Hartz IV

Die Ethnisierung sozialer Probleme

Einer Studie des Bundesarbeitsministeriums zufolge beziehen Migranten häufiger Hartz IV als der Rest Deutschlands. Die Studie wurde bereits November 2009 veröffentlicht (wir berichteten), bekommt aber erst jetzt die ihm gebührende Aufmerksamkeit.

Montag, 22.02.2010, 8:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 27.08.2010, 23:54 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Der „Zeit“-Herausgeber Giovanni di Lorenzo hat diese Studie mit der aktuellen Hartz-IV-Diskussion verknüpft. Während 4,3 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland Hartz IV beziehen, beträgt diese Quote bei Migranten 8,1 Prozent, heißt es nun in den Medien.

Die Studie
Die Ursachen aber spielen in der Berichterstattung keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Dabei zeigt die Studie vielfältige Gründe auf: mangelndes Sprach- und Bildungsniveau auf der einen, mangelnde Beratungs- und Vermittlungsangebote seitens der Arbeitsvermittlungsstellen und schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt auf der anderen Seite.

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Die Studie offenbart aber auch, dass die meisten Hartz IV-Empfänger mit Migrationshintergrund gerne arbeiten würden und willens sind, ihren eigenen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Kurz: Sie widerlegt viele Vorurteile, denen Hartz IV-Empfänger ausgesetzt sind.

Soziale Probleme nicht ethnisieren
Der migrations- und integrationspolitische Sprecher der Grünen, Memet Kilic, verweist auf die Studie der Universität Konstanz, wonach „selbst hochqualifizierte Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt gegenüber Biodeutschen wegen ihrer ausländischen Namen benachteiligt“ sind (wir berichteten). Auch bestünden für viele Migranten „de facto ein befristetes Arbeitsverbot“ oder noch heute existiere „in Beschäftigungsverordnungen die Regelung, wonach Nicht-EU-Bürger eine Stelle erst dann erhalten, wenn die Stelle nicht durch Deutsche oder EU-Bürger besetzt werden kann“.

Schließlich befänden sich viele „Migranten, die seit den 1950er Jahren durch Anwerbeverträge in die Bundesrepublik Deutschland geholt worden sind jetzt im Rentenalter“ und würden, „wie viele deutsche Rentnerinnen und Rentner eine sehr bescheidene Rente“ beziehen. Wenn dieser Personenkreis auf Hartz IV angewiesen sei, liege das an der Rentenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, so Kilic. In einer solidarischen Gesellschaft solle man „soziale Probleme nicht ethnisieren, sondern die Diskriminierungen bestimmter Personengruppen bekämpfen“.

Ähnlich sieht es der integrationspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Serkan Tören. Für ihn ist mangelhafte Ausbildung und ein geringer Bildungsstand ursächlich für Hartz IV Bezug. „Diese Kausalität gilt allerdings für alle Bürgerinnen und Bürger, ob mit Migrationshintergrund oder ohne“, so Tören.

Alarmierend
Ungeachtet der vielfältigen Ursachen, die mehr in der Sphäre des Staates liegen als bei den Betroffenen, findet die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Maria Böhmer (CDU) die Quoten der Hartz IV-Bezieher mit Migrationshintergrund „alarmierend“. Der Umstand, dass die Bundesregierung die Anerkennung der ausländischen Abschlüsse und Qualifikationen – auch nach Jahren seit Bekanntwerden des Problems – immer noch nicht geregelt hat, erhielt das Prädikat „alarmierend“ jedoch nicht.

Auch wurde dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (wir berichteten) kein „alarmierendes“ Prädikat zugesprochen, nachdem darin festgestellt wurde, dass die Hartz IV-Regelsätze für Kinder die notwendigen Aufwendungen für Schulbücher, Schulhefte, Taschenrechner etc. unberücksichtigt lassen. Angesichts der aktuellen Debatte um hohe Hartz IV-Empfängerquoten unter Migranten stellt Böhmer lediglich fest: „Wer eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben will, muss über deutsche Sprachkenntnisse und eine gute Bildung verfügen.“ Politik

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  1. Wer hätte gedacht, dass sich Giovanni di Lorenzo beteiligen würde an der Haltet-den-Dieb-Kampagne gegenüber Hartz-IV-Beziehern? Wer hätte gedacht, dass sich der Herausgeber der ZEIT – obwohl oder gerade weil er selbst Migrationshintergrund besitzt – dazu würde hinreißen lassen, Migranten zu instrumentalisieren, um die Höhe hiesiger Sozialleistungen kritisch in Frage zu stellen? Und BILD nimmt die Steilvorlage auf und titelt „Warum kriegen Migranten häufiger Hartz IV als Deutsche?“. Damit wird der BILD-Serie von „abzockenden“ Hartz-IV-Beziehern eine weitere Folge hinzugefügt. Letztlich muss sich jedoch Herr di Lorenzo als Agent provocateur für eine Behauptung schämen, die nicht einmal BILD wiederholt hat: neben oft geringerer Qualifikation äußert di Lorenzo den Verdacht, „dass unser in Deutschland so angefeindetes Sozialsystem immer noch attraktiv genug ist, dass es eine massenhafte Einwanderung in die sozialen Netze auslöst – was das Prinzip der Einwanderung, in einem fremden Land durch eigener Händer Arbeit sein Glück zu finden, auf den Kopf stellt.“ Dass es massenhafte Einwanderung weder generell noch in die sozialen Netze gibt, lässt sich an den Zu- und Abwanderungszahlen der letzten 10, 15 Jahre leicht erkennen. Ebenso leicht hätte Herr di Lorenzo wissen können, dass bei gleicher Qualifikation der Zugang zum Arbeitsmarkt häufig schon am ausländischen Namen scheitert.
    Hegt ein seriöser Journalist einen „Verdacht“, fordert es nachgerade sein Berufsethos die Recherche von Fakten, die seinen Verdacht erhärten. Tut ein Journalist das nicht oder verschweigt er widerlegende Rechercheergebnisse, dann agitiert er. Ganz perfide wird es, wenn di Lorenzo seine These von Hartz-IV-Zuwanderern einführt, als sei dies ein Tabubruch politischer Korrektheit durch öffentlische Kritikbremse gegenüber Migranten.
    Herr Westerwelle scheint sein eigentliches Ziel längst erreicht zu haben, eine Generaldebatte auszulösen darüber, was der Sozialstaat an individueller Hilfe für Bedürftige zu leisten hat. Die Leistungsbezieher sollen zu Schuldigen gemacht werden, die sich auf Kosten der Leistungsträger auf die faule Haut legen. Und di Lorenzo hat offenbar die Migranten als Beleg für diese Behauptung aufgetan. Kein Wort dazu, dass die Arbeitsverwaltung seit der Finanzkrise sich fast ausschließlich um die Krisenopfer und nicht mehr um Langzeitarbeitslose kümmert, denen vielerorts nicht einmal mehr 1-€-Jobs angeboten werden (können). Die Spaltung der Gesellschaft schient immer rasantere Fahrt aufzunehmen.

  2. Erkan A. sagt:

    Kai

    Mit dieser Regierung wird es meines Erachtens nicht mehr lange gut gehen!

    Das die Bildzeitung solche Äusserungen tätigt, wundert mich in keinster Weise.
    Als nämlich in Ludwigshafen vor nicht geraumer Zeit aus unerklärlichen Gründen bei einem Brandfall
    ein Dutzend Menschen verletzt oder getötet wurden, stand in der Bildzeitung der türkische Junge im Mittelpunkt,
    der mit einem griechischen Gefährten einen älteren Menschen angegriffen haben soll.
    Naja, ich finde es eine Zumutung, dass ein solcher Fall, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Brandlegung gehandelt haben soll, in den deutschen Medien kaum behandelt wurde und stattdessen wieder nur Negativbeispiele in den Vordergrund gestellt wurden.
    Beispielhaft ist dies für die deutsche Medienerstattung. Leider.

  3. NDM sagt:

    Dem Tenor dieses Artikels stiome ich zu, aber einen kleinen sprachlichen Patzer hat sich Memet Kilic geleistet:
    Den Begriff „Biodeutsch“ sollte er einmal unter semantischen Gesichtspunkten genauer betrachten. Es ist ein Kunstbegriff, der aus dem rassistischen Milieu kommt, das hiermit den Begriff „Deutsch“ zu biologisieren versucht. Inhalt dieses Begriffs ist die Unterscheidung zwischen „Blutdeutschen“ und „Passdeutschen“, womit impliziert wird, dass „Passdeutsche“ nie „echte“ Deutsche sein oder werden könnten, selbst bei Totalassimilation. Der Begriff ist also für sich selbst diskriminierend.

    Zwar beschreibt Kilic diese Unterscheidung, die eigentlich nicht von ihm, sondern eben von Arbeitgebern vorgenommen wird, in ablehnender Weise. Jedoch übernimmt den Begriff recht distanzlos, wodurch er diese Unterscheidung selbst, ohne sich dem bewusst zu sein, weiterträgt und kultiviert. Die Denkweise, die hinter diesem Begriff steht, ist Teil des Gesamtproblems.