Kadir Özdemir, Migazin, Integration, Migration, Migranten, Soziologie
A. Kadir Özdemir © privat, Zeichnung: MiG

Defragmentiert

Wie geht’s dir? Wie geht’s dir wirklich?

Lockdown. Distanz. Digitale Konferenzen. Eine verrückte Zeit, wie aus einem billigen Sci-Fi-Heft. Schrecklich und faszinierend zugleich die Wandelbarkeit unserer Gesellschaft.

Von Donnerstag, 03.12.2020, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 03.12.2020, 11:40 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Mein Alltag war stets schnell, abwechslungsreich, gefüllt mit Arbeit, Freund:innen, Ereignissen und privaten Projekten. Von morgens bis abends erreichten mich Informationen dazu, was ich tun, lernen oder wie ich mich unterhalten konnte. Ich ließ mir keine Zeit für Langeweile oder Warten. In den ersten Monaten der Corona-Pandemie änderte sich daran nichts. Während einige meiner Freund:innen aus Langeweile ihre Sauerteigbrotfertigkeiten perfektionierten, hatte ich weiter alle Hände voll zu tun. Auch gab es lange Zeit kein wirkliches social distancing für mich, sondern ein bedachtes physical distancing. Lange Spaziergänge, Radtouren oder digitale Jitsi-Treffen hatten mich einigen Freunden sogar nähergebracht als zuvor.

Nach einem halben Jahr wurden die Kontakte allmählich weniger und auf Online-Formate hatte niemand mehr Lust. Die digitale Müdigkeit war ein Nebenprodukt der schieren Verrücktheit dieser wie aus einem billigen Sci-Fi-Heft entsprungen Zeit. Von Beginn an fühlte es sich surreal an. Ich fand es schrecklich und faszinierend zugleich, die Zerbrechlichkeit in unserer Existenz, die radikale Wandelbarkeit der Realitäten unserer Gesellschaft zu erleben. Das Zusammenbrechen der sorglosen Körperlichkeit legte sich wie ein Schleier auf das Gemüt von Vielen. Die zunehmende Banalität der Unplanbarkeit machte uns sowohl beruflich als auch privat zu schaffen.

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Immer mehr Freund:innen wurden in den Strudel von Emotionen des Treibens und der zunehmenden Einsamkeit gesogen. Mein Beruf und zwei Theaterprojekte, an denen ich parallel arbeitete, hielten mich auf Trapp. Im Sommer trat die Pandemie stellenweise ganz in den Hintergrund. Und dann kam der November: viele meiner Projekte waren bereits abgeschlossen, das Konfetti weggefegt und ich fiel in eine spezifische Weltlichkeit des soften Lockdowns, die sich anfühlte, als würde ich durch eine zähe Flüssigkeit waten. Jede Bewegung fiel schwer und kostete enorm Kraft. Die dunkelsten Gefühle von Traurigkeit, ein stilles Sieden dicht hinter den Augen und auf der Brust, das akute Gefühl von Abgeschiedenheit von der Welt umhüllten mich wie einen Kokon. Das Superreale der Pandemie drang in meine Küche ein, in der ich mein Home-Office eingerichtet hatte, in der ich bis zum Feierabend im Morgenmantel arbeitete. Schleichend verschoben sich meine Arbeitszeiten auf den Nachmittag bis in die Nacht hinein. Ich fühlte den Herbst. Um diese Zeit bin ich auch ohne Pandemie naturtrüb, deshalb ist der November mein Urlaubsmonat, in der ich Sonne tanke. In diesem Jahr verbrachte ich meinen Jahresurlaub größtenteils im Bett. Alles wurde anstrengend. Ich traute mich aber nicht, mit anderen offen über meine Verfassung zu sprechen, da so viele so vieles durchmachten und so vielen es schlechter ging als mir. Einige selbständig arbeitenden Freund:innen kämpften um ihre Existenzsicherung, andere hatten Risikogruppen im Familienkreis, andere rangen mit Fernbeziehungen, abgesagten Hochzeiten, verschobenen Operationen, mit echten Sorgen.

Die zweite Welle und der bevorstehende Winter kann für viele von uns, insbesondere für jene, die den Austausch, Schutz und Verständnis einer Community brauchen, zu einem Zusammenbruch der Kommunikation führen, ihre Themen können in weißen Mehrheiten untergehen.

In dieser Zeit kamen innere Dämonen hoch, die mich für meine Schwäche verachteten. Frauen und Männer of Color haben – durch so viele Situationen konditioniert – verinnerlicht, keine Schwäche zu zeigen. Die Vertrautheit meiner Küche, meines Schlafzimmers, der Çaydanlık auf dem Herd, die samtene Stimme von Rokia Traoré kollidierten mit mir, der für den restlichen Tag erledigt war, wenn er sich nur die Haare kämmte. Das Gewöhnliche neben dem Seltsamen führte mich zu kleinen und großen Träumen, zu Erinnerungen, zu Fantasien, zu Sehnsüchten, ein hyperaktives Gehirn und ein Körper, der sich selbst kaum trug.

Dennoch, wenn die Frage „wie geht’s dir?“ kam, war meine Antwort stets, „gut, danke, dir?“ Gefolgt von einer weiteren Frage, damit die Konversation woanders hinführte. Die Frage nach dem Befinden ist schließlich ein Automatismus, ein Hallo-Wurmsatz, der all zu oft als Lückenfüller dient, bevor es mit anderen Inhalten weitergeht. Nur wenn jemand sensitiv genug war, -wie geht’s dir wirklich- kam ein entlastendes Gespräch auf. Jedes gute Gespräch ließ in winzigen Teilen Licht in meinen Kokon scheinen, ließ mich akzeptieren, was ich fühle, die Dunkelheit mildern.

Ich bin sehr reich, weil ich diese Personen habe. Aber vielen Menschen, für die die angeordnete physical distancing tatsächlich mit social distancing identisch verläuft, fehlen genau die Leute, die diese Frage stellen, Menschen, die man um sich braucht, wenn sich die Wände des Kokons verhärten, wenn man die Zuversicht verliert, von allein die Wände durchbrechen zu können.

Die zweite Welle und der bevorstehende Winter kann für viele von uns, insbesondere für jene, die den Austausch, Schutz und Verständnis einer Community brauchen, zu einem Zusammenbruch der Kommunikation führen, ihre Themen können in weißen Mehrheiten untergehen. Psycholog:innen und Ärtz:innen, die keinerlei Expertise mit Menschen mit Migrationserbe haben, keinerlei machtkritische, antirassistische Positionen beziehen, können zusätzlich verletzen. In dieser Zeit müssen wir in unseren Communities die Kontakte aufrechterhalten, sogar ausbauen, damit social distancing „lediglich“ zu einem physical distancing wird und öfters mit Interesse und Zuneigung nachfragen, wie geht’s dir wirklich? Meinung

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  1. Ute Plass sagt:

    „In dieser Zeit müssen wir in unseren Communities die Kontakte aufrechterhalten, sogar ausbauen, damit social distancing „lediglich“ zu einem physical distancing wird und öfters mit Interesse und Zuneigung nachfragen, wie geht’s dir wirklich?“

    Dem pflichte ich bei.

    Allerdings reicht das nicht um dem vorherrschenden Wahnsinn
    zu begegnen. Allerhöchste Zeit, dass auch Kunst- und Kulturschaffende
    sich gegen eine krank machende Politik wenden.
    Werden diese den Mut dazu finden wie z.B. folgende Initiativen:

    https://www.corodok.de/hunderte-aerztinnen-stehen-auf/

    „Anwälte für Aufklärung“ https://www.afa.zone/# ??