Chor der geflüchteten Kinder
Dem Krieg mit Musik entkommen
Millionen Menschen weltweit haben die Youtube-Videos des Kinderchors der ukrainischen Chorleiterin Elena Petrikova gesehen. Im März floh sie vor dem Krieg und hat in Braunschweig eine neue Aufgabe gefunden.
Von Charlotte Morgenthal Donnerstag, 21.07.2022, 16:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 21.07.2022, 9:17 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
„Ukrainaaa“, singen die Kinder aus voller Kehle. Besonders bei dieser Liedzeile steht in den jungen Gesichtern eine Mischung aus Stolz und Sorge. In der Braunschweiger Domsingschule, der größten Einrichtung für evangelische Kirchenmusik in Deutschland, bilden seit ein paar Wochen geflüchtete Kinder unter der Leitung der Ukrainerin Elena Petrikova einen neuen Chor.
„Ausgezeichnet!“, ruft die 42-Jährige den Kindern fröhlich zu. Die schlanke Frau mit dem Flechtzopf hat vor ihrer Flucht selbst erfolgreich Chöre in der Ukraine geleitet. Die dazu auf Youtube verbreiteten Videos wurden weltweit millionenfach abgerufen.
Dem Krieg mit Musik entkommen
Nun steht Petrikova in einem Raum der Domsingschule und dirigiert, mal mit ausgestreckten Zeigefingern, mal mit schwungvollen Armbewegungen, 17 Kinder, deren Blicke konzentriert an ihr kleben. Pop-Bässe untermalen den Gesang. Die Kinder singen das Lied vom „Roten Schneeball“ („Oj, u lusi tscherwona kalyna“). Eigentlich ein patriotischer Marsch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde das Lied seit Kriegsbeginn zu einer Art neuen Nationalhymne. Es handelt von einer gebeugten Pflanze, dem roten Schneeball, die wieder aufgerichtet werden soll, ähnlich wie die Ukraine.
Anfangs hätten die Kinder viel über den Krieg und vor allem über die Flucht erzählt, sagt Petrikova. Wenn die Fünf- bis Zwölfjährigen aufzählen, woher sie kommen, nennen sie Orte des Krieges: Odessa, Charkiw, Kiew oder Dnipro. „Mit der Musik will ich ihnen vermitteln, dass sie dem Krieg entkommen und am Leben sind und ihre Aufmerksamkeit auf die schönen Dinge richten.“
Der Entschluss zur Flucht
Petrikova, gelernte Musikerin und Pädagogin, kam im März selbst aus dem ukrainischen Dnipro mit ihren zwei Söhnen nach einer viertägigen Fluchtreise mit dem Auto in Braunschweig an. „Als Raketen in unsere Stadt flogen, wurde meinem Mann und mir klar, dass es für unsere Kinder nicht sicher war, in der Ukraine zu bleiben.“ Die Wohnung im achten Stock bot keinen Schutz und in der Nähe gab es keine Luftschutzbunker. Als schließlich ihr Cousin als Zivilist beim Ausladen von Hilfsgütern getötet wird, steht der Entschluss fest.
Die Familie, die sie in Braunschweig aufnahm, machte am ersten Tag einen Ausflug, um ihr und ihren Kindern die Stadt zu zeigen. Sie gingen auch in den Dom. „Meine Seele verlangte nach Trost“, sagt die Musikerin. Sie habe dort dann einen „wahrhaft engelhaften Kindergesang“ gehört, eine Probe des Kinderchors. Mit Kantorin Elke Lindemann verstand sie sich schnell auch ohne Worte und die Idee eines ukrainischen Chors entstand. Lindemann zufolge sollen die ukrainischen Kinder schnellstmöglich gemeinsam mit den Gruppen der Domsingschule singen.
Weltweite Berühmtheit auf YouTube
Im Probenraum erinnert Petrikovas Rucksack auf einem Stuhl noch an ihre persönliche Geschichte. „Color Music Children’s Choir“ steht darauf. Vor 15 Jahren gründete sie in der Ukraine gemeinsam mit ihrem Mann ein Tonstudio, in dem Kinder „wie echte Popstars“ Lieder singen und aufnehmen konnten. Irgendwann kamen so viele Kinder, dass ein Chor mit 70 Mitgliedern entstand. Der Chor erlangte mit seinen Cover-Versionen auf Youtube weltweite Berühmtheit.
Das erfolgreichste Video mit einem Song der britischen Rock-Pop-Band, Coldplay, hat derzeit 74 Millionen Abrufe. Auch die Band wurde auf das Chor-Projekt aufmerksam und lud Petrikovas Familie im Juli zu einem Konzert nach Warschau ein. „Die Gesangsqualität ist so beeindruckend und wir lieben den neuen ukrainischen Rap“, schrieben die Musiker. Petrikova hofft, dass sie tatsächlich zum Konzert reisen können.
Jede Woche kommen neue, geflüchtete Kinder dazu
Im Probenraum springt die Musikerin wieder hinter dem Keyboard auf und ermuntert die Kinder, mit einem Lächeln und gerader Haltung zu singen. Dabei legt sie immer mal wieder die Hände hinter die Ohrmuscheln, damit die Kinder lauter werden. Noch einmal tönen die Klänge des „Roten Schneeballs“ durch den Raum. Die Kinder klatschen und stampfen mit den Füßen im Takt.
Die Probensituation bleibt besonders, denn jede Woche kommen neue, geflüchtete Kinder zum Chor dazu. Etwa die Hälfte hat zuvor noch nie in einer Gruppe gesungen. Doch inzwischen seien ihr die Kleinen genauso vertraut wie ihr Chor in der Ukraine, sagt Petrikova. Dessen Kinder leben seit Kriegsbeginn in den unterschiedlichsten Ländern Europas. „Gemeinsam kommen wir da leichter durch. Aber vergessen geht leider nicht.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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