Saul Friedländer wird 90

Historiker und Zeitzeuge des Holocaust

Im Frühjahr 1939 muss ein kleiner jüdischer Junge mit seinen Eltern aus seiner Heimatstadt Prag flüchten, die von deutschen Truppen besetzt worden ist. Später wird er als Historiker den Holocaust erforschen - es wird sein Lebensthema.

Von Montag, 10.10.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 30.09.2022, 9:38 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Saul Friedländer hat wie kaum ein anderer Historiker den Holocaust zu seinem wissenschaftlichen Lebensthema gemacht. Er ist zugleich auch Zeitzeuge, kam 1932 in Prag als Sohn assimilierter Juden zur Welt. Seine Eltern wurden von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Er selbst überlebte den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust als Kind unter falschem Namen in einem katholischen Internat in Frankreich. Am 11. Oktober wird Friedländer, der heute in Los Angeles lebt, 90 Jahre alt.

Friedländer hatte Professuren in Genf, Tel Aviv und Los Angeles inne. Auch im hohen Alter nimmt der Historiker noch an den Debatten teil. So wehrt er sich gegen Versuche, den Massenmord an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten auf eine Stufe mit anderen Völkermorden zu stellen. Der Holocaust ist für ihn in seinem historischen Kontext präzedenzlos. Zugleich gelte für alle Opfer von Genoziden: „Selbst bei den schrecklichsten Massenmorden stirbt jedes Opfer für sich, das Leiden jedes einzelnen Menschen ist unvergleichbar“, schreibt Friedländer in dem jüngst erschienenen Sammelband „Ein Verbrechen ohne Namen“ (2022).

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Gescheiterte Flucht

In seinem monumentalen Standardwerk „Das Dritte Reich und die Juden“ beschreibt er die Verfolgung und den Massenmord an den Juden unter der NS-Herrschaft. Er zitiert aus Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen, um die Schicksale der Opfer anschaulich zu machen. Zu den Opfern zählen auch seine eigenen Eltern, Jan und Elli Friedländer. Sie gehörten zum deutschsprachigen jüdischen Bürgertum in Prag. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen flüchteten sie im April 1939 mit ihrem sechsjährigen Sohn nach Frankreich. Doch das Exilland sollte sich nicht als sicherer Zufluchtsort erweisen. Auch von dort wurden während des Krieges Juden in die Vernichtungslager deportiert.

Ein Fluchtversuch der Eltern in die Schweiz scheiterte 1942, sie wurden anschließend per Zug nach Auschwitz deportiert. Ihren Sohn hatten sie zuvor unter falscher Identität in einem katholischen Knabenseminar in Frankreich untergebracht und ihm damit das Leben gerettet. In einer Holocaust-Gedenkstunde des Deutschen Bundestags sprach Friedländer im Januar 2019 über die Leidensgeschichte seiner Familie. „Ich frage mich oft, ob meine Eltern während der drei Tage dieser höllischen Fahrt zusammen waren. ( ) Wussten sie, was sie erwartete“, schilderte der Mann mit dem dichten, weißen Haar seine bohrenden Fragen.

Einer der letzten Historiographen

Erst nach dem Krieg erzählte ein Jesuitenpater dem Vollwaisen von den Gaskammern und Verbrennungsöfen. Als 15-Jähriger wanderte er 1948 in den neu gegründeten Staat Israel aus, lernte Hebräisch und wurde in dieser Zeit zum überzeugten Zionisten. Seinen Vornamen Pavel änderte er in Saul.

Im Jahr 2007 wurde Friedländer mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Als einen der letzten „miterlebenden Historiographen“ des Völkermordes würdigte ihn die Jury. „Saul Friedländer hat den zu Asche verbrannten Menschen Klage und Schrei gestattet, Gedächtnis und Namen geschenkt“, heißt es in der Begründung. Damit habe er den Ermordeten die ihnen geraubte Würde zurückgegeben.

Angstanfälle im Land der Täter

Als junger Wissenschaftler reiste Friedländer, der seine akademische Karriere in Genf begann, nach Deutschland, um in den Archiven zu arbeiten. Im Land der Täter hätten ihn damals, in den 60er Jahren, „schreckliche Angstanfälle“ geplagt, berichtete er anlässlich der Friedenspreis-Verleihung in Frankfurt am Main. Das sollte später anders werden. Das Deutschland von heute erlebe er als liberales und demokratisches Land, das ihm keine Probleme mehr bereite, sagte der Historiker 2007 bei seinem Besuch in Frankfurt.

Im Juni 2021 zeichnete ihn die Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums Frankfurt mit dem Ludwig-Landmann-Preis für Mut und Haltung aus. In einer Videobotschaft mahnte der Historiker, der die Ehrung nicht persönlich entgegennehmen konnte, die Erinnerungskultur zum Holocaust zu bewahren, damit Deutschland ein „Bollwerk“ gegen den Judenhass bleibe. Der Antisemitismus sei nicht nur in der Vergangenheit eine „mörderische Kraft“ gewesen, unterstreicht Friedländer in dem Sammelband „Ein Verbrechen ohne Namen“, „er ist auch heute gefährlich, ganz gleich aus welcher Richtung er kommt.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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