
Tag für Tag
Die Sache mit dem Fremdsein und der Angst
Tag für Tag wird Angst vor dem Fremden geschürt. Doch was, wenn wir diese Erzählungen hinterfragen und uns dem Unbekannten öffnen? Eine Reflexion über Vorurteile, Wahrnehmung und die Chancen des Miteinanders.
Von Erika Harzer Donnerstag, 20.02.2025, 12:42 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 20.02.2025, 12:42 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Fremd. Fremd sein. Fremde sein. Fremder sein. Achtung: Gefahr! So oft steht es mit dieser Konnotation in den Zeitungen, wird darüber in den Nachrichten erzählt, geredet oder geschrieben. Von dem/den Fremden. Mit negativer Auslegung, mit angstmachenden Nebendeutungen. Doch was ist denn fremd sein in dieser Welt? Wer ist wo und warum fremd?
Da gibt es den Fremden, die Fremde, fremde Menschen, fremde Eindringlinge, die sich fremd in der Fremde bewegen, dort unterwegs sind und einem fremd vorkommen: Mit ihrer Sprache, wie sie kochen und sich ernähren, wie sie sich kleiden, wie sie sich ihren Göttern widmen, manchmal auch wie sie sich bewegen oder wie sie riechen. Fremd halt.
Demgegenüber wird dann eine oder gar DIE Mehrheitsgesellschaft gezeichnet und als bedeutsame Größe aufgestellt, als entscheidender Faktor, als Konstante, geschichtlich und gegenwärtig. Die vermeintlich große Gruppe der sich nicht Fremden, der sich Kennenden und sich Ähnelnden, mit vermeintlich derselben Sprache, auch wenn darin viele Worte unterschiedliches bedeuten, je nach Stellung im Satz, je nach Betonung, vor allem aber nach Interpretation und Deutung. Vermeintlich gleich und doch manchmal ein bisschen oder ganz schön fremd für vermeintlich Gleiche, und sehr fremd für Fremde. Die mit der Sprache fremdeln, so wie alle mit den Sprachen, die nicht die Ihren sind, die sie nicht gelernt haben, die sie nicht verstehen, eben fremdeln. Fremd halt. Eigentlich normal. Man fremdelt mit Fremden, mit fremden Menschen, fremden Sprachen, fremden Gewohnheiten, fremden Ritualen, fremdem Essen, fremden Gerüchen, fremden Alltagsmomenten – wo auch immer auf dieser Welt an Orten, die einem unbekannt sind, die man nicht kennt. Die eben fremd sind. Für Fremde. So what, könnte dazu jetzt gefragt werden. Was also?
„Wenn wir erstmals offen wären und nicht von Angst erfüllt…“
Dabei könnte doch neugierig sein auf das Andere, offen sein für das Fremde, könnte, ja könnte uns bereichern. Könnte dem Leben neue Spielebenen erschließen, könnte neue Wege aufzeigen, neue Freundschaften bringen, ergänzende Fertigkeiten aufzeigen, neue Genüsse anbieten, durch sinnliche Düfte inspirieren. Könnte. Ja könnte. Könnte vieles, wenn wir dafür offen wären. Für das Fremde. Für den Fremden. Für die Fremde. Wenn wir erstmals offen wären und nicht von Angst erfüllt – vor all dem Fremden, den Fremden, die uns vermeintlich aus den uns angeeigneten und gewohnten Bahnen werfen wollen, uns den erarbeiteten Besitz, die erlangte Identität vermeintlich rauben oder gar zerstören wollen. Das, der, die Fremde.
Von dem, der, die uns erzählt wird, es, er, sie sei auf Raubzug unterwegs und wolle zielstrebig uns überfluten, wo doch unser Boot bereits überfüllt wäre, wolle uns erobern oder gar zerschlagen. Wolle unsere Kultur – welche? – überfremden, sie durchmischen und letztlich auflösen. Ein Bild, in dem wir Nichtfremde uns umzingelt sehen von Fremden, angegriffen von Fremden – die, nur Böses im Schilde führend, tausende von Kilometern durch die Weltgeschichte reisen – wie? – einzig und allein das Ziel verfolgend, uns – wen? – zu durchmischen, um letztlich nichts übrigzulassen von unser hoch entwickelten Kultur – welcher?
Geschürte Angst. Tag für Tag. Intensiv.
Entmenschlichte Zuordnungen hören und lesen wir wieder und wieder. Mal sind sie die Zahnarzttermine Raubenden, die Arbeitsplätze Stehlenden, die staatlichen Gelder Abzockenden. Messerstecher und Vergewaltiger aus all den fremden uns umgebenden oder weiter weg liegenden Ländern, bedrohen die Frauen unseres Landes. Dich und mich und jede. Nicht die mordenden – Femizide – Ehemänner, Ex-Ehemänner, schlagende und quälende Freunde oder Ex-Freunde – egal welcher Herkunft – bedrohen uns Frauen. Nein, nicht doch! Die machen tagtäglich doch nur, was Männer hier bei uns schon immer gemacht haben und daher lediglich unter dem Titel Beziehungsstreitigkeiten weg verschwiegen werden. Gefährlich gewalttätig dagegen sind die Fremden. Wer sonst! Die sind gefährlich!
„Wo sind wir selbst denn nicht fremd?“
Wo sind wir selbst denn nicht fremd? Sollten wir uns nicht alle diese Frage immer wieder stellen? Was ist das Fremde in mir, in dir, in ihr und ihm? Und was ist das bereichernde, das Schöne am Fremden?
Unendlich viele Fragen dazu wurden wieder und wieder gestellt. Unendlich viele Menschen haben sich darüber Gedanken gemacht, darüber geschrieben, gedichtet, gesungen, erzählt. Wem fällt nicht sofort Karl Valentin wunderbares Stück „Die Fremden“ von 1940 ein mit seinen unvergesslichen Sätzen wie: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. Ja und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd? Mit logischer Antwort, oder?: Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar so lange, wie er sich nicht mehr fremd fühlt.
Hunderttausende Mal in Schulen behandelt. In Aufsätzen oder Klausuren bearbeitet, interpretiert. Das Fremdsein aller. Und doch bleibt es ein Thema, das wieder und wieder aufgewärmt wird mit negativen Zutaten, das wiedergekäut wird, mit Angst schürenden Inhalten, als gesellschaftspolitisches Spaltwerkzeug, dann, wenn rechte Narrative Schuldige für alles suchen, dann passt dafür immer wieder doch am besten: der Fremde.
Mit diesem Fremd sein Narrativ beschäftigte sich 2024 auch die zum 60. Male stattgefundene Biennale in Venedig sieben Monate lang von April bis November mit dem schlichten Titel: Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere – Fremde überall.
Eine intensive künstlerisch politische Annäherung ans Fremdsein, überall und nirgends. Hunderttausende von fremden Menschen bewegten sich in diesen Monaten durch Länderpavillons und Ausstellungsräume, setzten sich mit ihnen fremden Themen auseinander, setzten sich den Werken aus, suchten und interpretierten, ließen auf sich wirken und fragten sich wieder und wieder, was ihnen das Fremde sagt. Sie spürten, wie sie das Fremde sie bereichern kann, sind erschüttert über die Erzählungen der Gewaltorgien gegen Fremde, den nachgezeichneten geschichtlichen Ausrottungsversuchen von Fremden in Eroberungsfeldzügen, den angstschürenden geschichtlichen Erzählungen über das Fremde.
„Warum lesen oder hören wir so wenig über die tagtäglichen tollen Begegnungen?“
Warum gelingt es immer wieder, die uns bereichernden, uns stärkenden Einflüsse fremder Kulturen, fremder Menschen, fremder Rituale und Weltanschauungen zu unterdrücken, und warum gelingt es der Angstmache so viele Räume zu besetzen? Bei uns in Deutschland, in Europa, innerhalb der Festung Europa? In den Vereinigten Staaten von Amerika? In Australien oder Neuseeland? Warum?
Warum lesen oder hören wir so wenig über die tagtäglichen tollen Begegnungen, bei denen Menschen miteinander mit viel Freude und Kreativität sich den Herausforderungen des Lebens stellen und ihnen dabei völlig egal ist, wer woher kommt? Egal ob in den Krankenhäusern oder den Pflegediensten, den Sozialstationen oder so viel anderen Einrichtungen im Gesundheits- oder Dienstleistungs- oder Mobilitätsbereich der Republik. Egal wo. Es gibt sie: die vielen, alltäglichen, schönen Geschichten des menschlichen Miteinanders, bei denen die Beteiligten einfach agieren, ohne große Aufmerksamkeit auf sich lenken zu wollen, weil ihr miteinander für sie ganz normal ist, weil sie nach ihren Werten leben. Wäre es nicht endlich allerhöchste Zeit, diese „normalen“ Geschichten des Miteinanders zu erzählen und damit den täglichen angstschürenden Botschaften den Boden zu entziehen. Ich bin dabei. Meinung
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