Gemein, gefährlich, gesetzlos
Berlin-Neukölln im Spiegel der Medien
Berlin Neukölln ist nach wie vor repräsentativer und territorialer Bezugspunkt, um die Vorstellungen von Kriminalität, Parallelgesellschaft, Integrationsverweigerung und Faulheit zu veranschaulichen. Sebastian Friedrich hat geschaut, woher dieses verzerrte Bild kommt.
Von Sebastian Friedrich Freitag, 14.11.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 19.11.2014, 17:59 Uhr Lesedauer: 23 Minuten |
Trotz massiver Mieterhöhungen, unkontrollierter Ausbreitung einer einkommens- und interessensstarken alternativen Mittelkasse, trotz unerhört boomendem Immobilienmarkt und schrecklich innovativer Zwischennutzunsagenturen mit all ihren negativen Begleiterscheinungen, kurz gesagt: trotz dieser und vielen weiteren alarmierenden Veränderungen wird Neukölln von Seiten der überregionalen, reißerischen Medien auf die öffentliche Bühne gezerrt, um die angebliche Existenz gefährlicher »Parallelgesellschaften« und einer außer Kontrolle geratenen »Unterschicht« zu beweisen.
Neukölln ist nach wie vor repräsentativer und territorialer Bezugspunkt, um die Vorstellungen von Terrorgefahr, Kriminalität, Angriffen auf Freiheitsrechte, Integrationsverweigerung und Faulheit zu veranschaulichen. Gleichzeitig wirkt der Neukölln-Diskurs zurück auf diese Themen, indem durch die vermeintliche Sichtbarkeit eher abstrakte Problemdeutungen veranschaulicht werden. Neukölln ist somit sichtbarer Beweis und zugleich stichhaltiges Indiz für einen gesellschaftlichen Diskurs, der (Post-) Migranten und arme Menschen zum Problem erklärt. Berlin-Neukölln ist Ausgangspunkt und Ergebnis für alles gesellschaftlich Bedrückende, Bedenkliche und Bedrohliche. Grund genug, sich die Fragen zu stellen, wann die Karriere von Neukölln als »Problembezirk« begann und was hinter der wirkmächtigen Erzählung von »Neukölln als Problem« steckt.
Um den Diskurs über Neukölln fein säuberlich in seine Bestandteile zu zerlegen, orientiere ich mich an den wegweisenden Arbeiten des Demontage-Experten Michel Foucault und verwende die darauf aufbauend hergestellten handlichen Werkzeuge der Kritischen Diskursanalyse des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS).
Das Vorhaben wird in die Tat umgesetzt, indem ich mich exemplarisch der medialen Repräsentation von Neukölln im Nachrichtenmagazin Der Spiegel annehme. Seit 1990 bis einschließlich 2011 erschienen insgesamt 334 Artikel im Spiegel, in denen mindestens einmal der Begriff Neukölln fiel. Diese Artikel sind Ausgangspunkt für die Ermittlung der Einzelteile des Neukölln-Diskurses, die mit einer Betrachtung der Oberfläche beginnt, wodurch die Häufungen und die Bezeichnungspraxis sichtbar werden. Anschließend stehen zwei zentrale tragende Pfeiler des Diskurses im Fokus, die anhand zweier Artikel exemplarisch untersucht werden (»Endstation Neukölln« und »Rütli«).
Es wird sich zeigen, in welcher Weise Probleme in Neukölln gedeutet werden und welche Effekte diese Problemwahrnehmungen haben. Dabei wird eine Choreographie der Konstruktion eines »Problembezirks « deutlich, die über Neukölln hinausgeht: Zunächst wird in dramatisierender Weise problematisiert, bevor (zumeist repressive) Handlungsmöglichkeiten als alternativlos präsentiert werden. Außerdem wird deutlich, dass das medial geschaffene Label Neukölln Rassismus und Klassenverhältnisse dethematisiert, was abschließend am Beispiel der populären Forderung nach »sozialer Mischung« aufgezeigt wird.
Probleme statt Arbeiter
Die Anzahl der Artikel über Neukölln nimmt im Zeitverlauf stark zu. Während bis einschließlich 2005 Neukölln lediglich im Durchschnitt in knapp zehn Beiträgen pro Jahr erwähnt wird, ist mit dem Jahr 2006 ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Zwar ebbt das Interesse an Neukölln im Spiegel 2007 im Vergleich zum Vorjahr deutlich ab. Insgesamt stabilisiert sich die Zahl der Nennungen pro Jahr jedoch. Zwischen 2006 und 2011 wird Neukölln jährlich durchschnittlich in fast 30 Beiträgen erwähnt.
Info: Von Mai bis November 2013 wurde vom Migrationsrat Berlin-Brandenburg (MRBB) die Veranstaltungsreihe „Rassismus und Justiz“ durchgeführt. Sie diente der Vernetzung von Juristen, Migrantenselbstorganisationen sowie anderen anti-rassistischen Akteuren und zielte auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus im deutschen Justizwesen. In Rahmen dieser Reihe entstand die gleichnamige Broschüre, aus der dieser Artikel entnommen wurde. Die Broschüre kann seit kurzem auf der Homepage des MRBB kostenlos heruntergeladen bzw. als Druckexemplar bestellt werden.
Das zunehmende Interesse hängt mit einer gesteigerten Problematisierung zusammen, was sich exemplarisch an den Bezeichnungen für Neukölln darstellen lässt. Ein Blick auf die Attribute, mit welchen Neukölln versehen wurde, zeigt, dass der Stadtteil in den 1990er Jahren zunächst als »Arbeiterviertel« beschrieben wird, ab 2006 setzt sich allerdings das Attribut des »Problembezirks« durch.
Dass Neukölln nicht als »Problemviertel«, sondern als »Problembezirk« bezeichnet wird, ist nicht beliebig. Das Morphem »Bezirk« verweist auf einen örtlichen Zuständigkeitsbereich, zum Beispiel einen Regierungsbezirk. Ein »(Stadt-)Viertel« bezeichnet hingegen nicht eine Verwaltungseinheit, sondern ein in den meisten Fällen aus von viel befahrenen Straßen oder Flüssen begrenztes soziales Bezugssystem, das räumlich und sozial durch die jeweiligen Bewohner zu anderen (Stadt-)Vierteln abgegrenzt wird. Eine ähnliche Konnotation hat ein »Kiez«. Dieser verweist jedoch aufgrund der regionalen Bezeichnung noch mehr auf die von der dort lebenden Bevölkerung gezogenen Grenzen. Dass sich die Bezeichnung »Bezirk« durchsetzen konnte, lässt auf zweierlei schließen: Einerseits werden die Politiker angerufen, die für die Verwaltungseinheiten zuständig sein sollten, andererseits werden den Bewohnern eines Bezirks weniger Handlungsfähigkeiten eingeräumt. Im Falle des »Problembezirks« sind sie nicht diejenigen, die etwas ändern können, sondern die Politiker sind gefragt. Mehr noch: Es wird sich zeigen, dass viele der Bewohner vielmehr als Teil des Problems angesehen werden. Feuilleton Leitartikel
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Also wie ich ein Kind war, gab es in meiner Umgebung keine „Unterschicht“. Das kannte man bestenfalls aus Geschichtsbüchern. Die heutige Unterschicht ist ein herbeigezüchtetes Phänomen, das aus dem Irrglauben resultiert, dass man ohne Anstrengungen und Probleme eine neue Gesellschaft ohne Tradition und Erfahrung sozusagen aus Retorte erschaffen kann. Wenn man viele Arme einlädt, hat man viele Arme im Haus. Das hat mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen nichts zu tun, sondern mit der mangelnden Einsicht, dass es natürliche Verteilungsspielräume gibt, die irgendwann ausgeschöpft sind.
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