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Der Deutsche Bundestag (Archivfoto) © Lichtblick / Achim Melde

Holocaust-Gedenken im Bundestag

Friedländer: Deutschland ist ein Bollwerk für wahre Demokratie

In der Gedenkstunde für die Opfer der NS-Zeit warnt der Historiker Saul Friedländer eindringlich vor Antisemitismus und Nationalismus. Deutschland sieht der Holocaust-Überlebende heute als Bollwerk gegen die Gefahren für Menschlichkeit und Freiheit.

Von Corinna Buschow Freitag, 01.02.2019, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 05.02.2019, 23:29 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Was ging in seinen Eltern vor, als sie ihn zurücklassen mussten? Wussten sie, was sie in Auschwitz erwartet? Konnten sie beim Transport zusammenbleiben? Für den Historiker Saul Friedländer, der mit seiner Holocaustforschung der Welt die Verbrechen der Nazis vor Augen führte, bleiben persönliche Fragen an die Zeit des Grauens wohl für immer unbeantwortet. Bewegend schilderte Friedländer am Donnerstag in der Gedenkstunde des Bundestags die Geschichte seiner Familie. Während er in Frankreich im Versteck den Holocaust überlebte, wurden seine Eltern in Auschwitz ermordet. Eindringlich warnte er sein Publikum vor neuem Hass auf Minderheiten und Nationalismus.

1942 floh die Familie des 1932 geborenen Friedländers nach Frankreich. Als schon bald klarwurde, dass es auch dort für Juden nicht mehr sicher ist, entschieden die Eltern, einen Versuch zur Flucht in die Schweiz zu unternehmen. Für den noch nicht zehnjährigen Sohn fanden sie das zu riskant und versteckten ihn, letztlich in einem katholischen Knabenseminar. Angekommen in der Schweiz wurden die Eltern zurückgeschickt und schließlich nach Auschwitz deportiert. Eltern mit Kindern hätten zu diesem Zeitpunkt bleiben dürfen, berichtete Friedländer: „In diesen Tagen waren rationale Entscheidungen für Juden sinnlos.“ Friedländer redete vor dem Parlament auf deutsch, entschuldigte sich zu Beginn für die „Unsicherheit“ in der Sprache, mit der er zwar aufwuchs, sie später aber vergaß. 1948 ging Friedländer nach Israel. Das Land habe Heimat und Zugehörigkeit bedeutet, sagte er: „Für Juden wie mich und für Juden überall, die einen eigenen Staat brauchten und ersehnten, war dessen Erschaffung lebensnotwendig.“

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Nationalismus besorgniserregend

Umso eindringlicher warnte Friedländer im Bundestag davor, das Existenzrecht Israels heute infrage zu stellen, vor Antisemitismus und neuen zerstörerischen Kräften. „Antisemitismus ist nur eine der Geißeln, von denen jetzt eine Nation nach der anderen schleichend befallen wird“, sagte er: „Der Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken und insbesondere ein sich immer weiter verschärfender Nationalismus sind überall auf der Welt in besorgniserregender Weise auf dem Vormarsch.“

Deutschland bezeichnete er als starkes Bollwerk gegen all die Gefahren und forderte dazu auf, standfest zu bleiben für Toleranz, Menschlichkeit und Freiheit, „kurzum für die wahre Demokratie“. Mit stehenden Ovationen würdigte das Publikum, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Abgeordneten und viele Besucher auf den Tribünen, seine 25-minütige Rede.

Schäuble: Verpflichtung zur Achtung der Würde

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte zuvor dazu aufgefordert, die Opfer des Nationalsozialismus nicht zu vergessen. Die im Grundgesetz festgeschriebene Verpflichtung zur Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen bezeichnete er als wesentliche Lehre aus den Verbrechen der Nazis. Es sei „die Antwort auf die Erfahrung, dass die Würde des Menschen millionenfach verletzt, geschändet wurde“, sagte er.

Der Bundestag gedenkt traditionell zum Holocaust-Gedenktag der Millionen Opfer des Nazi-Regimes. Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Allein dort wurden mehr als eine Million Menschen getötet. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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  1. keisner sagt:

    Wenn Herr Friedländer Deutschland als „Bollwerk gegen Nationalismus und für Toleranz und Menschlichkeit“ bezeichnet, so entspricht das sicher eher einem Wunschbild als der Wirklichkeit. Hat er nicht mitbekommen, wie sehr in den letzten Jahren der Rechtsstaat immer mehr ausgehöhlt, einem entfesselten Kapitalismus Tür und Tor geöffnet wird, Umwelt- und Sozialstandards durch internat.Handelsverträge unterlaufen werden, die Gesundheit und das Versprechen gegenüber den Bürgern auf menschenwürdige Existenzsicherung bewußt untergraben wird ?
    Wer wundert sich da noch, daß viele Verunsicherte das Angebot, traditionelle Sündenböcke für ihre soziale Lage verantwortlich zu machen, gern annehmen ? Von solchen Zusammenhängen möchten die applaudierenden Politschranzen natürlich nichts wissen. Sie müßten sonst rot vor Scham versinken, unfähig zur Selbstreflexion und Selbstkritik. Aber anderen vorschreiben, wie sie zu leben und wann sie ihre Parlamente neu wählen sollen, dazu sind sie in der Lage. Davon zu sprechen, wäre allerdings von Raul Friedländer zuviel verlangt.

  2. Ute Plass sagt:

    „Friedländer: Deutschland ist ein Bollwerk für wahre Demokratie“

    Da hat Friedländer wohl etwas übertrieben.

    In seinem hohen Lob für die deutsche Regierung hat er leider versäumt
    an deren Verantwortungsübernahme zu appellieren, hinsichtlich
    menschenwürdiger Verhältnisse, für die in Palästina lebenden Kinder,
    Frauen und Männer.

    Darauf hinzuweisen hätte seinem Nichteinverstandensein mit der israelischen Politik mehr Nachdruck verliehen.