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Jan Böhmermann, Szene aus dem Video "Be DEUTSCH" © youtube/ZDF Neo Magazin Royale

Be DEUTSCH

Jan Böhmermanns Beitrag zur Leitkultur

Über Jan Böhmermanns Erdoğan-Schmähgedicht ist viel diskutiert worden. Das hat ein am selben Tag veröffentlichtes Musik-Video von Jan Böhmermann viel zu schnell aus unseren Timelines herausgespült: Be Deutsch. Eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit deutscher Leitkultur. Von Roman Lietz

Von Montag, 18.04.2016, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.04.2016, 17:59 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Ein Mob aus in grauen Tönen gezeichneten, fremdenfeindliche Parolen skandierenden Menschen (Die Anspielung an die Ausschreitungen von Clausnitz (Februar 2016) sind offensichtlich) wird durch einen zweiten, divers zusammengesetzten Mob von Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Interessen, Präferenzen, Glaubensrichtungen etc. attackiert und schließlich vertrieben.

Mit der teilweise martialischen Inszenierung und der Art der konfrontativen Auseinandersetzung zwischen den Gruppen in diesem Video muss man nicht einverstanden sein. Die Kernbotschaft ist jedoch unmissverständlich: „Be DEUTSCH“, sei „deutsch“, wobei der Autor klar macht, was „Deutschsein“ in seinen Augen bedeutet.

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Was es heißt, Deutsch zu sein.

Böhmermanns Konzept bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine kulturwissenschaftliche Diskussion. Selbst bei oberflächlicher Betrachtung fällt vor allem die ironische Aneinanderreihung von Stereotypen über Deutschland auf. Selbstbilder (= Welches Image habe ich vom mir selbst) wie „Typisch deutsch sind Fahrradhelme oder Aufklärung“ verschmelzen mit Metabildern (= Was glaube ich, was andere für ein Bild von mir haben) wie „Typisch deutsch ist das Fahrvergnügen, oder eine Liege mit einem Handtuch zu reservieren.“ Soweit, so ulkig, doch das Video leistet darüber hinaus viel mehr als die Reproduktion oberflächlicher Stereotype.

Es empfiehlt sich, das Video mindestens einmal (am besten mehrfach) anzuschauen:

Sichtbare und unsichtbare Bestandteile von Kultur

Nach einem sehr populären Kulturmodell wird Kultur mit einem Eisberg verglichen: Wie ein Eisberg hat Kultur sichtbare Bestandteile oberhalb der Wasseroberfläche, Artefakte einer Kultur (im Video: Dosenpfand, vegane Würstchen, Fahrradhelme, Döner, Birkenstocksandalen, Sodastream, Fischer-Dübel u.v.m.). Doch Böhmermann belässt es nicht bei dieser oberflächlichen Betrachtung, sondern dringt in die Tiefen des Eisbergs vor, in jenen viel größeren, nicht-sichtbaren Bestandteil aus Verhaltensweisen, Werten usw., die als Konzepte die sichtbaren Bestandteile erklärbar machen. Für welche Werte stehen denn Dosenpfand, vegane Würstchen, Fahrradhelme, Döner, Birkenstocksandalen, Sodastream oder Fischer-Dübel? Dieser unsichtbare Teil des Eisbergs erlaubt erst das Verständnis von einer Kultur. Sein Kulturverständnis erklärt uns Böhmermann im Refrain: „Toleranz“, „Nachbarschaft“, „Multikulturalität“, „Aufgeklärtheit“, „Meinungsfreiheit“ usw. stehen für Deutschland und diese Werte werden nicht nur aufgezählt, sondern anhand plakativer Beispiele visualisiert. Diese Deutschlandwerte mögen überraschen, denn Böhmermann spielt damit natürlich auf die bekannten „typischen“ deutschen oder preußischen Tugenden an (Disziplin, Gehorsam, Ordnung etc.). Zu diesen setzt er bewusst einen Gegenpunkt, indem er die Werte, also das Fundament – oder die Basis, um im Eisbergbild zu bleiben – eines modernen, offenen Deutschlands beschreibt.

Mit kollektivem Gedächtnis die Leitkultur ergründen

Im Übrigen sind es natürlich, wie so oft bei Kabarett und Satire, die impliziten Anspielungen, mit denen Böhmermann arbeitet. Anspielungen, die gar nicht offen angesprochen werden müssen und doch von allen verstanden werden (sollen). Böhmermann braucht nur zu singen „Weltmeister“ oder „proud of not being proud“ oder „We are here to remind you, that we have been once stupid, too“ (untermalt von einem Soldatenhelm mit Einschussloch) und für (hoffentlich) jeden deutschen Zuschauer öffnet sich eine ganze Welt an emotional beladenen Assoziationen, die diese Anspielung erklärbar und verständlich machen. Warum das funktioniert, lässt sich – kulturwissenschaftlich – mit dem kollektiven Gedächtnis erklären, einem historisch gespeisten und additiv sich weiterentwickelnden Wissensvorrat von Erfahrungen, Bewertungen, Verhaltensweisen und Narrativen, die für Mitglieder einer gemeinsamen Kultur unmissverständlich sind und über die es keiner weiteren Verständigung bedarf. Dieses kollektive Gedächtnis teilen alle (oder zumindest die meisten), die sich als Deutsch bezeichnen und durch das Video angesprochen fühlen. Gemäß dieser Vorstellung eines kollektiven Gedächtnisses ist es natürlich fraglich, ob Böhmermanns Anspielungen und damit auch die (selbst-)ironische und dennoch fundamentale Aussage des Videos außerhalb Deutschlands ebenfalls verstanden werden kann. Immerhin singt er ja auf Englisch, imaginiert also ein nicht nur deutschsprachiges Publikum.

Viele Lebenswelten, eine Gesellschaft

Am Ende des Böhmermann-Videos bleiben die Fahrradfahrer, Fußballspieler, Juden, Muslime, Rollstuhlfahrer, Trommler, Müsliesser und viele mehr Arm in Arm zurück und jubilieren: „Wir sind das Volk (, nicht ihr)“. Deutschland ist derart divers, dass Kultur eigentlich nur noch als reziprokes Netzwerk von unterschiedlichsten Menschen verstanden werden kann. Eine in ihrer Ausprägung überhaupt nicht mehr scharf fassbare Melange von verschiedensten Lebenswelten, die in ihrer ganz eigenen Ausprägung alle „deutsch“ sind. In dieser Melange müssen jedoch – leider –konsequenterweise auch die Pappschildträger Berücksichtigung finden. Diese Vielfalt an Menschen beansprucht es heutzutage vollkommen selbstverständlich für sich selbst deutsch zu sein und muss – entsprechend der Leitkultur, die sie als Deutsche ausmachen (Refrain: Grundgesetz, Toleranz, Freiheit, Aufklärung, …) diese Zuschreibung auch für diejenigen zulassen, die irgendwie anders sind. Insofern passt hier das Böhmermann-typische und natürlich vollkommen unflätige Bonmot: „Read Kant, cunt“ sprichwörtlich wie die Faust aufs Auge. Aktuell Feuilleton Meinung

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  1. Pingback: Den Hermon zu lesender Artikel abarbeiten: my own personal Presseschau | Maja Schwarz

  2. surviver sagt:

    Was lustig ist, wo hat sich den der Böhmermann verkrochen. Keine Talk Show bekommt ihn in eine Sendung?
    Was ist denn mit dem los…?