
Nebenan
„Vertan, vertan“ sprach der Hahn – und stieg von der Ente
Nicht migrantisch, nicht politisch, nur psychisch krank: kein Skandal, keine Talkshows. Warum Gewalt nur empört, wenn sie ins Weltbild passt – und was Hamburgs Messerattacke über unsere Debattenkultur sagt.
Von Sven Bensmann Montag, 02.06.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 02.06.2025, 9:10 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
In Hamburg sticht eine psychisch kranke Frau auf umstehende Menschen ein – und sie ist weder Neofaschistin, noch selbst mit Phantasie irgendwie als ausländisch zu kategorisieren. Eine Tragödie…
…und das perfekte Setup dafür, endlich einmal eine breite Debatte darüber zu führen, was Menschen wirklich dazu treibt, solche Taten zu begehen und wie sie sich verhindern ließen. Völlig frei von billigen Kategorisierungen wie „Nazis sind eh alles gewaltgeile Vollpfosten!“ (was natürlich stimmt) und „Ausländer sind alle kriminell, das ist deren Kultur!“ (was eben nicht stimmt) hätte man diskutieren können. Nicht einmal der faule Feministinnen-Satz, dass Männer halt alle gewalttätig sind (und Frauen nicht), hätte uns im Wege gestanden. War dann aber doch eher ein Rohrkrepierer.
Weil einfache Antworten und Belehrungen des jeweils politisch Anderen sich nicht aufdrängten, blieb das Thema unterbearbeitet. Wohl, weil wir diese Form von Gewalt schlicht und einfach bereits in unseren Alltag eingepreist haben: Das passiert und dagegen kann man nichts tun – wenn man daraus kein Narrativ für das eigene Weltbild stricken kann, bietet es uns keinen Mehrwert. Dabei wäre schon diese eine Erkenntnis, nämlich, dass es immer solche Gewalttaten geben wird, schon hilfreich, um beim nächsten Mal nicht gleich wieder monothematische Schnappatmung zu bekommen.
„Durch Vorsorge ließe sich hier vermutlich einiges erreichen – stattdessen werden antifaschistische Demokratie- und Aussteigerprojekte zusammengestrichen.“
Und natürlich ist die psychologische Versorgung der Menschen in Deutschland hochproblematisch; Menschen, die Hilfe brauchen, müssen darauf oft monatelang warten – was insbesondere angesichts der traumatischen Vergangenheit von Geflüchteten und der oft nicht minder traumatischen Unterbringung in Flüchtlingsheimen für diese besonders vulnerable Gruppe eben auch besonders kritisch ist.
Durch Vorsorge ließe sich hier vermutlich einiges erreichen – stattdessen werden beispielsweise antifaschistische Demokratie- und Aussteigerprojekte gerade von der Union und in Zusammenarbeit mit der AfD besonders bereitwillig zusammengestrichen. Ganz zu schweigen von humaner Unterbringung Geflüchteter, gerade so, als wolle man gar nichts dagegen tun.
Ebenso dringend müsste auch eine Debatte in die Richtung gelenkt werden, die uns nach solchen Ereignissen von jenen selbsternannten Law-and-Order-Leuten gern aufgezwungen wird, die zuvor diese Prävention torpediert haben. Das Duo Dobrindt-Merz dürfte in den kommenden Wochen und Monaten nicht nur in Sachen Grenzverkehr viel auf Überwachung setzen. Vorratsdatenspeicherung, Chatkontrolle und viele andere Themen werden uns weiter beschäftigen müssen, weil Merz und Dobrindt zu sehr in ihrem vormodernen Denken verhaftet sind.
Dabei hat die Tat von Hamburg bewiesen, dass eben selbst an einem Bahnhof, wie dem in Hamburg, mit ständiger Polizeipräsenz, mit Messerverbot, mit Kameraüberwachung und allem Firlefanz und Pipapo, bei denen der durchschnittliche Polizeistaatsfreund mindestens mal einen Halbsteifen bekommt, all die Überwachung und Kontrolle am Ende wertlos sind.
Mehr noch, Überwachung hat letztendlich nur zwei Folgen.
„Überwachung hat bisher keine wirklichen Erfolge gezeigt, sondern allenfalls die Dümmsten aus dem Verkehr gezogen.“
Erstens: Kriminelle setzen sich mit dieser Überwachung auseinander und finden Wege, sie zu umgehen – ob nun Pyros im Stadion, Kinderpornografie im Chat oder einfach nur Drogen auf der Straße: Überwachung hat bisher keine wirklichen Erfolge gezeigt, sondern allenfalls die Dümmsten aus dem Verkehr gezogen. Und zweitens: der „normale“ Bürger fühlt sich ständig beobachtet, passt sein Verhalten, passt seinen Gehweg an, vielleicht um einer Kamera auszuweichen, starrt nur noch stur auf das eigene Handy – bloß nicht auffallen – hört schließlich womöglich auf, sich im Chat über kritische Themen auszutauschen oder auf Demos zu gehen, weil auch das bedeutet, aufzufallen, sichtbar zu werden.
Überwachung richtet sich immer gegen die „Normalbevölkerung“, gegen genau die, die glauben, nichts zu verbergen zu haben. Überwachung verhindert keine Kriminalität, Überwachung verhindert Mündigkeit. Überwachung verführt zu Konformismus. Ob queer, alternativ oder vielleicht auch einfach nicht weiß genug, Menschen ziehen sich durch Überwachung schlimmstenfalls schrittweise aus der Öffentlichkeit zurück, versuchen, nicht mehr sichtbar zu sein, ganz egal, ob die empfundene Gefahr real ist, oder nicht.
Man kann nun insinuieren, dass genau das natürlich das Ziel dieser Leute sei. „Law-and-Order-Politiker“ sei schließlich Synonym zu „strammrechts“, deckungsgleich mit Menschen, die einem Bild von einem ethnisch reinen, heterosexuellen Deutschland der 50er nachtrauern, in der der Mann das Fleisch grillt und die Frau den Abwasch macht. Man kann sogar implizieren, dass die ganzen Rechtsausleger-Innenminister – und alle anderen – es geradezu herbeisehnen, dass endlich mal wieder etwas Schlimmes passiert, dass sie hätten verhindern sollen, weil sich mit Prävention eben keine Schlagzeilen generieren lassen, dass sie des Abends gar zu ihrem Gott für eine neue Messerstecherei beten, um anschließend in die Kameras nach mehr Überwachung und mehr Polizei rufen zu dürfen – um damit all diejenigen triezen zu können, die nicht Teil dieses weißen, heterosexuellen Deutschlands sind, um sie aus der Öffentlichkeit und vielleicht ja auch gleich ganz aus Deutschland zu verdrängen.
**Ironie on** „Die Polizei betreibt kein Racial Profiling, weil Racial Profiling illegal ist. Deshalb braucht es da auch keine Studien.“ **Ironie off**
Allerdings wäre das unfair, weil, das kann ja gar nicht stimmen, das haben uns die Innenminister ja bereits mehrfach erklärt: Die Polizei betreibt kein Racial Profiling, weil Racial Profiling illegal ist. Deshalb braucht es da auch keine Untersuchungen, Studien oder gar Law-and-Order. An Polizisten als Vertreter der Staatsgewalt muss man keine höheren Maßstäbe ansetzen, als an Zivilisten, man sollte überhaupt keine Maßstäbe ansetzen. Über systemische Probleme bei der Polizei muss man auch nicht sprechen, weil ja eben nicht alle Polizisten die Kinder unverheirateter Eltern sind, selbst wenn Pullis das behaupten. Und People of Colour werden auch nur in den Rücken geschossen, wenn sie ein Messer in der Tasche tragen.
Und seien wir zum Schluss doch auch mal ganz ehrlich zu uns selbst: Natürlich wäre es uns im Falle des Falles lieber, dass wir aus drei Perspektiven in UHD-Qualität gefilmt werden, wenn uns jemand absticht, als dass die Tat durch Prävention verhindert worden wäre. Sonst gehn wir doch nie auf TikTok viral. Meinung
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