Interview mit Gerald Knaus

Deutschland sollte in der Flüchtlingspolitik vorangehen

Gerald Knaus ist Ideenvater des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens vom März 2016. Heute hält der Vorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) die Grenzpolitik der EU im Mittelmeer für gescheitert. Der 50-jährige Österreicher und Wahl-Berliner fordert im Gespräch: Deutschland solle nicht länger auf eine gesamteuropäische Lösung bauen, sondern mit anderen willigen Staaten vorangehen.

Von Montag, 16.11.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 15.11.2020, 18:50 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Herr Knaus, wie kann man noch mehr Tote im Mittelmeer verhindern?

Gerald Knaus: Wenn wir verhindern wollen, dass Tausende Menschen auf der Überfahrt nach Europa sterben, müssen wir dafür sorgen, dass sich weniger in die Boote setzen. Und die, die es tun und in Seenot geraten, weiterhin retten.

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Führen nicht gerade mehr Rettungsschiffe dazu, dass sich mehr Menschen in die Boote setzen und nach Europa fahren – die umstrittene Behauptung vom „Pull-Effekt“?

Es gab auch schon vor 2013, dem Jahr, in dem Italien die Rettungsmission „Mare Nostrum“ startete, zu viele Tote. Menschen in Seenot zu retten ist ein moralischer Imperativ. Allerdings war 2016, das Jahr mit den meisten Toten im zentralen Mittelmeer, auch das Jahr mit den meisten Rettungen. Damals wurden 180.000 Menschen von europäischen Schiffen nach Italien gebracht. Nicht retten geht nicht, doch nur retten bedeutet nicht weniger Tote.

Wie erklären Sie das?

Wenn viele Menschen in überfüllte kleine Boote gesetzt werden, dann werden viele ertrinken. Wenn viele Westafrikaner, trotz der Lebensgefahr in der Sahara und auf dem Meer, nach ihrer Ankunft Fotos aus Rom auf Facebook stellen, werden sich mehr auf den Weg machen. 2016 kamen allein 100.000 aus sechs Ländern Westafrikas nach Italien.

Also doch ein „Pull-Effekt“?

Es ist falsch, Anreize zu geben, sich auf den lebensgefährlichen Weg zu machen. Man muss Migranten, die bereits in Libyen sind, helfen das Land zu verlassen. Wer nicht verfolgt ist, sollte in das Heimatland zurückgebracht werden. Die meisten, die in den letzten Jahren über das zentrale Mittelmeer in die EU kamen, erhielten dort keinen Schutz. Doch viele Asylverfahren dauerten zu lange.

Aber für die, die in Europa bleiben dürfen, hätte sich der gefährliche Weg doch gelohnt.

„Heute werden in manchen EU-Staaten Asylwerber so behandelt, dass sie bevorzugen sollen, in der Türkei oder im Libanon zu bleiben. Wir sehen es in den katastrophalen Aufnahmezentren auf den ägäischen Inseln.“

Dennoch sagen viele Westafrikaner heute: Das, was 2016 passierte, soll sich nicht wiederholen. Es kamen zu viele ums Leben, wie in einem Krieg. Doch wie verhindert man das ohne Inhumanität? Wir brauchen die Fähigkeit, schnell fair zu entscheiden, wer schutzbedürftig ist. Und wir brauchen legale Aufnahme von Schutzbedürftigen aus Drittländern, Neuansiedlung. So nahm Australien Anfang der 1980er Jahre Bootsflüchtlinge direkt aus südostasiatischen Flüchtlingslagern auf. Damals fiel die Zahl der irregulären Ankünfte auf null. Heute ist Kanada ein Land, das per Neuansiedlung jährlich viele Flüchtlinge aufnimmt.

Genau das sieht der „Neue Pakt für Migration und Asyl“ vor, den die EU-Kommission im September vorgeschlagen hat: Einerseits schnelle Abschiebungen von Menschen, deren Asylanträge an der Grenze abgelehnt wurden. Und andererseits Neuansiedlungen.

Diese Ziele sind richtig, doch es fehlen die Mechanismen, um sie zu erreichen: Stichtagsregelungen, Einigungen mit Herkunftsländern im beiderseitigen Interesse, die Fähigkeit, schnell Asylentscheidungen zu treffen. Das konnten wir jahrelang auf den griechischen Inseln sehen.

Was ist dort passiert?

Dort ist es der EU nicht im Ansatz gelungen, faire Asylverfahren schnell abzuwickeln – obwohl es die Bereitschaft der Türkei gab, Leute entsprechend dem Abkommen von 2016 zurückzunehmen. Es wurde fast niemand zurückgeschickt. Abschreckung erfolgte dafür durch schlimme Bedingungen.

Wieso verlaufen die Verfahren so schleppend?

Ein Asylsystem besteht nicht aus zufällig zusammengewürfelten Beamten. Man braucht gute Länderberichte, klare Leitsätze, dazu Qualitätskontrollen und schnelle Berufungsverfahren. Das ist aufwendig. Die dazu notwendigen Erfahrungen findet man nicht in Brüssel, sondern in Nürnberg, beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), in französischen und niederländischen Asylbehörden. Wir bräuchten heute die Ressourcen, um bei niedrigen Ankunftszahlen binnen Wochen auf den griechischen Inseln, auf Malta oder in Melilla Entscheidungen zu treffen. Die Alternative dazu sehen wir heute: inhumane Bedingungen und illegale Push Backs.

Europa will die Menschen gar nicht menschlich aufnehmen?

Heute werden in manchen EU-Staaten Asylwerber so behandelt, dass sie bevorzugen sollen, in der Türkei oder im Libanon zu bleiben. Wir sehen es in den katastrophalen Aufnahmezentren auf den ägäischen Inseln. Auch bei der Behinderung der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer und der Zusammenarbeit mit libyschen Institutionen, die Menschen in Folterlager zurückbringen.

Wie kann man menschliche Behandlung sicherstellen?

Neben schnellen Verfahren und menschenwürdigen Aufnahmezentren braucht es Klarheit, was nach den Verfahren passiert. Und die Bereitschaft anderer in der EU, anerkannte Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufzunehmen.

Umverteilung und Aufnahme lehnen aber etwa Ungarn und Polen vehement ab.

„Will die Mehrheit in Deutschland oder Frankreich Kontrolle und humane Grenzen verbinden? Dann sollte sie als Koalition vorangehen.“

Will die Mehrheit in Deutschland oder Frankreich Kontrolle und humane Grenzen verbinden? Dann sollte sie als Koalition vorangehen. Viktor Orbans Alternative ist hingegen, auf Abschreckung und das Ende der Flüchtlingskonvention zu setzen.

Das wäre aber keine europäische Lösung mit gleicher Beteiligung aller. Ist das fair?

Es geht darum, im Einklang mit der eigenen Überzeugung zu handeln: Wer humane Grenzen will, sollte sich nicht durch die Verweigerung anderer am Handeln behindern lassen. Und beweisen, dass Kontrolle und Empathie kein Gegensatz sind.

Kann man in der Flüchtlingspolitik nur auf Empathie setzen?

Es geht um die Menschenwürde und Grundwerte. Und um Dinge, die anderswo funktionieren. Kanada nimmt pro Jahr 30.000 Flüchtlinge durch Neuansiedlung auf, davon allein 20.000, 0,05 Prozent seiner Bevölkerung, im Rahmen von Patenschaften, wo sich Bürger, Kirchen, Vereine und Gemeinden engagieren. Würden sich Deutschland, Frankreich, Schweden ähnlich verhalten, könnte man die, die etwa 2019 über das Mittelmeer ankamen und Schutz in der EU brauchen, leicht verteilen.

Zugleich sind Sie für schnelle Abschiebungen nicht Schutzbedürftiger. Das scheitert oft an deren Heimat- oder Transitländern.

Das ist entscheidend. Die Frage ist, welches Interesse ein anderes Land hat, dabei zu kooperieren: Der Türkei versprach die EU sechs Milliarden Euro für Syrer im Land, dafür war sie bereit, ab einem Stichtag jeden abgelehnten Bewerber von Griechenland zurückzunehmen. Westbalkan-Staaten kooperieren bei Abschiebungen, weil die EU ihren Bürgern Visafreiheit gewährt hat. Das könnte man auch Tunesien anbieten. Derzeit gelingen EU-Staaten Abschiebungen fast nur in andere europäische Länder. Es fehlen Einigungen im beiderseitigen Interesse, um irreguläre Migration human zu stoppen.

Wo liegen die Schwierigkeiten?

Es fehlt die dafür notwendige Außenpolitik. Meine Kollegen und ich haben 2019 einen Plan zur Kooperation zwischen Deutschland und Gambia vorgeschlagen. Viele ausreisepflichtige Gambier leben in Baden-Württemberg, Abschiebungen aus der EU nach Westafrika gibt es kaum. Würde Gambia alle seine Bürger, die nach einem Stichtag irregulär nach Deutschland kommen, sowie sofort alle Straftäter zurücknehmen, würde Deutschland im Gegenzug den anderen, die hier sind, eine Bleibeperspektive geben, würden alle gewinnen. Doch es fehlt an Vertrauen. Wäre Gamba bereit und auch fähig, seine Bürger zurückzunehmen? Wäre Deutschland bereit, anderen eine legale Perspektive zu geben? So wächst die Frustration. Manche hoffen auf eine europäische Lösung, die doch nicht kommt. Dabei gäbe es Lösungen. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama

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