Nebenan
Grünendämmerung
Die Angst vor der AfD stürzt unsere Demokratie in eine Ochlokratie. Mit dabei sind die Grünen – nur noch eine FDP mit Schamgefühl. Höchste Zeit also für etwas Neues, etwas Linksgrünes.
Von Sven Bensmann Montag, 30.09.2024, 10:09 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 30.09.2024, 8:36 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die deutsche Demokratie hat, wie viele andere, bestimmte Sicherheitsmechanismen, die sie davor bewahren soll, in eine Ochlokratie umzukippen, also eine Gewaltherrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Zu diesen Sicherheitsmechanismen gehört, dass bestimmte Personalien, bestimmte Rechtsänderungen, bestimme Entscheidungen nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit getroffen werden dürfen. Diese Regelungen verhindern, dass eine einfache Mehrheit durchregiert und ihr dabei keine demokratischen Grenzen mehr gesetzt werden: damit zum Beispiel eine AfD mit 50 Prozent +1 der Stimmen nicht völlig ohne Korrektiv den Staat als Ganzes umbauen kann.
Unglücklicherweise setzen die anderen Parteien gerade aus Angst vor genau dieser AfD ein ums andere Mal genau diese Sicherheitsmechanismen außer Kraft, nur, um noch gegen die AfD handlungsfähig bleiben zu können. Und gedankenverloren feiern Juristen wie Presse dieses Armutszeugnis gescheiterter Demokratie als Schritt in die richtige Richtung: Einem Raucher, dem das Bein abfault, wird vom Arzt die Leber amputiert, um die Vergiftung aufzuhalten – und die Angehörigen klatschen Beifall.
Natürlich will und sollte niemand mit der AfD zusammenarbeiten. Aber einen Schutzmechanismus gegen deren Machtergreifung abzuschaffen, um sich noch ein paar Jahre retten zu können, kann keine Lösung sein, sie vergrößert vielmehr das Problem.
„Die Grünen brauchen dringend ein linkes, grünes Korrektiv zu demjenigen wirtschaftsliberalen Kurs, der sie von der Klimaschützerszene entfremdet hat.“
Ich weiß nicht, ob es auch diese Verzweiflung war oder vielleicht meine Kolumne vor zwei Wochen, in der ich die Grünen als Teil eines fremdenfeindlichen Kartells von Blockparteien bezeichnet habe, dass sich über die SPD, CDU/CSU und FDP bis hin zur AfD erstreckt, aber beim grünen Nachwuchs, bei denjenigen grünen Funktionsträgern, die sich gerade nicht den Arsch in irgendeinem Parlament plattsitzen und von dort den Rückfall auf die gerade von ihnen beschlossenen Zumutungen des Bürgergeldes befürchten, ist wohl letzte Woche ein Groschen gefallen. Er wirft hin, weil er das AfD-Migrationsregime und die Sozialpolitik dieser ehedem linken Partei, die schon seit geraumer Zeit vielen nur noch als „FDP mit Schamgefühl“ gilt, nicht mehr mittragen will und um grüne Politik vom Kopf auf die Füße zu stellen: Es ist zu begrüßen.
Denn selbst wenn die Chancen aktuell von vielen Beobachtern tendenziell eher als gering eingestuft werden: Die Grünen brauchen dringend ein linkes, grünes Korrektiv zu demjenigen wirtschaftsliberalen Kurs, der sie von der Klimaschützerszene entfremdet hat, zumal sie sich gleichzeitig in kürzester Zeit von einer Anti-Kriegs-Partei in eine Kriegs-Partei gewandelt haben – ein Schritt, bei dem viele Parteifreunde zumindest Bauchschmerzen haben sollten.
„Dennoch ist das Potenzial einer linksgrünen Partei angesichts der eklatant fehlenden Repräsentation nicht gering.“
Dass die Partei dann auch noch bei fremdenfeindlichen Abschottungsmotiven von rechts nicht widerspricht, sondern ihren Beitrag leistet, musste eine veritable Krise in einer Partei auslösen, die offenbar jedes Gespür dafür verloren hat, wer sie einmal war, als sie noch für etwas stand – andernfalls wäre sie längst bei der politischen Beliebigkeit eines Markus Söder angekommen, der noch morgens einen Baum umarmen kann, um dann abends schon davon zu reden, dass eine Koalition mit den Hippie-Ideologen der Grünen der Untergang des Abendlandes wäre. Und wenn dieses Korrektiv nicht mehr aus der Partei heraus funktioniert, dann muss es eben von außen hineinwirken. Dabei ist ein Erfolg an der Wahlurne selbst gar nicht zwingend erforderlich: Schon die Drohung konnte die Grünen dazu zwingen, ihren derzeitigen Kurs zu korrigieren – auch wenn das von derjenigen Partei, die zwar von Merz als „Hauptfeind“ bezeichnet wird, sich diesem aber dennoch – wie eine läufige Hündin in einer toxischen Beziehung – billigst anbiedert, kaum zu erwarten ist.
Viele Kommentatoren bedauern oder belächeln derweil die Aufsplitterung des linken Lagers, die sich in dieser neuen Initiative zeige. Und ein bisschen ist ja etwas dran. Zuletzt konnten neue Parteien aus dem linken Lager wohl auch aufgrund dieser Aufsplitterung kaum an Traktion gewinnen. Dennoch ist das Potenzial einer linksgrünen Partei angesichts der eklatant fehlenden Repräsentation nicht gering – schon deshalb gab es die Versuche. Denn auch so wird ein Schuh draus: „Fridays for Future“ professionalisiert sich politisch und ist zur Europawahl bereits mit einer eigenen Liste angetreten, ebenso hat sich Die Linke gerade von deren konservativen Rechtsauslegern getrennt und muss nun anstreben, sich progressiver und grüner zu positionieren, also genau dort, wo die Grünen gerade eine Leerstelle lassen.
„Das Narrativ „Ausländer böse“, wird mittlerweile von allen anderen Parteien vertreten und nützt doch nur der AfD.“
Eine gemeinsame Grün-Alternative Liste als Sammelbewegung dieser Akteure und womöglich noch anderer grün-linker Gruppen, im Verein mit Organisationen, die sich ebenso klar zu Menschenrechten und dem Asylrecht bekennen, könnte dem vorherrschenden Narrativ „Ausländer böse“, der mittlerweile von allen anderen Parteien vertreten wird und doch nur der AfD nützt, überzeugt mit mehr Nächstenliebe, mehr Menschlichkeit, mehr Solidarität und mehr Grundgesetztreue entgegentreten.
Dies mag nur ein Fiebertraum sein, aber sie hätte vielleicht das Potenzial, nicht nur mehr als die Summe aller Teile zu sein, sondern auch mehr Wähler zu mobilisieren: angesichts der Ratlosigkeit und Resignation der etablierten Parteien ist dies die vielleicht letzte Chance für Deutschland, den Rechtsruck in der politischen Kultur aufzuhalten und so die liberale Demokratie zu bewahren, die durch die AfD-freundliche Politik der Ampel und die Ernennung Friedrich Merz‘ zum Kanzlerkandidaten der Union inzwischen zur Disposition steht. (mig) Meinung
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