Distanzierung

Was die Defensive mit uns Muslimen macht

Haben sich die Muslime eigentlich schon distanziert? Von Wien. Von Nizza. Von allem, was da sonst noch so passiert ist. Ich meine, glaubwürdig distanziert. Ehrlich distanziert. Rechtzeitig. Angemessen.

Ein Blick auf mein Kopftuch macht mir zur Mittäterin. Ich bin schuld, dass Muslima im Iran Kopftuch tragen müssen. Ich unterstütze Vergewaltigungen von Ungläubigen. Und ich freue mich über Todesopfer bei Anschlägen. Solange ich mich nicht distanziere.

Aber seien wir mal ehrlich, ich habe nicht mehr mit irgendeiner dieser abscheulichen Taten zu tun, als ein Chorknabe schuld ist an pädophilen Priestern, am Arbeitsrecht der Kirche, oder an Anschlägen auf Asylbewerberheime verübt von Rettern des Abendlandes.

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Natürlich verurteile ich Mord, Gewalt und Unterdrückung. Ich muss mich aber nicht distanzieren. Und trotzdem wird es nicht nur von mir erwartet, sondern auch von allen anderen Muslimen auf der Welt. Immer und immer wieder. Muslime sind quasi in der Dauerdefensive.

„Was macht das mit einem Menschen, wenn er immer und immer wieder zur Rechenschaft gezogen wird für Dinge, die er nicht getan hat; wenn ihm immer und immer wieder Gedanken und Intentionen unterstellt werden, die nicht seine eigenen sind? Und wenn das schon im Kindergarten beginnt?“

Was macht das mit einem Menschen, wenn er immer und immer wieder zur Rechenschaft gezogen wird für Dinge, die er nicht getan hat; wenn ihm immer und immer wieder Gedanken und Intentionen unterstellt werden, die nicht seine eigenen sind? Und wenn das schon im Kindergarten beginnt?

Wie soll sich ein Kind hier integrieren, wenn es von klein auf in der Defensive ist? Wenn es in dieser Gesellschaft lernt, dass „seine“ Leute die Bösen sind, und die anderen die Guten? Das „seine“ Religion die Integration verhindert, den Schulerfolg mindert, die Berufschancen verschlechtert, und dass es mit dieser Religion überhaupt nicht nach Deutschland gehört. Und dass Muslime, die hier zum Opfer von Anschlägen werden, ja im Grunde selber schuld sind, weil sie erstens hier nichts verloren haben und sich zweitens nicht wundern müssen, so wie sich ihre „Brüder und Schwestern“ hier aufführen. Was macht das mit einem Kind?

Die Erwachsenen sind häufig resigniert, leben in ihrer eigenen kleinen Welt und distanzieren sich nicht nur von Gräueltaten, sondern auch gleich von unserer Gesellschaft mit. Man füllt seinen Alltag mit alltäglichen Dingen und meidet nach Möglichkeit Kontakte zu Menschen, denen man sich erklären muss. Menschen, die meinen, einen besser zu kennen, als man sich selbst. Und die einem nicht glauben, wenn man etwas Anderes sagt.

„Welcher Schüler ist schon in der Lage, innerislamische theologische Dispute zu erklären? Oder die Politik Erdogans? Oder den IS? Damit sind muslimische Schüler hoffnungslos überfordert. Viele Jugendliche macht das wütend.“

Die Kinder und Jugendlichen sind die eigentlich Leidtragenden, denn die stecken in den Schulen fest, müssen mit den Fragen und Vorwürfen der Mitschüler und sogar der Lehrer klarkommen. Nur welcher Schüler ist schon in der Lage, innerislamische theologische Dispute zu erklären? Oder die Politik Erdogans? Oder den IS? Damit sind muslimische Schüler hoffnungslos überfordert. Viele Jugendliche macht das wütend. Sie fühlen sich nicht nur unverstanden, sondern werden auch falsch verstanden. Einerseits sind sie oft nicht eloquent genug, um ihre Gedanken und Gefühle in angemessene Worte zu fassen, andererseits werden sie aber auch gar nicht gefragt, wenn ihr Verhalten in vorgefertigte und erwartete Muster passt.

Und wieder sind sie in der Defensive. In einer Defensive, die unverdient ist, die ungerecht ist, und auch als solche empfunden wird. Zu allem Überfluss gelten aber offensichtlich in Deutschland muslimische Kinder nicht mehr als schutzwürdig, denn in den Medien zerreißen sich die Journalisten die Mäuler darüber, wieso muslimische Kinder auf die eine oder andere Weise reagiert haben, was die Eltern falsch gemacht haben und dass die Politik da dringend eingreifen muss. In die Erziehung?

„Das ist nicht besonders zielführend. Anstatt Jugendliche als nicht integrierbar abzustempeln, sollten wir genauer hinschauen. Wir sollten aufhören, die Eltern und Kinder in eine Ecke zu stellen. Das Grundprinzip der Unschuldsvermutung darf für Muslime nicht ausgesetzt werden.“

Das ist nicht besonders zielführend. Anstatt Jugendliche als nicht integrierbar abzustempeln, sollten wir genauer hinschauen. Wir sollten aufhören, die Eltern und Kinder in eine Ecke zu stellen. Das Grundprinzip der Unschuldsvermutung darf für Muslime nicht ausgesetzt werden. Jeder von uns weiß vom Verstand her, dass nur ein minimaler Prozentsatz unserer deutschen Muslime Gewalt gutheißt oder gar kriminell wird. Und doch stellen wir vom Gefühl her Muslime unter Generalverdacht. Das muss aufhören.

Denn wie kann eine rechtsstaatliche, freiheitliche Demokratie funktionieren, wenn wir eine religiöse Minderheit stigmatisieren und diskriminieren? Was ist dann unser Grundrecht der Religionsfreiheit noch wert? Wenn im Moment wieder in allen Zeitungen gefragt wird, wie wir uns vor den Muslimen schützen können und was die Muslime tun können, um sich das Vertrauen der Gesellschaft zu verdienen, dann frage ich zurück, was kann die Gesellschaft tun, um ihre Muslime zu schützen und sich das Vertrauen der Muslime zu verdienen? Darüber sollten wir uns ernsthaft Gedanken machen!