Ansichten & Aussichten
So nicht! Rassismus als Abiturthema
Der neue Lehrplan in Baden-Württemberg ignoriert den Rat der Fachleute und macht ein Buch, in dem das N-Wort über 100-mal verwendet wird, zur Abi-Pflichtlektüre. Ausbaden werden es die Schulen.
Von Miriam Rosenlehner Montag, 27.03.2023, 13:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 28.03.2023, 7:54 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
„Ich schwöre, dass ich mein Amt nach bestem Wissen und Können führen, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, die Landesverfassung und das Recht achten und verteidigen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ Diesen Eid schwören Beamte und daher auch verbeamtete Lehrkräfte zu Beginn ihrer Dienstzeit. Eine Ulmer Lehrerin geriet nun in Konflikt, wie sie diesen Eid verwirklichen kann, wenn der Dienstherr dem vermutlich widersprechende Anweisungen gibt.
Die Lehrerin of Color ist aufgrund des neuen Bildungsplans 2024 gezwungen, in ihrem Unterricht ein Buch zu behandeln, das als Unterrichtslektüre denkbar ungeeignet ist. Weil die Beamtin aber dazu verpflichtet ist, sieht sie nur den Ausweg, sich unbezahlt freistellen zu lassen. Ungewohnt schnell entschied der Dienstherr, die Lehrerin trotz Lehrermangel zu beurlauben. Offenbar wollte man sich des Problems umgehend entledigen.
Die Ulmerin startete eine Petition. Darin wird gefordert, die 1951 erstmals erschienene Schrift „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen aus der Sammlung der verpflichtenden Lektüren des neuen Bildungsplans Baden-Württembergs zu entfernen. Unterstützt wird sie dabei von namhaften Rassismusforschern wie Professor Karim Fereidooni, Geschichts- und Erziehungsdidaktikern und vielen weiteren Spezialisten zum Thema, die Erstunterzeichner der Petition sind.
Der Grund für all das: Der ungefilterte Rassismus und Sexismus in dem Werk. Über 100-mal wird darin das N-Wort verwendet. Die nichtweißen Figuren in der Geschichte sind holzschnittartige Darstellungen veralteter Stereotype, der rassistische Hass, der sich aus dem Werk ergießt, wird Zielpersonen von Rassismus Schmerzen bereiten.
Der Zwang, Rassismus im Klassenzimmer zu reproduzieren, passt nicht zur Achtung der Menschenwürde nach Art. 1 des Grundgesetzes. Er passt nicht dazu, Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben und auch nicht dazu, sein Amt nach bestem Wissen und Können zu führen, wozu Lehrpersonen laut Eid verpflichtet sind.
Im Kultusministerium sieht man das offenbar anders. Die Kultusministerin sagt: „Es geht darum, deutlich zu machen, wie Rassismus Gesellschaften prägt: damals in den 50er-Jahren, als der Roman entstanden ist, aber auch heute. Das zu behandeln, finde ich sehr wichtig.“
Auch Kultusstaatssekretärin Sandra Boser äußerst sich im SWR zum Thema: „Also dieses Buch befindet sich ja im öffentlichen Diskurs und warum darf es da nicht an Schulen besprochen und genau auch dieses Thema des Rassismus klar benannt werden. Wenn wir Schule als closed shop verstehen und nicht auch die Öffnung haben, dass wir kritische, schwierige Themen in Schule besprechen, wie schaffen wir es dann, dass wir Schülerinnen und Schüler genau für dieses Thema sensibilisieren und ihnen auch ganz klar mitgeben: Was ist Rassismus?“
„Ist das bewusstes Mauern oder einfach Unwissenheit?“
Das ist die Haltung, mit der die Zuständigen auf das Problem reagieren. Ist das bewusstes Mauern oder einfach Unwissenheit? Denn die Statements der Politik verstehen zumindest falsch, was der Anlass der Beschwerde ist. Eine Unverfrorenheit, den Engagierten vorzuwerfen, sie wollten Rassismus nicht zum Unterrichtsthema machen. Und eine übliche Strategie, Rassismus zu dethematisieren, die mit den Fachworten Gaslighting und sekundärer Rassismus gut beschrieben ist. Aus der gesellschaftlichen Machtposition heraus werden die Einwände von Rassismuserfahrenen verdreht, um sie ignorieren zu können.
Rassismus oder Rassismuskritik unterrichten?
Es wirkt ignorant, den Unterschied zwischen Rassismus und Rassismuskritik hier misszuverstehen. Die Frage ist natürlich nicht, ob man Rassismus zum Unterrichtsthema machen soll, sondern wie. Es spricht Bände, dass eine einzelne rassismuserfahrene Lehrkraft die Einzige zu sein scheint, die sich bisher fragt, wie man ein solches Werk im Unterricht behandeln soll.
Der Bildungsplan Baden-Württemberg erklärt, welche Rolle Pflichtlektüre haben soll: „Bei der Beschäftigung mit den Pflichtlektüren und anderen komplexen literarischen Texten eröffnen sich den Schülerinnen und Schülern (…) unterschiedliche Perspektiven auf persönliche, gesellschaftliche, berufliche und weltanschauliche Fragestellungen“ heißt es da. Aber die infragestehende Lektüre zeigt nur eine Perspektive: Die des Rassisten.
Das hat Bedeutung für die schulische Praxis. Denn: Lesen Schüler dann Teile des mit missachtenden Begriffen für Nichtweiße und Frauen gespickten Werks laut im Klassenzimmer vor? Wie geht es einer Schüler:in, die Zielperson von Rassismus und Sexismus ist, wenn sich Lehrpersonen für diese klassische Unterrichtssituation entscheiden würden? Es sitzt nach Abzug aller Betroffenen niemand mehr im Klassenzimmer, der unverletzt bleibt oder davon profitiert, dass auf knapp 300 Seiten Rassismus zitiert wird.
„Allein die Sexszenen werden die meisten Lehrkräfte zurückschrecken lassen… Deshalb werden sich Lehrkräfte häufig entschließen, das Werk alleine und zuhause lesen zu lassen.“
Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass lautes Vorlesen bei der Behandlung dieser Lektüre häufig zum Einsatz kommen wird. Allein die Sexszenen werden die meisten Lehrkräfte zurückschrecken lassen – zum Anfang des Buchs gibt es eine ausführliche Onanieszene, die nicht nur in ihrer Explizitheit jeder Beschreibung spottet, sondern auch in ihrer Frauenfeindlichkeit. Deshalb werden sich Lehrkräfte häufig entschließen, das Werk alleine und zuhause lesen zu lassen. Wie genau soll dieser Strom an Hass, Angst und Verachtung, den der Autor zitiert, eigenständig von einer Schüler:in verarbeitet werden? Alleine Lesen ist erst Recht keine Lösung.
Gängige Methoden des Deutschunterrichts würden bei der Behandlung des Werks versagen: Wir wollen nicht, dass Schüler:innen sich in rassistische Figuren einfühlen, das ist nicht der Lerngegenstand. Wir wollen auch nicht, dass Schüler:innen sich in die Schwarzen Figuren des Buchs einfühlen. Wir können daraus nicht darüber lernen, was Rassismus mit Zielpersonen macht, weil nur bewusst verachtend gezeichnete Abziehbilder Schwarzer Menschen vorkommen.
Wollen wir Figuren und Charakterzüge von Zielpersonen beschreiben lassen, um die Erkenntnis zu fördern, wie man eine Figur rassistisch darstellt? Oder sollten wir lernen, wie man Figuren ohne Rassismus entwirft?
„Wir alle sind immer noch unerfahren, Rassismus zu erkennen, ihn zu besprechen oder Strategien zu entwickeln, wie wir Rassismus entschärfen und obsolet machen können.“
Auch die produktionsorientierten Methoden des Deutschunterrichts versagen, zum Beispiel Briefe an Figuren, einen Tagebucheintrag einer Figur verfassen lassen oder das Umschreiben und Weiterschreiben von Texten. Mit dem Werkzeugkasten der gängigen Deutschmethoden werden Lehrkräfte zwangsläufig Rassismus unterrichten, nicht dessen Kritik, nicht die Erklärung seiner Zerstörungskraft und nicht die Frage, wie wir Rassismus entgegenwirken können.
Ersatzprobe
Wir alle sind immer noch unerfahren, Rassismus zu erkennen, ihn zu besprechen oder Strategien zu entwickeln, wie wir Rassismus entschärfen und obsolet machen können. Es kann helfen, die regelhaften Argumentationsmuster, die Rassismus verwendet, sichtbar zu machen, damit auch Unerfahrene schneller verstehen, wo das Problem liegt.
Stellen wir uns deshalb vor, wir wollten das gesellschaftliche Problem sexualisierter Gewalt an Kindern im Unterricht adressieren. Unser Ziel wäre demnach, zu verhindern, dass weiter Menschen zu Opfern werden. Würden wir dazu eine Lektüre benutzen, die sexualisierte Gewalt aus der Perspektive des Missbrauchers zeigt? Würden wir unseren Kindern zumuten, 300 Seiten Rechtfertigungen und lüsterne Darstellungen aus der Perspektive des Täters zu lesen? Würden wir wollen, dass unsere Kinder sich in die Psyche des Täters einfühlen? Würden wir einen „Liebesbrief“ des Missbrauchers an sein Opfer im produktionsorientierten Unterricht schreiben lassen, damit sie das Problem des sexuellen Missbrauchs an Kindern besser verstehen? Hier wäre spätestens allen klar, wo die Probleme liegen.
Wie würden die Aussagen etwa der Staatssekretärin auf uns wirken, wenn sie nicht über Rassismus, sondern über sexualisierte Gewalt an Kindern gesprochen hätte? Ich teste das mit einer im Deutschunterricht üblichen Methode: Dem Umschreiben von Texten. Ich ersetze das Wort „Rassismus“ durch den Begriff „sexualisierte Gewalt an Kindern“ im Statement der Staatssekretärin, um die Argumentationsstruktur in einem anderen Kontext sichtbar zu machen. So würde es sich anhören:
„Also dieses Buch befindet sich ja im öffentlichen Diskurs und warum darf es da nicht an Schulen besprochen und genau auch dieses Thema der sexualisierten Gewalt an Kindern klar benannt werden. Wenn wir Schule als closed shop verstehen und nicht auch die Öffnung haben, dass wir kritische, schwierige Themen in Schule besprechen, wie schaffen wir es dann, dass wir Schülerinnen und Schüler genau für dieses Thema sensibilisieren und ihnen auch ganz klar mitgeben: Was ist sexualisierte Gewalt an Kindern?“
Interessant bleibt bei dieser Ersatzprobe, warum wir den Fehler hier sofort spüren können, aber nicht, wenn wir dasselbe mit Zielpersonen von Rassismus tun.
Es mag daran liegen, dass Menschen ohne Rassismuserfahrung Rassismus bisher noch nicht als schlimm einordnen. Sexualisierte Gewalt wurde erst durch einen gesellschaftlichen Bewusstwerdungsprozess als Angriff mit katastrophalen Wirkungen auf die Zielpersonen erkannt. Dieser Prozess steht für das Thema Rassismus offensichtlich noch aus. Wenn das allerdings der Stand der gesellschaftlichen Wahrnehmung zum Thema Rassismus ist, wie können wir davon ausgehen, dass unausgebildete Lehrkräfte im Stande sind, Rassismus im Unterricht angemessen aufzugreifen?
Die Macher der Bildungspläne ignorieren immer noch, dass Zielpersonen von Rassismus in ihren Schulen lehren und lernen. Gerade beim Thema Rassismus sollten sie deshalb endlich rassismuserfahrene Fachleute hinzuziehen.
Vermutlich könnten wir die Hilflosigkeit der Gesellschaft beim Thema Rassismus für die Zukunft ändern, wenn wir fachlich fundierten rassismuskritischen Unterricht in Schulen installieren würden. Für den Anfang wären Zielpersonen schon froh, wenn die Mehrheitsgesellschaft wenigstens wüsste, dass sie nichts weiß.
Vorlesungen & Podien von Miriam Rosenlehner:
Augsburg: 29.3.23, 18:30 Uhr, Augustanasaal, Im Annahof 4
Leipzig: 13.4.23, 19:00 Uhr, Soziokulturelles Zentrum Frauenkultur, Windscheidstr. 51
Berlin: 15.4.23, 19:00 Uhr, Buchhandlung InterKontinental, Sonntagstr. 26
Solange weder unsere Lehrkräfte, noch unsere Bildungspolitiker:innen im Thema Rassismuskritik beschlagen sind, plädiere ich für einfache Lösungen. Wir können weniger falsch machen, wenn wir authentische Literatur zum Thema Rassismus lesen, die von Menschen mit Rassismuserfahrung verfasst wurde. Für schnelle Lösungen des aktuellen Tauben-Problems könnte der Bildungsplan deshalb auf von Zeitzeugen verfasste Lektüre zurückgreifen, die Rassismus aus der Betroffenenperspektive zeigen können. Exemplarisch seien deshalb die Autoren Theodor Wonja Michael und Hans-Jürgen Massaquoi genannt.
Authentische Texte verhindern das Schlimmste. Um dem Thema Rassismus in Schulen endlich angemessen begegnen zu können, gilt aber, dass man das zuerst lernen muss, bevor man es lehren kann.
Meinung
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Mir ist aufgrund der Kommentare im MiGAZIN nicht ganz klar, was an dem Werk von Koeppen kritisiert wird: Geht es alleine darum, dass er vor inzwischen 70 Jahren (als die Verwendung des besagten Wortes sicherlich eine andere Bedeutung hatte als heute) dieses Wort häufig verwendet hat, oder enthält der Roman tatsächlich rassistische Denkmuster? Dies zu unterscheiden, scheint mir wichtig, wenn man entscheiden will, wie mit dem Roman umzugehen ist. Wenn letzteres der Fall ist, ist es wohl tatsächlich nicht korrekt, ihn als Schullektüre zu verwenden. In ersterem Fall sollte man wirklich überlegen, ob es legitim ist, literarische Produkte, die in anderen historischen Kontexten entstanden sind, und Personen, die in solchen anderen Kontexten gelebt haben, sozusagen rückwirkend aus der heutigen Perspektive zu kritisieren. Im schlimmsten Fall wird man mit so einem Vorgehen große Teile der abendländischen Geistesgeschichte an den Pranger stellen können.
Und zu welchen Bewertungen man dabei kommt, muss argumentativ-objektivierend entschieden werden und nicht allein aufgrund der Tatsache, dass sich irgendjemand durch einenText verletzt fühlt.