Hanau

„Der Anschlag ist allgegenwärtig“

Am 19. Februar vor zwei Jahren erschoss ein Mann in Hanau neun ausländisch gelesene Menschen, seine Mutter und sich selbst. Die Staatsanwaltschaften haben ihre Ermittlungen beendet. Doch die seelischen Wunden in Hanau sind noch nicht verheilt.

Von Freitag, 18.02.2022, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 18.02.2022, 7:49 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„Wir haben keinen Alltag mehr“, sagt Armin Kurtovic. „Manchmal weiß ich nicht, welcher Wochentag ist. Ich bekomme den Anblick meines Sohnes nicht aus dem Kopf.“ Hamza Kurtovic wurde am Abend des 19. Februars 2020 in Hanau getötet. Ein 43-Jähriger erschoss ihn neben acht weiteren Hanauern aus Einwandererfamilien, sechs weitere überlebten verletzt. „Manchmal werde ich nachts wach und sehe Hamza vor mir, dann kann ich nicht mehr schlafen“, sagt sein Vater. Er und seine Frau seien nicht mehr arbeitsfähig.

An den beiden Tatorten Heumarkt und Kurt-Schumacher-Platz stehen auch zwei Jahre nach dem Verbrechen Blumen, Kerzen und Porträtbilder der Ermordeten. Die Stadt hat Gedenktafeln angebracht. Eine Gedenkstätte mit einem Kreuz erinnert an den Mut von Vili-Viorel Paun, der den Täter verfolgte, bis er von ihm erschossen wurde. An jedem 19. eines Monats treffen sich Angehörige und Freunde am Tatort oder auf dem Friedhof.

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Am zweiten Jahrestag hält die Stadtverwaltung auf Wunsch der Angehörigen eine Gedenkstunde auf dem Friedhof ab. Erwartet werden neben den Angehörigen der Opfer und Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) seitens der Bundesregierung Innenministerin Nancy Faeser (SPD), der Opferbeauftragte Pascal Kober (FDP) und die Integrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan (SPD), zudem der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU).

„Manchmal fühlt man sich unsicher.“

In Hanau ist auch für andere Bürger der Alltag nicht mehr der gleiche. „Manchmal fühlt man sich unsicher“, sagt die Stadtverordnete Selma Yılmaz-Ilkhan, die als damalige Vorsitzende des Ausländerbeirats viele Angehörige gesprochen hat und deren Schwester in der Nähe eines Tatortes wohnt. „Es hätte auch uns treffen können.“ Rassismus im Alltag habe sie auch schon früher erlebt, so sei sie wegen ihres Kopftuches beschimpft worden. „Aber dass so etwas bei uns in Hanau passiert, hätten wir uns nicht vorstellen können.“

Der Generalbundesanwalt hat im vergangenen Jahr die Ermittlungen beendet. Demnach litt der Täter unter paranoider Schizophrenie, die er habe gut verbergen können, und besaß als Mitglied in Schützenvereinen legal zwei Schusswaffen. Den Anschlag habe er aus rassistischen Motiven begangen. Dies sei in einem Video zu erkennen, das er erst kurz vor der Tat ins Internet gestellt habe. Die Staatsanwaltschaft Hanau befand, dass die Polizei korrekt gehandelt habe. Doch Angehörige der Opfer und Unterstützer geben sich damit nicht zufrieden.

„Bis heute nicht aufgeklärt“

„Das Geschehen ist bis heute nicht aufgeklärt“, findet Armin Kurtovic. Warum seien Notrufe an dem Abend nicht zur Polizei durchgedrungen, obwohl der Defekt der Leitung schon lange bekannt war? Warum sei der Notausgang einer Bar verschlossen gewesen, obwohl die zuständigen Behörden davon wussten? Warum habe der Täter noch eine Waffenerlaubnis besessen, obwohl er vorher bei mehreren Behörden Anzeigen mit verschwörungsideologischen Behauptungen erstattete? „Es ist eine Bringschuld der Behörden, das Geschehen aufzuklären!“, fordert Kurtovic.

Die Aktivisten und Angehörigen in der Initiative 19. Februar wollten dafür sorgen, dass die Fragen nicht in Vergessenheit gerieten, sagt die Sprecherin Newroz Duman. In ihrem Aufruf zum zweiten Jahrestag mahnt die Initiative, „den rassistischen Normalzustand im Alltag, in den Behörden, den Sicherheitsapparaten und überall zu beenden“. Die Initiative hat ein „stilles Gedenken“ am Abend des 19. Februars an beiden Tatorten organisiert. Zuvor um 16 Uhr ist von Mitgliedern der Initiative, linken und grünen Jugendverbänden eine Demonstration auf dem Marktplatz angemeldet.

„Der Anschlag ist allgegenwärtig.“

Der Anschlag hat weitere Hanauerinnen und Hanauer veranlasst, für Veränderungen einzutreten. Die Mutter eines der Ermordeten, Serpil Temiz Unvar, hat die nach ihrem Sohn benannte „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ gegründet. Die Stadt Hanau hat ein „Zentrum für Demokratie und Vielfalt“ eingerichtet. Das Zentrum solle Raum für Begegnungen bieten sowie Projekte zur Bekämpfung von Diskriminierungen und Förderung von Demokratie unterstützen, sagt Amtsleiter Andreas Jäger, denn: „Der Anschlag ist allgegenwärtig.“

Selma Yılmaz-Ilkhan hat mit anderen den „Verein für Toleranz und Zivilcourage Hanau“ gegründet. „Wenn Angehörige immer noch nicht schlafen können, machen wir als Staat etwas falsch“, sagt sie. Das Stadtparlament oder der Deutsche Bundestag bildeten nicht die Menschen im Supermarkt oder in den Schulen ab. Das müsse sich ändern. „Wenn die Gesellschaft ein Spiegelbild ihrer Vertretungen auf allen Ebenen schafft, dann haben wir Rassismus wirksam bekämpft.“ (epd/mig) Aktuell Panorama

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