lösungen nicht allzu schnell ergeben!

  7. Pingback: News und aktuelle Meldungen

  8. Pragmatikerin sagt:

    Aus News und aktuellen Meldungen:
    „….als Beispiele nennt sie (die Menschenrechtsbeauftragte) das Urteil der Kanzlerin, wonach “Multi Kulti gescheitert” sei, die zunehmende Auswanderung von hoch qualifizierten Fachkräften mit Zuwanderungsgeschichte und die Rüge des UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte für Deutschland – wegen Ausgrenzung von Zuwandern auf dem Arbeitsmarkt und im Gesundheitswesen“

    Die Menschenrechtsbeauftrage macht meiner Meinung nach 2 Fehler in ihrer Aussage: wieviele „Hochqualifizierte mit Zuwanderungsgeschichte“ sind 2010 (diese Statistik würde mich sehr interessieren) ausgewandert und wievieve sind – weil in ihrem Herkunftland gescheitert – wieder zurück- oder woanders hin gewandert? Multikulti ist tatsächlich gescheitert, nicht umsonst haben wir in Deutschland – aber auch in anderen europäischen Landern – so massive Probleme unter dem Aspekt der „Kulturenvielfalt“

    Was mich aber auch noch aufregt ist, hier kümmern sich so viele Leute, die es nichts angeht, um den angeblichen Fachkräftemangel in Deutschland!!! Lassen wir doch die Unternehmen entscheiden, was sie unter Fachkräfte verstehen, oder? Unternehmen wollen sicher gut ausgebildete Menschen – auch aus dem europäischen Ausland- mit sehr guten Englischkenntnissen (die sich dann aber auch – bei Arbeitsaufnahme – für die Deutsche Sprache stark machen und sie lernen). An orientalischen Kulturen sind nur wenige Grossunternehmen interessiert, sonst wären so viele Migranten orientalischer Herkunft nicht ohne Arbeit – auch Hochqualifizierte.

    Last but not least, gehört es nicht zu den Hoheitsaufgaben eines Landes sich seine Bevölkerung – unter dem Aspekt der Einwanderung – selbst aussuchen zu dürfen, warum will man dieses Hoheitsrecht der BRD absprechen? Und wo steht geschrieben, dass, wenn die Bevölkerung eines Landes schrumpft, dies unbedingt ein Nachteil sein muss?

    Pragmatikerin

  9. Pragmatikerin sagt:

    Deutschland ist immer noch ein bevorzugtes Einwanderungsland, denn nach der neuesten Statistik (welche wohl nicht gefälscht ist ;-) ist die Zuwanderung nach Deutschland im ersten Halbjahr 2011 deutlich angestiegen. Sie sei im Vergleich zu den ersten sechs Monaten des Vorjahres um 19 Prozent gestiegen, teilte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mit. Die Finanz- und Schuldenkrise ließ vor allem aus besonders betroffenen Staaten wie Griechenland und Spanien viel mehr Einwanderer nach Deutschland kommen als im ersten Halbjahr 2010. Die Statistiker verzeichneten 84 Prozent oder 4100 Einwanderer mehr aus Griechenland und 49 Prozent oder 2400 mehr aus Spanien.
    Auch der Wegfall der letzten Beschränkungen für den freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für EU-Bürger im Mai ließ die Zahlen steigen. Dies habe dazu geführt, dass deutlich mehr Menschen aus den zwölf Ländern nach Deutschland gezogen sind, die 2004 und 2007 der EU beigetreten sind, so die Bundesstatistiker. Dazu gehören beispielsweise Polen, Ungarn und die Slowakei.

    Rund 435.000 Menschen wanderten insgesamt im ersten Halbjahr nach Deutschland ein. Das waren 68.000 mehr als im Vergleichszeitraum 2010. Rund 62 Prozent von ihnen hatten vorher in einem anderen EU-Staat gelebt. Unter den Zuwanderern waren 381.000 Ausländer – 21 Prozent mehr. Die Zahl der Deutschen, die ihren Wohnsitz vom Ausland in die Bundesrepublik verlegten, war dagegen mit 54.000 Menschen nahezu konstant.

    Weniger Deutsche kehren Deutschland den Rücken
    Zugleich verließen weniger Menschen Deutschland als im ersten Halbjahr 2010. Rund 300.000 Deutsche und Ausländer kehrten der Bundesrepublik den Rücken – das waren im Halbjahresvergleich 6000 weniger. Damit zogen insgesamt 135.000 Menschen mehr zu als weggingen. Das entspricht einem Plus von 122 Prozent gegenüber dem ersten Halbjahr 2010. Seit 2007 kommen jedes Jahr mehr Menschen nach Deutschland als von hier wegziehen – nur in den Jahren 2008 und 2009 war es umgekehrt.

    Pragmatikerin

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