
Schwarz-Blau-Gelb
Die Brandmauer ist Merz auf den Kopf gefallen
Die Union scheitert im Bundestag. Sie kann ihre Pläne zur Begrenzung der Migration nicht gegen den Widerstand von SPD, Grüne und Linke durchsetzen – obwohl die AfD zustimmt. Damit enttäuscht Merz alle Lager. Was bedeutet das für den Wahlkampf und was bleibt in Erinnerung?
Sonntag, 02.02.2025, 16:40 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 02.02.2025, 16:40 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Unionkanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) brettert hinterm Steuer von Magdeburg nach Aschaffenburg. Aus dem Radio tönt eine Warnmeldung: „Ein Geisterfahrer auf der A7 unterwegs“. Daraufhin Merz: „Einer? Alle, alle!“
So in etwa kann man sich Merz in diesen Tagen vorstellen. Alles, was nicht ziemlich weit rechts unterwegs ist in dieser Republik, hat an ihn appelliert, umzukehren von seinem Kurs: Gewerkschaften, Kirchen, Muslime, Juden, Künstler, Musiker, Schauspieler, NGOs, Tausende auf den Straßen, Wissenschaftler, Politiker – sogar aus der Union und selbst die „Mutter der Nation“, Angela Merkel. Merz‘ „Zustrombegrenzungsgesetz“ wäre der erste Entwurf im Bundestag werden können, das mit den Stimmen der AfD eine Mehrheit gefunden hätte. Allen Rufen zum Trotz ließ sich Merz nicht abbringen von seinem Kurs. Alle Geisterfahrer, nur er nicht.
Merz enttäuscht links bis rechts
Das Ergebnis ist bekannt. Merz fuhr frontal gegen die Brandmauer. Sitzungsleiterin Petra Pau teilte nach der Abstimmung im Bundestag mit, das „Zustrombegrenzungsgesetz“ habe im Bundestag keine Mehrheit gefunden: 338 Ja-Stimmen, 349 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen. 184 Unionsabgeordnete stimmten für den Entwurf, zwölf gaben ihre Stimme nicht ab. Von der AfD gab es 75 Ja-Stimmen, einer gab seine Stimme nicht ab. Auch aus der FDP-Fraktion stimmten zwei Abgeordnete gegen den Entwurf, fünf enthielten sich, 16 gaben keine Stimme ab.
Eigentlich wollte Merz mit der Abstimmung unter dem Eindruck von Magdeburg und Aschaffenburg Tatkraft und Handlungsstärke in der Migrationspolitik demonstrieren. Nun liegt er unter den Trümmern der Brandmauer und dürfte mit seiner Geisterfahrt so ziemlich alle enttäuscht haben – auf allen Spuren, linke wie rechte. Wer ihm sein Brandmauer-Versprechen schon immer nicht abgenommen hatte, dürfte sich jetzt bestätigt fühlen. Wer sich Maßnahmen für mehr Abschiebungen und weniger Fluchtmigration versprochen hatte, dürfte ebenfalls enttäuscht sein.
Was das für den Wahlkampf heißt
Wenige Wochen vor der Bundestagswahl stellt das den Wahlkampf auf den Kopf. Die Grünen wollten eigentlich mit eigenen Inhalten werben: Infrastruktur, bezahlbares Leben, Klimaschutz und soziale Absicherung. Doch nun dürfte die Warnung vor einem möglichen Rechtsruck für die Partei erneut zum beherrschenden Thema werden. Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck wirft Merz Wortbruch vor. „Nicht einmal, sondern zweimal. Nicht aus Versehen, sondern mit Absicht. Gegen alle Warnungen“, erklärte Habeck. Das sei „Disqualifikation“ für das Amt des Bundeskanzlers.
Die SPD ist bereits umgeschwenkt: Seit Tagen wirbt sie in sozialen Medien für ein Bollwerk gegen den rechten Rand, nach dem Motto „Mitte statt Merz“. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat den Kurs vorgegeben mit der Warnung, Merz könne womöglich ein schwarz-blaues Bündnis eingehen.
Gegrummel auch in der CDU
Statt wie zunächst angekündigt im Wahlkampf über Wirtschaftspolitik zu sprechen, dürfte sich auch der CDU-Chef vor allem mit der Frage herumschlagen müssen, ob die von ihm beschworene Brandmauer zur AfD wirklich hält.
Auch aus der eigenen Partei ist ein Grummeln über die Taktik von Merz zu hören. Auf der Straße demonstrieren Tausende gegen eine mögliche Zusammenarbeit der Union mit der AfD – kein schönes Bild für CDU/CSU. Merz habe SPD, Grünen und AfD mit seinem Vorgehen zudem ein regelrechtes Mobilisierungsprogramm geliefert, heißt es kritisch auch in den eigenen Reihen.
Gegenseitige Vorwürfe
Die Debatte zum Gesetzentwurf begann im Bundestag mit einer Verspätung von dreieinhalb Stunden. Die FDP hatte zunächst vorgeschlagen, den Entwurf in die Ausschüsse zurückzuschicken und so möglicherweise doch noch einen Beschluss ohne die AfD als Mehrheitsbeschaffer zu verhindern. Es folgten hektische Beratungen zwischen CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP, die allerdings keine Einigung erbrachten. Die FDP verzichtete daraufhin auf ihren Vorschlag.
Unionsfraktionschef Merz wies den Vorwurf einer Zusammenarbeit mit der AfD bei den Abstimmungen über eine schärfere Migrationspolitik erneut strikt zurück. Zur Forderung von SPD-Fraktionschef Mützenich, er solle sich dafür entschuldigen, dass er der AfD die Hand gereicht habe, sagte der CDU-Vorsitzende: „Von meiner Partei aus reicht niemand der AfD die Hand.“ Die Linke bestätigte zunächst, es gebe tatsächlich keinen Handschlag, denn Union und AfD lägen sich schon längst in den Armen.
Kern des Gesetzentwurfs von Merz war unter anderem eine Aussetzung des Familiennachzugs zu Geflüchteten mit eingeschränktem Schutzstatus. Zu dieser Gruppe gehören in Deutschland viele Syrer. Die Menschen holen – was ohnehin nur restriktiv ermöglicht wird – Frauen und Kinder zu sich. Experten zufolge ist das ein wichtiger Stabilisator im Leben von Geflüchteten. Wer mit seiner Familie zusammenlebe, drifte seltener ins Extreme ab, begehe seltener Straftaten als jemand, der zusätzlich zum prekären Flüchtlingsalltag auch einen Trennungsschmerz bewältigen müsse.
Merz gibt „Garantie“ ab
Allen Protesten und Kritik zum Trotz hält Merz an seinem Vorhaben weiter fest. Bei ihrem Parteitag am Montag will die CDU ein „Sofortprogramm“ mit den umstrittenen Migrationsplänen beschließen. Merz gab sogar eine „Garantie“ für Veränderungen im Falle seiner Kanzlerschaft. „Ich gebe den Wählerinnen und Wählern in Deutschland die Garantie, dass es in der Wirtschaftspolitik und in der Asylpolitik eine wirkliche Wende gibt“, sagte der Unionskanzlerkandidat dem Boulevardblatt „Bild am Sonntag“.
Offen bleibt, ob die CDU ihre Ankündigungen nach einem Sieg bei der Bundestagswahl durchsetzen kann – und wenn ja, in welchem Maße. Nach den aktuellen Umfragen dürfte die Union bei der Bildung einer Regierung mindestens auf SPD oder Grüne angewiesen sein – sofern er, entgegen seinen bisherigen Bekundungen, nicht doch mit einer Zusammenarbeit mit der AfD liebäugelt. So oder so, an Glaubwürdigkeit gewinnt er mit seinem Garantieversprechen nicht.
Was in Erinnerung bleibt
In Erinnerung bleiben von dieser Woche Szenen und Bilder mit Symbolkraft: Triumphierende AfD-Politiker, die nach der Abstimmung im Plenarsaal für ein Selfie posieren, AfD-Mann Bernd Baumann, der mit geschwellter Brust vom Rednerpult in den Plenarsaal ruft: „Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche und das führen wir an!“
In Erinnerung bleibt auch: Der Publizist Michel Friedman tritt nach Jahrzehnten aus Protest aus der CDU aus, zwei Träger des Bundesverdienstkreuzes, einer davon ein Holocaust-Überlebender, kündigen an, ihre Auszeichnungen zurückzugeben. Zehntausende treffen sich zu Demonstrationen in Großstädten gegen die Union, auch vor deren Parteizentralen. Und sogar Ex-Kanzlerin Angela Merkel greift mit einem außergewöhnlichen Schritt aus der Polit-Rente in die Debatte ein. In einer schriftlichen Stellungnahme erklärt sie Merz’ Vorgehen für „falsch“.
Weidels „Bettvorleger“
Selbst AfD-Chefin Alice Weidel scheint Merz nicht mehr zu trauen. Nach der Abstimmung im Bundestag sagte sie, es habe sich gezeigt, dass ihre Fraktion geschlossener agiere als die CDU/CSU: „Das ist die Demontage von Friedrich Merz als Kanzlerkandidat gewesen.“ Seine eigene Fraktion habe ihn „abgesägt“. Weidel wörtlich: „Friedrich Merz ist als Tiger gesprungen und endete als Bettvorleger.“
Dabei hat Merz im Werben um sein Gesetz sogar eine Schublade bemüht, die selbst die AfD nicht gezogen hätte aus Angst, sie könnte in einem möglichen Parteiverbotsverfahren als Extremismus-Beleg gegen sie verwendet werden. Merz hatte im Plenum vor der Abstimmung behauptet, es gebe „täglich stattfindende Gruppenvergewaltigungen aus dem Milieu der Asylbewerber heraus“. Belegt hat er seine Behauptung nicht. Wohl auch, weil sie nicht stimmt. Einem Faktencheck hält sie jedenfalls nicht stand.
Ungewöhnlich sind derlei abwegige Behauptungen bei Unionspolitikern nicht. Manche benötigen nicht einmal einen Faktencheck, sie entlarven sich selbst: In einem bayerischen CSU-Wahlkampfzelt etwa behauptete ein Unionspolitiker, nach 18 Uhr trauten sich ältere Deutsche aus Angst vor gewalttätigen Ausländern gar nicht mehr aus dem Haus. Tobender Applaus im Zelt. Das Publikum nahezu komplett Ü60. Uhrzeit: Kurz vor 22 Uhr. (dpa/mig) Leitartikel Politik
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