Nebenan
Sie ist wieder da: Leitkultur
Leitkultur, inzwischen ein anderes Wort für „Ausländer raus!“, gibt es so eigentlich gar nicht. Wir leben nur deshalb in Frieden miteinander, weil wir gelernt haben, die Bayern zu ertragen.
Von Sven Bensmann Montag, 13.05.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 13.05.2024, 9:01 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Nur kurz einmal Bundesparteitag der CDU und Zack! – schon ist sie wieder da. Denn wenn den Herren – und es sind ja doch meistens Herren – von der Union so rein gar nichts mehr einfällt, das irgendwie anschlussfähig wäre an breite Bevölkerungsschichten, dann haben wir anschließend wieder mal eine Leitkulturdebatte. Immerhin redet dann niemand davon, dass die Union mal wieder vor allem Politik für reiche Erben (im Unions-Jargon „Leistungsträger“ und „self-made men“) macht – und wenn sie damit „den Ausländern“ eins auswischen können, dann wählen Heinrich und Dieter aus Kuhkaffhausen im Hinterwald eben gern, dass ihnen ihre Sozialrente gekürzt wird und der Bus in die Stadt nur noch 1 Mal pro Tag fährt. Oder wie Fritze Merz es ausdrücken würde: Wenn sie kein Auto haben, sollen sie halt den Privatjet nehmen.
Dazu passt natürlich auch gut die nun im Programm verankerte Bringschuld für Muslime. Wer auf dem Oktoberfest Frauen betrunken vergewaltigt oder loszieht, um Ausländer abzuknallen, der ist natürlich einer von uns, ohne Wenn und Aber – als Muslim jedoch muss man sich schon mal die Frage gefallen lassen, ob man denn auch unsere Werte teile. Wer das nicht tut, muss – wie der Köter vor dem Supermarkt – draußen warten.
„Denn Leitkultur ist nur eine fremdenfeindliche Projektionsfläche, hinter der man verstecken kann, dass man eigentlich nur ‚Ausländer raus!‘ meint.“
Natürlich bleibt die Union dabei weiterhin schuldig, zu erklären, was das denn überhaupt sei: Leitkultur. Alles andere würde schließlich auch gar nicht funktionieren. Denn Leitkultur ist nur eine fremdenfeindliche Projektionsfläche, hinter der man verstecken kann, dass man eigentlich nur „Ausländer raus!“ meint: Wo die AfD ihre menschenfeindliche Ideologie als Remigration verharmlost, verklärt die Union die Ablehnung Fremder, um ihre Anschlussfähigkeit an dieses Gedankengut zu demonstrieren, zur Leitkultur.
Würde man allerdings überhaupt den Versuch unternehmen, eine solche Leitkultur zu definieren, fiele man entweder auf nichtssagende Allgemeinplätzchen zurück – oder man schlösse mindestens die Hälfte der Deutschen, deren Stimme man doch eigentlich mit diesem Quatsch für sich gewinnen wollte, direkt wieder aus.
Selbst wer nachfragt, wie die für ihre messerscharfe, scharfsinnige Satire bekannte heute-show, wird von verdutzten Parteimitgliedern nur verschämt auf Würstchen verwiesen – entweder auf die im eigenen Darm oder halt die am Rednerpult. Ganz klar wird das nicht. Würde aber heißen: Vegetarier und Veganer – die sind uns alle suspekt, die wollen wir hier nicht, die passen nicht zu uns. Über alle anderen sagt das aber erstmal so gar nichts aus. Und die würden die Union ohnehin eher nicht wählen. Also wertlos. Und schon konkreter als das dürfte man eben nicht werden: Ist Biertrinken deutsche Leitkultur? Wie würden Rheinländer, Iren und Tschechen das wohl sehen? Deutsche Brotkultur? Hieße das, jeder, der anerkennt, dass Brot prinzipiell ne gute Sache ist, darf weiterhin herkommen?
„Und definiert haben wir damit eben auch noch nicht, was denn nun Leitkultur eigentlich sein. Wir haben nur wieder Stereotypen aneinander gereiht, um ex negativo das andere wegzudrücken.“
Manch einer in der Union verweist ja vorsichtig darauf, dass Leitkultur regional sehr unterschiedlich ausgelegt werden könne. Und joah, das entspricht bereits der gelebten deutschen Praxis: Diese Bayern wollen wir hier in unserm schönen Norden nicht und vor allem sollen die erstmal lernen, unsere Sprache zu sprechen; die Berliner wollen keine Schwaben mehr in ihrer Stadt und Kölner passen einfach nicht nach Düsseldorf, das weiß man ja. Das sind sicherlich auch lokal irgendwie mehrheitsfähige Auffassungen, aber Leitkultur zu fordern, nur um Binnenmigration zu meinen, das dürfte ja auch nicht der Vorstellung derjenigen Flachpfeifen entsprechen, die diese Diskussion wieder einmal angestoßen haben. Und definiert haben wir damit eben auch noch nicht, was denn nun Leitkultur eigentlich sein. Wir haben nur wieder Stereotypen aneinander gereiht, um ex negativo das andere wegzudrücken.
Vielleicht liegt die Wahrheit der deutschen Leitkulturdebatte in genau hierin: Es gibt keine deutsche Kultur. Deutschland bestand eintausend Jahre lang aus unabhängigen kleinen regionalen Reichen mit eigenen regionalen Identitäten. Die ersten darunter, die so etwas wie eine gemeinsame deutsche Identität entwickelt haben, werden noch heute deswegen englisch „dutch“ genannt: das westfriesische Tiefland, die Niederlande. Nachfolgende, die so künstlich so etwas wie eine gesamtdeutsche Identität entwickeln wollten, nannten sich die – natürlich – Nazis, weil dies für ihr eigenes tausendjähriges Reich und ihre arische Ideologie unumgänglich war.
„Die deutsche Oberschicht jedenfalls sprach jahrhundertelang Französisch und imitierte die Franzosen.“
Die deutsche Oberschicht jedenfalls sprach jahrhundertelang Französisch und imitierte die Franzosen, der Pöbel hingegen sprach tausende verschiedene Formen von lose miteinander verwandten Sprachen, die für sich mehr oder weniger selbstbewusst das Prädikat „deutsch“ verwendeten. Die deutschen Volksmärchen der Brüder Grimm sind ebenso französische Märchen, die über französische Flüchtlinge nach Deutschland kamen, die hier überwiegend praktizierten Religionen kommen aus dem Nahen Osten, genauso wie unser Bier, das als Pils in Tschechien zu seiner höchsten Form reifte.
Wenn in Deutschland etwas besonders schön ist, dann nennen wir es ein Venedig des Nordens oder Elbflorenz. Unsere modernen Filme und Musik sind aus Amerika oder Japan, Helene Fischer aus Russland und die besten Ideen des Grundgesetzes kommen aus Griechenland, England, den USA und, schon wieder, Frankreich – auferzwungen von den Besatzungsmächten nach dem Zweiten Weltkrieg. Deutsche Kaiser bezeichneten sich als römisch, Römer wollten aber vor allem Griechen sein und die Griechen der Griechen waren die Ägypter.
„Es gibt keine deutsche Leitkultur, und es gibt auch keine Leitkulturen in Deutschland. Wir leben in Frieden miteinander, weil wir gelernt haben, die Bayern zu ertragen.“
Fast könnte man meinen, dass Deutschlands Lage im Zentrum Europas, mit seinen vielen Klein- und Kleinststaaten, die in ständig variierenden Allianzen immer neuen größeren Nachbarn auch kulturell zugewandt waren, im Rivalität und Feindschaft einander verbunden, mit seinen Dynastien, die in ganze Europa Thröne bestiegen haben, dieses Land zu einer wilden, multikulturellen Mix der unterschiedlichsten Kulturen ganz Europas verschlungen haben, dass Friesen und Schwaben, Rheinländer und Sachsen heute kulturell nur durch eine national definierte Sprache, die manche besser, manche schlechter beherrschen, sowie durch gemeinsame Witze über die Deutsche Bahn vereint sind.
Es gibt keine deutsche Leitkultur, und es gibt auch keine Leitkulturen in Deutschland. Wir leben in Frieden miteinander, weil wir gelernt haben, die Bayern zu ertragen, selbst wenn uns deren Vorstellungen von einem religiösen Einparteienstaat anwidern, weil wir die Kehrwoche hinnehmen können und weil wir die Dinge, die wir am anderen schätzen, adaptieren und den anderen ansonsten Mensch sein lassen. In Preußen manifestierte sich diese Idee als: „hier muss ein jeder nach seiner Fasson selich werden“.
Und was uns für Schwaben, Sachsen oder Rheinländer möglich ist, sollte doch wohl auch für Syrer, Ukrainer oder Kongolesen leistbar sein. Ansonsten müssen wir halt wieder das Französische zur deutschen Leitkultur machen, so wie es eben seit jeher für den Großteil des heute noch zur Bundesrepublik gehörenden Teils Europas üblich war.
„Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ‚was ist deutsch?‘ niemals ausstirbt.“ (Friedrich Nietzsche)
Oder wir greifen zum Abschluss einfach mal ganz tief in die Mottenkiste und auf einen Mann zurück, der seinerzeit bereits das Selbstverständnis der Deutschen als Volk von Dichtern und Denkern, als „Kulturvolk“, als eine Selbsttäuschung durchschaut hatte: „Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ‚was ist deutsch?‘ niemals ausstirbt.“ (Friedrich Nietzsche)
Trösten wir uns daher einfach mit der Erkenntnis: Solange wir uns ständig aufs Neue einer lächerlichen Phantomdebatte über angebliche deutsche Leitkultur stellen müssen, ist Deutschland so deutsch, dass sich niemand in der Union oder der AfD darum sorgen müsste, dass Deutschland seine deutsche Identität verliert. Meinung
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