Parteitag
Heimat, Leitkultur, CDU
Leitkultur steht auf dem kommenden CDU-Parteitag wieder einmal auf dem Programm – ein Dichter-Denker-Streifzug vom Saarland bis hin zur jüdisch-christlichen Grätsche.
Von Anja Seuthe Donnerstag, 02.05.2024, 10:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 02.05.2024, 10:23 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Nun steht er also wieder einmal an, der Parteitag unserer derzeit noch größten Volkspartei, der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Ob sie das bleibt, hängt auch von den Entscheidungen ab, die jetzt in Berlin getroffen werden. Der Entwurf des neuen Grundsatzprogramms liegt vor und enthält viel Heimat. Ganze 24-mal kommt das Wort in der einen oder anderen Kombination vor.
In diesem Zusammenhang wird von den Konservativen auch das Konzept der Leitkultur wieder aufgewärmt, und zwar als Grundvoraussetzung für unser Zusammenleben und den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Obwohl wir Deutschen uns bekanntlich in den letzten 30 Jahren nicht darauf haben einigen können, was der Begriff denn nun genau bedeutet.
Selbsternannte Patrioten wissen natürlich ganz genau, was sie sich darunter vorstellen. Das sagen sie aber nicht. Stattdessen schwafeln sie von der gemeinsamen Geschichte, der gemeinsamen Sprache und der jüdisch-christlichen Tradition. Von den Werten der aufgeklärten Neuzeit, die sich deutlich vom dunklen Mittelalter und ähnlich gelagertem Ausland und dessen Bewohnern abheben.
„Unsere deutschen Denker und Dichter haben wir uns nachträglich einverleibt.“
Mit Fakten hat das nicht allzu viel zu tun. Eins ist die deutsche Geschichte aber ganz sicher: kurz! Deutschland, wie wir es heute kennen, gibt es erst seit 1871, also gerade mal gut 150 Jahre. Vorher gab es ein Sammelsurium von wechselnden Kleinstaaten und Allianzen. Unsere deutschen Denker und Dichter haben wir uns nachträglich einverleibt.
In der Leitkulturdebatte verlangt ein Nutzer auf Twitter, jeder solle erst einmal „Das Lied von der Glocke“ von Friedrich Schiller auswendig lernen. Zweifelsohne ist das ein tolles Gedicht. Dumm nur, dass Schiller kein Deutscher war. Geboren wurde er als Württemberger, später wurde er Staatsbürger von Sachsen-Weimar und erhielt 1792 auch noch die französische Staatsbürgerschaft. Frankreich gab es nämlich damals schon. Und wir haben viel gemeinsame Geschichte. Karl, den Großen, zum Beispiel, der in Frankreich Charlemagne heißt. Sicher auch, weil er von Aachen aus das Frankenreich regierte. Was ja nun ganz nach Frankreich klingt. Wo ist da die Grenze? Vor oder hinter dem Elsass?
Was ist mit dem Saarland, wo nach dem Zweiten Weltkrieg noch mit französischen Franken bezahlt wurde? Das Saarland gehört erst seit 1957 zur Bundesrepublik Deutschland, wissen viele gar nicht mehr, die sich auf die deutsche Geschichte berufen. Unsere derzeit gültigen internationalen Grenzen sind übrigens noch neuer. Die gibt es erst seit 1990. Wenn jetzt jemand meint, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands zähle nicht, dann soll er sich gesagt sein lassen, dass auch Österreich mal Teil des Deutschen Bundes war. Und dann aus rein machtpolitischen Gründen nicht mehr. Nun ist Österreich eine ganz eigene Nation, trotz der deutschen Sprache.
„Gemeinsame Geschichte? Die habe ich eher mit den „Ausländerkindern“, mit denen ich in den 70er Jahren die Schulbank gedrückt habe.“
Ich muss zugeben, dass mir als Kind dank Urlaub und Schüleraustausch Österreich und auch Frankreich näher waren, als die DDR. Gemeinsame Geschichte? Die habe ich eher mit den „Ausländerkindern“, mit denen ich in den 70er Jahren die Schulbank gedrückt habe. Aber niemand will wohl ernsthaft behaupten, dass die BRD und die DDR eine gemeinsame Geschichte haben. Wenn Sie mir nicht glauben, sehen Sie sich doch nur mal die Entwicklung der Religion in beiden deutschen Teilstaaten an. Die jüdisch-christlichen Werte als Grundlage unserer Kultur, die im Westen immer noch gegen die quasi wertefreie Aufklärung verteidigt werden, sind den Ostlern erfolgreich ausgetrieben worden, als sich die Regierung in die Kultur einmischte. Religion als bindendes Glied ist definitiv passé.
Jüdisch-christlich ist sowieso eine gewagte Grätsche, wenn man an die deutsche Geschichte denkt. Obwohl wir hier eine lange Tradition von gelebter jüdischer Kultur haben, klingt die Kombination von „jüdisch-christlich“ ein wenig zu harmonisch, wo die Deutschen doch so viel Mühe in die wissenschaftliche Beweisführung investiert haben, dass die Juden eben keine Deutschen seien könnten, sondern minderwertig.
„Der Holocaust ist nicht das einzige traurige Kapitel in der kurzen deutschen Geschichte. Da haben wir auch noch zwei angefangene Weltkriege und einen Völkermord in Afrika.“
Der Holocaust ist nicht das einzige traurige Kapitel in der kurzen deutschen Geschichte. Da haben wir auch noch zwei angefangene Weltkriege und einen Völkermord in Afrika. Super, die aufgeklärte Neuzeit. Und dann bilden wir uns etwas ein auf unsere deutschen Werte? Auf unsere westlichen Werte? Ach, hören Sie doch auf! Was denn bitte für westliche Werte? Kolonisierung ganzer Kontinente? Einsatz von Atombomben? Zerstörung unliebsamer Staaten, weil man es kann und es sich wirtschaftlich lohnt? Folter ausgelagert auf rechtsfreie Räume wie Guantánamo?
Aber kommen wir zurück zu Deutschland. Ich selbst bin im Grenzgebiet aufgewachsen. An der Grenze zwischen dem Rheinland und Westfalen. In den Siebzigern konnte man die Grenze noch an der Farbe der Kühe erkennen. Die Kühe im Rheinland waren schwarz-weiß, unsere braun-weiß. Aber auch sonst war die Kultur recht unterschiedlich. Rosenmontag hatte ich in der westfälischen Grundschule Unterricht, während in der rheinischen Nachbarstadt die Jecken Karneval feierten. Sonntags waren bei uns die Innenstädte leergefegt. Jeder war draußen in der Natur, vorzugsweise dort, wo niemand sonst ist. In der rheinischen Nachbarstadt traf man sich sonntags mit Kind und Kegel in den Innenstädten, um zu flanieren, zu klönen und Eis zu essen.
Selbst das Einkaufsverhalten unterscheidet sich. Während für rheinische Verkäufer und Kunden ein ausgiebiges Schwätzchen zum Einkaufserlebnis dazu gehört, verabschieden sich westfälische Kunden peinlich berührt gleich wieder, wenn sie von einem Verkäufer gefragt werden, ob man ihnen weiterhelfen könne. Denn wie soll man sich in Ruhe umsehen, wenn jemand hinter einem steht? Und von der Sprache will ich gar nicht erst anfangen. Nur so viel, als ich in der rheinischen Nachbarstadt aufs Gymnasium kam, habe ich so einiges nicht mehr verstanden. Und fühlte mich oft auch nicht verstanden, woll? Ich meine, was sagt man denn, wenn jemand in der Klasse ein Buch hochhält und laut ruft: „Wem ist das?“ Und dann noch jemand antwortet: „Das ist mir!“?
„Der deutsche Bund, aus dem die Bundesrepublik entstanden ist, ist nicht so alt, dass man nicht merken würde, dass hier unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen.“
Der deutsche Bund, aus dem die Bundesrepublik entstanden ist, ist nicht so alt, dass man nicht merken würde, dass hier unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen. Am krassesten ist ja, dass das alles innerhalb eines Bundeslandes passiert. Und zwar nicht nur in Nordrhein-Westfalen. Wir haben weitaus mehr an Kulturen zu bieten, als wir Bundesländer haben.
Wie die Preußen es damals geschafft haben, im Deutschen Kaiserreich alles unter einen Hut zu bringen? Nun, mit einem Faible für das Militär. Da durfte dann jeder mitmachen. Sogar Schulkinder trugen damals Uniformen. Obwohl meines Erachtens „deutsch“ ein Etikettenschwindel war. Schließlich wurde der preußische König zum deutschen Kaiser und regierte weiter von der preußischen Hauptstadt Berlin aus. Aber durch die Umbenennung war das wohl auf einmal gar nicht mehr so schlimm. Das wurde es erst später, als klar wurde, wohin eine durchorganisierte Gehorsamskultur führt. Dahin will ich sicher nicht zurück. Ich hoffe, auch sonst niemand.
„Schaffen nicht seit Jahrzehnten alle Menschen in Deutschland eine gemeinsame Kultur? Mit der sich dann alle identifizieren können?“
Was ist also unsere Leitkultur? Ist Kultur nicht das, was sich per Definition ständig weiterentwickelt? Schaffen nicht seit Jahrzehnten alle Menschen in Deutschland eine gemeinsame Kultur? Mit der sich dann alle identifizieren können? So sollte es doch sein! Warum versuchen nun mal wieder Politiker, Kultur festzuschreiben? Das funktioniert schon bei der Sprache nicht. Während noch über das Gendern gestritten wird, ist den einschlägigen Damen und Herren offenbar entgangen, dass mittlerweile selbst im Duden neben „Software-Update“ und „Déjà-vu“ auch Wörter wie „yallah“ und „wallah“ stehen. Schlagen Sie es ruhig nach.
Sicher ist, dass die Einflüsse, die von außerhalb unserer Grenzen kommen, ob nun über Menschen, Medien oder Mode, nicht mehr aus unserem Bund der Kulturen wegzudenken sind. Stört das? Sicher nicht. Für mich gehört kulturelle Vielfalt zu Deutschland. Das ist etwas, auf das wir Menschen in Deutschland stolz sein können. Und das sollten wir uns auch nicht nehmen lassen. Meinung
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