Maurizio Bach
Die Gefühle der Gesellschaft
Maurizio Bach, 56, ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Soziologie, soziologische Europaforschung und Gesellschaftstheorie seit den Anfängen der modernen Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts. Im Interview spricht er unter anderem über die gefühlte Migrantenpopulation, Fremdenfeindlichkeit oder die doppelte Staatsbürgerschaft.
Von GastautorIn Montag, 22.02.2010, 8:08 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.09.2010, 17:16 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Yulia Lokshina: Herr Bach, was halten Sie von Tilo Sarrazins Aussage, die Türken würden Deutschland über die Geburtenraten erobern?
Maurizio Bach: Sarrazin ist ein kluger Mann, der markante Worte zu sprechen weiß und klare Aussagen formuliert. Aber diese Aussage ist sehr plakativ und natürlich so nicht haltbar. Die Türken in Deutschland machen bloß einen kleinen Prozentsatz aus, wie die Migranten generell. Die Tatsache, dass in bestimmten Migrantengruppen, vor allem wenn sie zu den sozial schwachen Schichten gehören, die Geburtenraten sehr hoch sind, trifft auch für deutsche Unterschichten zu. Darüber hinaus kann dies sicherlich auch produktiv gewendet werden, um der stark alternden Gesellschaft Deutschlands neue Kräfte zuzuführen. Dass aber durch die Geburtenraten eine Eroberung Deutschlands erfolgen kann, ist absurd.
Yulia Lokshina studiert Kulturwirtschaft an der Universität Passau. Die gebürtige Moskauerin kam mit 13 Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie ist Stipendiatin im Programm „Medienvielfalt, anders“ der Heinrich-Böll-Stiftung.
Lokshina: Über 80% der BildleserInnen unterstützen aber die Behauptungen Sarrazins. Wie kommen sie dazu?
Bach: In der Bundesrepublik leben zurzeit zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslime. Das entspricht gerade mal 5,2 % unserer Bevölkerung. Die Zahl der restlichen Zuwanderer liegt nicht viel höher. Insgesamt liegt der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Deutschland bei 8,8%, in den neuen Bundesländern übrigens nur bei 2,4%. In bestimmten Ballungsgebieten, wie Berlin, ist er etwas höher. Die ungleiche Verteilung der Migrantenpopulation, die sich in den Großstädten sehr stark konzentriert, führt zu einer Überpräsenz in den Medien. So entsteht eine „gefühlte“ Migrantenpopulation, die sicher größer ist, als die tatsächliche.
Lokshina: Auch fand seine Aussage, dass große Teile der türkischen und arabischen MigrantInnen „integrationsunwillig und –unfähig“ seien breite Zustimmung…
Bach: Sarrazin verwendet eine drastische Sprache, sehr pointiert und bildreich formuliert. Wer so das Thema anspricht will provozieren und tut es auch, obwohl seine Argumentation in vielerlei Hinsicht sachlich begründet ist. Dennoch gilt: jeder, der mit Kollektivbegriffen arbeitet: „die Türken“, „die Araber“, „die Einwanderer“, läuft Gefahr, Identitäten zu problematisieren und zu verletzen. In einer Demokratie, wo Meinungsfreiheit ein zentraler Wert ist, sollte dies aber kein Problem sein. Und manchmal ist es gut, in der Öffentlichkeit wie auch in der Politik die Dinge beim Namen zu nennen. Als ehemaliger Finanzsenator, ist er ein guter Kenner dieser Stadt. Die Medien picken aber Teile heraus, die Ärger machen. Zu einem echten Problem wird es aber dann, wenn die Politik durch den Boulevard bestimmt wird. Interview
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