Ina-Maria Maahs, MiGAZIN, Integration, Migration, Diskriminierung
Ina-Maria Maahs © Zeichnung: MiG

Stereotype Bezeichnungspraktiken

Von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“ zu „kleinen Paschas“

Ausgehend von der Debatte um die Silvesterkrawalle wird nachgezeichnet, wie bestimmte Bezeichnungen genutzt werden. Denn sie sind nicht neutral, sondern dienen dazu, Individuen zu klassifizieren und als Gruppe zu diskreditieren.

Von Donnerstag, 02.02.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 07.02.2023, 16:44 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Durch die Silvesterkrawalle in Berlin wurde eine Integrationsdebatte ausgelöst, die hoch emotional alte Konfliktlinien wieder aufwärmt. So hat sich der Diskurs nach nur wenigen Tagen von der Diskussion eines Böllerverbots hin zu einer Debatte über Sprachverbote auf deutschen Schulhöfen verschoben. Um politisch Zusammenhänge zwischen diesen nicht notwendigerweise verknüpften Themen herstellen zu können, wird sich verschiedener Kommunikationsstrategien bedient.

Betrachtet man den bildungspolitischen Diskurs der letzten Monate auf einer sprachlichen Ebene genauer, zeigt sich beispielsweise die große Bedeutung bestimmter Begriffsnutzungen. Insbesondere Bezeichnungspraktiken entfalten in den Debatten um Integration, Zuwanderung und Spracherwerb eine starke Wirkmacht. Dabei werden bestimmte Personengruppen von Personen außerhalb dieser Gruppe mit Bezeichnungen belegt, die sie ggf. nicht als Selbstbezeichnung gewählt hätten. Die bezeichnenden Personen üben demnach Macht aus gegenüber den Personen, die bezeichnet werden.

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Um diese Prozesse im Bildungskontext genauer nachzuzeichnen, müssen wir uns zunächst zwei entscheidende Grundbedingungen unseres Bildungssystems in Erinnerung rufen:

  1. Bildungschancen werden nicht einfach dadurch gleichverteilt, dass wir allen Bewohner:innen des Landes einen theoretischen Zugang zum Bildungssystem gewähren, indem beispielsweise niemand aufgrund seines Geschlechts, der Hautfarbe, Klasse, Religion oder ähnlichem grundsätzlichen von Bildungsangeboten ausgeschlossen wird. In Bezug auf die individuellen Bildungschancen können sich solche Faktoren indirekt trotzdem hochgradig und sehr vielfältig wirksam zeigen. So können Einschränkungen im Lernprozess z.B. auch dadurch entstehen, dass für einen selbst kaum bildungserfolgreiche Vorbilder in einem bestimmten Bereich existieren oder man auf weniger materielle Ressourcen zurückgreifen kann.
  2. Es kann daher als Aufgabe der Schule verstanden werden, unterschiedliche Ausgangslagen von Lernenden auszugleichen und bedarfsorientierte Förderangebote zu machen.

Das Vokabular, das in aktuellen bildungspolitischen Debatten von einigen Akteur:innen genutzt wird, entlarvt jedoch eine weiter vorherrschende Perspektive auf Lernende, die die Ursachen pädagogischer sowie integrativer Misserfolge zunächst bei den betroffenen Lerner:innengruppen und ihren Familien selbst sucht.

„In der Medienberichterstattung … ist beispielsweise immer wieder von „Risikoschülern“ zu lesen gewesen… Diese Bezeichnung legt nahe, dass diesen Schüler:innen ein Risko innewohnt.“

In der Medienberichterstattung über die IQB-Bildungstrends 2021 ist beispielsweise immer wieder von „Risikoschülern“ zu lesen gewesen (z.B. in der FaZ; in der ZEIT und der taz). Diese Bezeichnung legt nahe, dass diesen Schüler:innen ein Risko (im Bildungssystem zu versagen) innewohnt. Diesen Denkprozess müsste man nach dem oben skizzierten Verständnis von Bildungsgerechtigkeit aber eigentlich umdrehen und von einem „Risikobildungssystem“ sprechen, dass den Bildungserfolg der Schüler:innen gefährdet.

Lernenden-Bezeichnungen wie diese sind jedoch stark etabliert im öffentlichen Bildungsdiskurs und werden mit jeder neuen öffentlich wahrgenommenen Bildungsstudie auf’s Neue reproduziert. Sie erfüllen die Funktion, Lernende im Sinne einer „sozialen Differenzierung“ auf eine generalisierende Art und Weise zu klassifizieren und in Schubladen einzuordnen. So werden aus Individuen Teile einer Gruppe, der man allgemeine Merkmale zuschreibt. Entlang der Differenzlinie Zuwanderung/ Deutsch als Zweitsprache begegnen einem in diesem Kontext z.B. auch Bezeichnungen wie „Migranten- oder Flüchtlingskinder“, Schüler:innen „mit DaZ“, „mit Migrationshintergrund“ oder „mit Zuwanderungsgeschichte“ sowie „DaZ-SuS“, die diese Funktion ebenfalls erfüllen können.

„So sprach die Bundesinnenministerin Nancy Faeser offiziell von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“. Das ist eine Bezeichnung, die … auf gravierende Art und Weise … ganze Gruppen von Menschen unter Generalverdacht stellt.“

Diese Effekte können noch dadurch gesteigert werden, dass solche Bezeichnungen direkt mit wertenden Adjektiven verknüpft werden, wie wir es in der Diskussion um die Silvesterkrawalle 22/23 erlebten. So sprach die Bundesinnenministerin Nancy Faeser offiziell von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“. Das ist eine Bezeichnung, die wahrscheinlich darauf abzielen sollte, sich von Gewalttaten jeglicher Art zu distanzieren, aber auf gravierende Art und Weise alt tradierte Stereotype gegen Migrant:innen reproduziert und ganze Gruppen von Menschen unter Generalverdacht stellt.

Bedient wird dabei unter anderem ein verbreitetes Gedankenkonstrukt, das zwischen „guten“ und „schlechten“ Menschen mit Migrationshintergrund unterscheidet. In diesem auch durch die Medien reproduzierten Klischee stehen auf der einen Seite diejenigen, die bildungserfolgreich sind, gut in die Gesamtgesellschaft integriert leben und die deutsche Sprache sicher sowie akzentfrei beherrschen und auf der anderen die, die zu den Bildungsverlierer:innen gehören, kriminell und gewaltbereit sind, eher in ihrer eigenen segregierten Community bleiben und die deutsche Sprache oft nur rudimentär oder mit starkem Akzent beherrschen.

Entsprechend wurde dieses Narrativ nur allzu gerne von anderen politischen Akteuer:innen aufgegriffen, um im Kontext der Integrationsdebatte Forderungen nach einem stärkeren Durchgreifen gegenüber Personen neu zu beleben, die in ihrem Agieren und/oder Aussehen von einer wertkonservativen deutschsprachigen weißen Norm abweichen. So stellte beispielsweise Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU, in einer nachfolgenden Talkshow eine direkte Verbindung zwischen den randalierenden jungen Männern der Silvesternacht und Grundschülern mit Migrationshintergrund her, die sich seiner Meinung nach unzureichend in das deutsche Bildungssystem integrieren und von ihm mit dem stark kulturalisierenden Ausdruck „kleine Paschas“ bezeichnet wurden.

„„Kleine Paschas“ … Dieser Terminus reproduziert nicht nur ebenfalls Stereotype, sondern ist auch offensichtlich in hohem Maße exkludierend gemeint.“

Dieser Terminus reproduziert nicht nur ebenfalls Stereotype, sondern ist auch offensichtlich in hohem Maße exkludierend gemeint. Das wird besonders dadurch deutlich, dass Merz eine Dualität zwischen diesen vermeintlich sozial auffälligen Lernern (bewusst nicht gegendert!), die sich ebenso vermeintlich zwangsläufig zu gewaltbereiten Jugendlichen entwickeln müssen, und den wohlwollenden, aber hilflosen deutschen Lehrer:innen aufbaut. Diese vorrangig weiblichen Lehrkräfte würden, so Merz‘ Schlussfolgerung, im Umgang mit den von ihm zu „Migrationsanderen“ stilisierten Schülern politisch völlig allein gelassen, wenn Abschiebungen nicht konsequenter durchgesetzt würden.

Konkrete Belege für diesen kritisch zu diskutierenden Argumentationsbogen liefert Merz keine, außer seine eigenen anekdotischen Erfahrungen im Gespräch mit Grundschullehrerinnen. Bemerkenswert für die deutsche Diskussion der Bildungschancengleichheit ist jedoch, dass er sich zum Abschluss dieser Passage ebenfalls auf „Chancen“ bezieht, die in Deutschland jedem gewährt würden. Dabei zeigt die Art und Weise seiner Argumentation deutlich, dass diese Chancen seinem Verständnis nach nicht bedingungslos gelten sollten, sondern bei Personen mit Migrationshintergrund ganz klar an die Erwartung zu knüpfen seien, sich so zu verhalten, wie er es als angemessen bewertet. Hier liegt demnach sehr offensichtlich ein stark einseitiges Integrationsverständnis zugrunde, das eine Anpassung nur von Seiten Zugewanderter erwartet und eine vollständige Assimilation in die Gesamtgesellschaft als ein Art Endzustand der geglückten Integration versteht.

„Ausgehend von dem Argument „Sprache ist der Schlüssel zu Integration“ kommt der CDU-Generalsekretär Mario Czaja zudem Schluss, dass in Deutschland niemand ohne Deutschkenntnisse eingeschult werden sollte. Eine solche Idee geht sowohl am aktuellen Forschungsstand zur Mehrsprachigkeitsdidaktik als auch an der Lebensrealität in einem Einwanderungsland völlig vorbei.“

Wie eng in diesem Gedankenkonstrukt Kompetenzen in der deutschen Sprache mit Integrationswillen verknüpft wird, zeigt sich besonders demonstrativ an der ebenfalls aus der Debatte hervorgegangenen Erneuerung der Forderung nach einer Deutschpflicht auf deutschen Schulhöfen. Ausgehend von dem Argument „Sprache ist der Schlüssel zu Integration“ kommt der CDU-Generalsekretär Mario Czaja zudem Schluss, dass in Deutschland niemand ohne Deutschkenntnisse eingeschult werden sollte.

Eine solche Idee geht sowohl am aktuellen Forschungsstand zur Mehrsprachigkeitsdidaktik als auch an der Lebensrealität in einem Einwanderungsland völlig vorbei und mutet daher im besten Fall aus der Zeit gefallen sowie wenig praktikabel an, im schlechtesten Fall rassistisch motiviert. Nicht nur ist das Recht auf Bildung als Menschenrecht mehrfach ratifiziert (in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 26; in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 14 und in der UN-Kinderrechtskonvention, Art. 28) und es herrscht in der Bundesrepublik Deutschland eine Schulpflicht für alle Kinder ab dem 6. Lebensjahr, auch verbietet das Grundgesetz (Art. 3) eine Diskriminierung aufgrund von Sprache, Heimat oder Herkunft, die bei einem Vorenthalt des Rechts auf Bildung aufgrund mangelnder Kenntnisse der deutschen Sprache fraglos vorliegen würde.

Für den Fall, dass doch Lernende mit Deutschkenntnisse ins deutsche Schulsystem eintreten, erklärt der Politiker, dass konsequent darauf geachtet werden sollte, „dass in den Schulen vor allem Deutsch gesprochen wird. Es geht nicht, dass auf den Schulhöfen andere Sprachen als Deutsch gesprochen werden“. Das wiederum widerspricht einem aktuellen Rechtsspruch, der einer türkischsprachigen Schülerin recht gibt, dass Strafarbeiten aufgrund einer Abweichung vom schulischen Deutschgebot rechtswidrig sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass die von Czaja geforderte Pflicht zum Sprechen in der deutschen Sprache nicht weiter zur Lebensrealität an deutschen Schulen gehört. Einige Schulen wurden in der Vergangenheit sogar für die Einführung eines Deutschgebots offiziell ausgezeichnet.

„Das Sprechen in der deutschen Sprache wird hier nicht als schulisch zu fördernde Kompetenz aufgefasst, sondern eher als eine bestimmte Verhaltensweise, an die Schüler:innen in Deutschland sich zu halten haben sollten.“

Analysiert man die Aussagen von Czaja genauer, wird aber noch etwas anderes deutlich: Das Sprechen in der deutschen Sprache wird hier nicht als schulisch zu fördernde Kompetenz aufgefasst, sondern eher als eine bestimmte Verhaltensweise, an die Schüler:innen in Deutschland sich zu halten haben sollten. Die Verantwortung für den Erwerb sprachlicher Kompetenzen im Deutschen wird also erneut an die Schüler:innen und ihre Eltern delegiert. Schließlich werden spezifische sprachliche Fähigkeit erwartet, ohne dass diese auch gezielt durch die Schule gefördert werden sollen.

Hinter den hier referierten Argumentationen steht also ein Konzept, das von Bewohner:innen Deutschlands eine Art Normverhalten erwartet. Abweichungen von dieser Norm werden markiert und diskreditiert. Diese Norm wird jedoch nicht offen partizipativ ausgehandelt, sondern gesetzt von Personen, die Macht besitzen. Bewusst oder unbewusst definieren Vertreter:innen dieser Denkweise, wie hier Merz und Czaja, eine solche Norm sehr eng an dem, was ihnen selbst vertraut ist. Das bedeutet, Personen in Deutschland sollten im besten Fall so aussehen, heißen, sprechen und handeln wie sie selbst. Personen, die dies nicht tun, werden als suspekt wahrgenommen und unter eine Art Generalverdacht gestellt, sich nicht angemessen in die Gesellschaft einzubringen.

„Es wäre wünschenswert, dass auch der Frage danach, was wir als Mehrheitsgesellschaft eigentlich tun können, um zum Gelingen von Integrationsprozesse beizutragen, mehr Raum in den entsprechenden Debatten eingeräumt werden würde.“

Dies lässt sich in der Debatte sehr anschaulich nachzeichnen, indem aufgrund von gewaltvollen Ausschreitungen plötzlich Phänotypen und Vornamen der Täter sowie, wie oben skizziert, Kompetenzen in der deutschen Sprache diskutiert werden. Worüber wir angesichts solcher Argumentationspraktiken jedoch viel eher diskutieren sollten, ist die Frage danach, wie sich (bildungs-)politische Debatten im Kontext von Zuwanderung und Integration respektvoll und differenziert führen lassen. Zudem wäre es wünschenswert, dass auch der Frage danach, was wir als Mehrheitsgesellschaft eigentlich tun können, um zum Gelingen von Integrationsprozesse beizutragen, mehr Raum in den entsprechenden Debatten eingeräumt werden würde.

Dazu sei angermerkt, dass es natürlich auch in diesem Artikel nicht gelingt, sich der Dilemmasituation der Bezeichnungspraktiken zu entziehen. Auch hier werden bestimmte Bezeichnungen genutzt und reproduziert, die kritisch diskutiert werden müssen. Gleichzeitig erscheint es wichtig, solche Diskussionen überhaupt anzustoßen und auf Problemlagen hinzuweisen, um dazu beizutragen, langfristig entsprechende Diskriminierungsprozesse abzubauen. Meinung

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