Anja Seuthe, Muslime, Islam, Religion, Kopftuch
Anja Seuthe © privat, Zeichnung MiGAZIN

Distanzierung

Was die Defensive mit uns Muslimen macht

Haben sich die Muslime eigentlich schon distanziert? Von Wien. Von Nizza. Von allem, was da sonst noch so passiert ist. Ich meine, glaubwürdig distanziert. Ehrlich distanziert. Rechtzeitig. Angemessen.

Von Montag, 16.11.2020, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 15.11.2020, 13:40 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Ein Blick auf mein Kopftuch macht mir zur Mittäterin. Ich bin schuld, dass Muslima im Iran Kopftuch tragen müssen. Ich unterstütze Vergewaltigungen von Ungläubigen. Und ich freue mich über Todesopfer bei Anschlägen. Solange ich mich nicht distanziere.

Aber seien wir mal ehrlich, ich habe nicht mehr mit irgendeiner dieser abscheulichen Taten zu tun, als ein Chorknabe schuld ist an pädophilen Priestern, am Arbeitsrecht der Kirche, oder an Anschlägen auf Asylbewerberheime verübt von Rettern des Abendlandes.

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Natürlich verurteile ich Mord, Gewalt und Unterdrückung. Ich muss mich aber nicht distanzieren. Und trotzdem wird es nicht nur von mir erwartet, sondern auch von allen anderen Muslimen auf der Welt. Immer und immer wieder. Muslime sind quasi in der Dauerdefensive.

„Was macht das mit einem Menschen, wenn er immer und immer wieder zur Rechenschaft gezogen wird für Dinge, die er nicht getan hat; wenn ihm immer und immer wieder Gedanken und Intentionen unterstellt werden, die nicht seine eigenen sind? Und wenn das schon im Kindergarten beginnt?“

Was macht das mit einem Menschen, wenn er immer und immer wieder zur Rechenschaft gezogen wird für Dinge, die er nicht getan hat; wenn ihm immer und immer wieder Gedanken und Intentionen unterstellt werden, die nicht seine eigenen sind? Und wenn das schon im Kindergarten beginnt?

Wie soll sich ein Kind hier integrieren, wenn es von klein auf in der Defensive ist? Wenn es in dieser Gesellschaft lernt, dass „seine“ Leute die Bösen sind, und die anderen die Guten? Das „seine“ Religion die Integration verhindert, den Schulerfolg mindert, die Berufschancen verschlechtert, und dass es mit dieser Religion überhaupt nicht nach Deutschland gehört. Und dass Muslime, die hier zum Opfer von Anschlägen werden, ja im Grunde selber schuld sind, weil sie erstens hier nichts verloren haben und sich zweitens nicht wundern müssen, so wie sich ihre „Brüder und Schwestern“ hier aufführen. Was macht das mit einem Kind?

Die Erwachsenen sind häufig resigniert, leben in ihrer eigenen kleinen Welt und distanzieren sich nicht nur von Gräueltaten, sondern auch gleich von unserer Gesellschaft mit. Man füllt seinen Alltag mit alltäglichen Dingen und meidet nach Möglichkeit Kontakte zu Menschen, denen man sich erklären muss. Menschen, die meinen, einen besser zu kennen, als man sich selbst. Und die einem nicht glauben, wenn man etwas Anderes sagt.

„Welcher Schüler ist schon in der Lage, innerislamische theologische Dispute zu erklären? Oder die Politik Erdogans? Oder den IS? Damit sind muslimische Schüler hoffnungslos überfordert. Viele Jugendliche macht das wütend.“

Die Kinder und Jugendlichen sind die eigentlich Leidtragenden, denn die stecken in den Schulen fest, müssen mit den Fragen und Vorwürfen der Mitschüler und sogar der Lehrer klarkommen. Nur welcher Schüler ist schon in der Lage, innerislamische theologische Dispute zu erklären? Oder die Politik Erdogans? Oder den IS? Damit sind muslimische Schüler hoffnungslos überfordert. Viele Jugendliche macht das wütend. Sie fühlen sich nicht nur unverstanden, sondern werden auch falsch verstanden. Einerseits sind sie oft nicht eloquent genug, um ihre Gedanken und Gefühle in angemessene Worte zu fassen, andererseits werden sie aber auch gar nicht gefragt, wenn ihr Verhalten in vorgefertigte und erwartete Muster passt.

Und wieder sind sie in der Defensive. In einer Defensive, die unverdient ist, die ungerecht ist, und auch als solche empfunden wird. Zu allem Überfluss gelten aber offensichtlich in Deutschland muslimische Kinder nicht mehr als schutzwürdig, denn in den Medien zerreißen sich die Journalisten die Mäuler darüber, wieso muslimische Kinder auf die eine oder andere Weise reagiert haben, was die Eltern falsch gemacht haben und dass die Politik da dringend eingreifen muss. In die Erziehung?

„Das ist nicht besonders zielführend. Anstatt Jugendliche als nicht integrierbar abzustempeln, sollten wir genauer hinschauen. Wir sollten aufhören, die Eltern und Kinder in eine Ecke zu stellen. Das Grundprinzip der Unschuldsvermutung darf für Muslime nicht ausgesetzt werden.“

Das ist nicht besonders zielführend. Anstatt Jugendliche als nicht integrierbar abzustempeln, sollten wir genauer hinschauen. Wir sollten aufhören, die Eltern und Kinder in eine Ecke zu stellen. Das Grundprinzip der Unschuldsvermutung darf für Muslime nicht ausgesetzt werden. Jeder von uns weiß vom Verstand her, dass nur ein minimaler Prozentsatz unserer deutschen Muslime Gewalt gutheißt oder gar kriminell wird. Und doch stellen wir vom Gefühl her Muslime unter Generalverdacht. Das muss aufhören.

Denn wie kann eine rechtsstaatliche, freiheitliche Demokratie funktionieren, wenn wir eine religiöse Minderheit stigmatisieren und diskriminieren? Was ist dann unser Grundrecht der Religionsfreiheit noch wert? Wenn im Moment wieder in allen Zeitungen gefragt wird, wie wir uns vor den Muslimen schützen können und was die Muslime tun können, um sich das Vertrauen der Gesellschaft zu verdienen, dann frage ich zurück, was kann die Gesellschaft tun, um ihre Muslime zu schützen und sich das Vertrauen der Muslime zu verdienen? Darüber sollten wir uns ernsthaft Gedanken machen! Meinung

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  1. Mauricio Isaza Camacho sagt:

    Möglich, dass sie sich privat in den kurzen Gesprächen in die Defensive gedrängt fühlen. Das wäre nicht so, wenn die Muslime in Deutschland von sich aus auf die Straße gingen – wie in Spanien ab und zu – und für Frieden, Gerechtigkeit und pazifische Koexistenz demonstrierten. So wie Katholiken und Buddhisten bleiben die Muslime meistens viel zu apathisch vor dem Zeitgeschehen stehen, und wollen sich später als Leute darstellen, die „in die Defensive“ gedrängt werden. Befreieungtheologie in Lateinamerika ist ein Beispiel für eine andere Haltung, die auch möglich ist. Wo sind die kritischen Muslime?

    • H. Jablonski sagt:

      Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Religionen sollten in ihren Communities/Gemeinden die Werte der Gesellschaft deutlich machen und dafür sorgen, dass diese in den Gemeinden anerkannt und gelebt werden. Dabei geht es um andere Religionen, Gleichstellung der Geschlechter, sexuelle Orientierungen etc.

  2. H Jablonski sagt:

    Frau Seuthe, ich kann ihren Beitrag hier gar nicht nachvollziehen.
    Die islamistischen Terror-Anschläge werden im Namen ihres Gottes durchgeführt. Wenn im Namen des Gottes, an den sie glauben, Terroranschläge verübt werden, dann sollte es im Interesse von ihnen und ihrer Gemeinde sein, sich nicht nur zu distanzieren, sondern dagegen vorzubeugen.
    Wo sind die Programme ihrer Gemeinden für muslimische Jugendliche, die offen über die Werte der Gesellschaft wie Gleichstellung von Frauen, Homosexualität, Religions- und Meinungsfreiheit und Rassismus aufklären? Wie positionieren sich muslimische Eltern und Gemeinden, wenn muslimische Kinder bei Diskussionen im Unterricht über den Terrormord in Frankreich die Augen verdrehen und sich abwertend über die Meinungsfreiheit äußern?
    Meine Bitte ist, dass die muslimischen Gemeinden hier Verantwortung im eigenen Sinnen übernehmen. Die Ansätze aus Spanien, die Mauricio Isaza Camacho im anderen Beitrag beschreibt, machen Hoffnung. Ich kenne ähnlich gute Beispiele aus Frankreich.

    Und zum Schluss. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie von der Stigmatisierung genug haben und genervt sind. Lassen sie uns gemeinsam für eine offene und wertschätzende Gesellschaft eintreten.

  3. Levent Öztürk sagt:

    Dieser DAESH (IS, ISIS) was auch immer das ist, hat in Syrien, Irak, in der Türkei sowie in vielen anderen muslimischen Staaten um ein vielfaches mehr Muslime per Anschläge ermordet als Menschen in Europa. Hätten sich also bei all den IS-Anschlägen in Bagdat, Kabul, Istanbul, Suruc usw. usw. die Muslime auch von diesen verbrecherischen Terroristen distanzieren sollen oder müssen das Muslime nur dann tun, wenn christliche Europäer diesem Terror zum Opfer fallen? Musssten sich Deutsche öffentlich distanzieren, wenn wie in Mölln, Solingen, bei den NSU-Serienmorden, in München und in Hanau Nazis muslimische Türken ermordet haben? Angela Merkel versprach in der NSU-Trauerfeier den Angehörigen der Opfer 100%ige Aufklärung, aber es wurde vertuscht, geschreddert und der Rest der Beweise wurden zu Staatsgeheimnissen proklamiert und für 120 Jahre weggesperrt. Wen hat es interessiert? Niemanden! Es gibt sogar bereits den NSU 2.0 und wieder unternimmt der Staats absolut nichts!. Müssen sich in Deutschland Narrenfreiheten genießende PKK-Sympathisanten distanzieren, wenn die in der Türkei mordende und bombende sowei für über 45.000 Terrortote verantwortliche Terrororganisation PKK in der Türkei Anschläge verübt und Menschen ermordet? Habe ich nie erlebt! Eher bekommen diese PKK-Sympathisanten mehrmals im Jahr eine Genehmigung für Demonstrationen, wo verbotene PKK-Symbole gezeigt werden und öffentlich gegen Türken gehetzt werden darf. In Deutschland, Belgien, Niederlande und Frankreich wird Terrorismus zwischen gutem Terror (PKK) und schlechtem Terror (IS) unterscheiden. Da muss sich in den Köpfen noch sehr viel ändern.