Gemein, gefährlich, gesetzlos

Berlin-Neukölln im Spiegel der Medien

Berlin Neukölln ist nach wie vor repräsentativer und territorialer Bezugspunkt, um die Vorstellungen von Kriminalität, Parallelgesellschaft, Integrationsverweigerung und Faulheit zu veranschaulichen. Sebastian Friedrich hat geschaut, woher dieses verzerrte Bild kommt.

Trotz massiver Mieterhöhungen, unkontrollierter Ausbreitung einer einkommens- und interessensstarken alternativen Mittelkasse, trotz unerhört boomendem Immobilienmarkt und schrecklich innovativer Zwischennutzunsagenturen mit all ihren negativen Begleiterscheinungen, kurz gesagt: trotz dieser und vielen weiteren alarmierenden Veränderungen wird Neukölln von Seiten der überregionalen, reißerischen Medien auf die öffentliche Bühne gezerrt, um die angebliche Existenz gefährlicher »Parallelgesellschaften« und einer außer Kontrolle geratenen »Unterschicht« zu beweisen.

Neukölln ist nach wie vor repräsentativer und territorialer Bezugspunkt, um die Vorstellungen von Terrorgefahr, Kriminalität, Angriffen auf Freiheitsrechte, Integrationsverweigerung und Faulheit zu veranschaulichen. Gleichzeitig wirkt der Neukölln-Diskurs zurück auf diese Themen, indem durch die vermeintliche Sichtbarkeit eher abstrakte Problemdeutungen veranschaulicht werden. Neukölln ist somit sichtbarer Beweis und zugleich stichhaltiges Indiz für einen gesellschaftlichen Diskurs, der (Post-) Migranten und arme Menschen zum Problem erklärt. Berlin-Neukölln ist Ausgangspunkt und Ergebnis für alles gesellschaftlich Bedrückende, Bedenkliche und Bedrohliche. Grund genug, sich die Fragen zu stellen, wann die Karriere von Neukölln als »Problembezirk« begann und was hinter der wirkmächtigen Erzählung von »Neukölln als Problem« steckt.

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Um den Diskurs über Neukölln fein säuberlich in seine Bestandteile zu zerlegen, orientiere ich mich an den wegweisenden Arbeiten des Demontage-Experten Michel Foucault und verwende die darauf aufbauend hergestellten handlichen Werkzeuge der Kritischen Diskursanalyse des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS).

Das Vorhaben wird in die Tat umgesetzt, indem ich mich exemplarisch der medialen Repräsentation von Neukölln im Nachrichtenmagazin Der Spiegel annehme. Seit 1990 bis einschließlich 2011 erschienen insgesamt 334 Artikel im Spiegel, in denen mindestens einmal der Begriff Neukölln fiel. Diese Artikel sind Ausgangspunkt für die Ermittlung der Einzelteile des Neukölln-Diskurses, die mit einer Betrachtung der Oberfläche beginnt, wodurch die Häufungen und die Bezeichnungspraxis sichtbar werden. Anschließend stehen zwei zentrale tragende Pfeiler des Diskurses im Fokus, die anhand zweier Artikel exemplarisch untersucht werden (»Endstation Neukölln« und »Rütli«).

Es wird sich zeigen, in welcher Weise Probleme in Neukölln gedeutet werden und welche Effekte diese Problemwahrnehmungen haben. Dabei wird eine Choreographie der Konstruktion eines »Problembezirks « deutlich, die über Neukölln hinausgeht: Zunächst wird in dramatisierender Weise problematisiert, bevor (zumeist repressive) Handlungsmöglichkeiten als alternativlos präsentiert werden. Außerdem wird deutlich, dass das medial geschaffene Label Neukölln Rassismus und Klassenverhältnisse dethematisiert, was abschließend am Beispiel der populären Forderung nach »sozialer Mischung« aufgezeigt wird.

Probleme statt Arbeiter

Die Anzahl der Artikel über Neukölln nimmt im Zeitverlauf stark zu. Während bis einschließlich 2005 Neukölln lediglich im Durchschnitt in knapp zehn Beiträgen pro Jahr erwähnt wird, ist mit dem Jahr 2006 ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Zwar ebbt das Interesse an Neukölln im Spiegel 2007 im Vergleich zum Vorjahr deutlich ab. Insgesamt stabilisiert sich die Zahl der Nennungen pro Jahr jedoch. Zwischen 2006 und 2011 wird Neukölln jährlich durchschnittlich in fast 30 Beiträgen erwähnt.

Info: Von Mai bis November 2013 wurde vom Migrationsrat Berlin-Brandenburg (MRBB) die Veranstaltungsreihe „Rassismus und Justiz“ durchgeführt. Sie diente der Vernetzung von Juristen, Migrantenselbstorganisationen sowie anderen anti-rassistischen Akteuren und zielte auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus im deutschen Justizwesen. In Rahmen dieser Reihe entstand die gleichnamige Broschüre, aus der dieser Artikel entnommen wurde. Die Broschüre kann seit kurzem auf der Homepage des MRBB kostenlos heruntergeladen bzw. als Druckexemplar bestellt werden.

Das zunehmende Interesse hängt mit einer gesteigerten Problematisierung zusammen, was sich exemplarisch an den Bezeichnungen für Neukölln darstellen lässt. Ein Blick auf die Attribute, mit welchen Neukölln versehen wurde, zeigt, dass der Stadtteil in den 1990er Jahren zunächst als »Arbeiterviertel« beschrieben wird, ab 2006 setzt sich allerdings das Attribut des »Problembezirks« durch.

Dass Neukölln nicht als »Problemviertel«, sondern als »Problembezirk« bezeichnet wird, ist nicht beliebig. Das Morphem »Bezirk« verweist auf einen örtlichen Zuständigkeitsbereich, zum Beispiel einen Regierungsbezirk. Ein »(Stadt-)Viertel« bezeichnet hingegen nicht eine Verwaltungseinheit, sondern ein in den meisten Fällen aus von viel befahrenen Straßen oder Flüssen begrenztes soziales Bezugssystem, das räumlich und sozial durch die jeweiligen Bewohner zu anderen (Stadt-)Vierteln abgegrenzt wird. Eine ähnliche Konnotation hat ein »Kiez«. Dieser verweist jedoch aufgrund der regionalen Bezeichnung noch mehr auf die von der dort lebenden Bevölkerung gezogenen Grenzen. Dass sich die Bezeichnung »Bezirk« durchsetzen konnte, lässt auf zweierlei schließen: Einerseits werden die Politiker angerufen, die für die Verwaltungseinheiten zuständig sein sollten, andererseits werden den Bewohnern eines Bezirks weniger Handlungsfähigkeiten eingeräumt. Im Falle des »Problembezirks« sind sie nicht diejenigen, die etwas ändern können, sondern die Politiker sind gefragt. Mehr noch: Es wird sich zeigen, dass viele der Bewohner vielmehr als Teil des Problems angesehen werden.

High-noon bei der Endstation Neukölln

Bis 1997 lassen sich allerdings keine thematischen Schwerpunkte in der Berichterstattung über Neukölln ausfindig machen. Das »Arbeiterviertel« Neukölln erscheint im Wesentlichen als unauffälliger Stadtteil. So wird in mehreren Beiträgen Neukölln als Wohnort vieler Künstler, besonders aus der ehemaligen Sowjetunion, hervorgehoben. Neukölln ist hier ein Ort, an dem schöne Piano-Konzerte stattfinden 1 oder wo es sich bekannte Schauspielerinnen wie Katja Riemann gemütlich machen, da in Neukölln »großräumig und luxuriös« gewohnt werden kann.

Eine Wende in der Berichterstattung markiert eine sechsseitige Reportage über Neukölln, die am 20.11.1997 erschien. Der vom Spiegel-Redakteur Peter Wensierski verfasste Beitrag »Endstation Neukölln« 2 dient heute noch als Bezugspunkt, wenn über das Image von Neukölln diskutiert wird. Der Beitrag war auch Anstoß für zahlreiche kulturelle Angebote. So wurde etwa das Kulturfestival 48 Stunden Neukölln im Jahr 1999 als Reaktion auf das negative Bild von Neukölln in Folge des Spiegel-Artikels ins Leben gerufen. Der Beitrag dramatisiert die soziale Situation in Neukölln, das als Bezirk erscheint, in dem alles verloren scheint und es keinen Ausweg mehr gibt. Das Ausmaß der Dramatisierung offenbart bereits der Spiegeltypische szenische Einstieg:

»High-noon in Rixdorf: In der Neuköllnischen Allee peitschen mehrere Schüsse über die belebte Straße. Wer kann, geht in Deckung. Einer bleibt auf dem Boden liegen. Wenig später berichtet eine Passantin der Polizei, was dann geschah: ›Ein Mann lief weg, ein anderer kam noch einmal zurück, setzte den Lauf seiner Waffe auf das Genick des Wehrlosen und drückte ab.‹ Vor dem Genickschuß hatte der Täter noch einmal seelenruhig nachgeladen, obwohl er bereits beobachtet wurde. Szenen wie diese gehören zum Alltag im Berliner Bezirk Neukölln. In den vergangenen Monaten registrierte der Polizeibericht nahezu wöchentlich eine Schießerei. Mal wird in der Fuldastraße aus einem fahrenden Auto heraus auf den Gehweg geschossen, mal müssen Notärzte in der Herrfurthstraße gleich mehrere Verletzte nach einem minutenlangen Feuergefecht abtransportieren. Im Frühjahr löschten bei einer wilden Schießerei in der Wissmannstraße mit insgesamt fünf Toten zwei Nachbarfamilien sich gegenseitig aus. Die blutigen Auseinandersetzungen markieren den sozialen Niedergang im größten Bezirk der Hauptstadt«.

Der letzte Satz dieses Einstiegs deutet zunächst darauf hin, dass im Beitrag die beschriebene Kriminalität nicht ethnisiert wird, d.h. nicht in einer rassistischen Weise gedeutet wird. Auch die Einleitung zum Artikel lässt derlei nicht vermuten. Dort heißt es: »Im Zentrum boomt und glitzert Berlin. Doch an den Rändern verslumt die Metropole. Im Arbeiterbezirk Neukölln zeigen Verwahrlosung, Gewalt und Hunger den sozialen Niedergang an«. Verwahrlosung, Gewalt und Hunger erscheinen lediglich als Symptome für ein grundlegendes soziales Problem. Die Deutung, warum es die Symptome oder das übergeordnete Problem gibt, ist an dieser Stelle noch offen. Erst im weiteren Verlauf werden Erklärungsangebote für die sozialen Probleme geliefert. Hier bietet der Autor im Wesentlichen drei Deutungen an:

Zum einen wird immer wieder, wenngleich auch sehr vage, festgestellt, dass »die Politik« zu wenig gemacht habe. Die Angriffe auf die Kommunalpolitiker und den Staat, der sich zurückziehe, lassen auf die Forderung einer irgendwie anderen Politik schließen.

Ein anderes Erklärungsmuster bezieht sich auf den Raum. Insbesondere im Norden Neuköllns konzentriere sich das »Elend«: »Nirgendwo sonst in der Hauptstadt hocken die Menschen so dicht aufeinander wie hier«, erfahren die Leser. Die, die dort leben, seien die Wendeverlierer, die massenhaft nach 1989 nach Neukölln gezogen sind. Hier scheint das Erklärungsmuster der »Entmischung« durch, wonach soziale Probleme insbesondere dann auftauchen würden, wenn sich zu viele Erwerbslose, arme Menschen, (Post-)Migranten und andere als problematisch identifizierte Personengruppen »ballen«. Damit korrespondiert die im Teaser vorgenommene räumliche Verortung ins Außen (»An den Rändern verslumt die Metropole«).

Drittens werden implizit (Post-) Migranten bzw. People of Color verantwortlich gemacht, was zwar an wenigen Stellen offen geschrieben wird, dennoch suggerieren die Verbindungen von Themen genau das. Das Deutungsmuster »Ausländerkriminalität« ergibt sich zum einen durch den Kontext der nur wenige Wochen zurückliegenden Debatte um Gerhard Schröders Forderung »Kriminelle Ausländer raus« und zum anderen durch die weiteren Beispiele für Kriminalität, bei denen die (vermeintlichen) Täter hinsichtlich ihrer (angenommenen) Herkunft markiert werden.

Es wird etwa vom Versuch von »100 türkische[n] Straßenkids« berichtet, die gemeinsam mit ihren Eltern Festgenommene befreien wollten. Der einzige Akteur, der als »Jugendkrimineller« mehr als einmal zu Wort kommt, ist ein Jugendlicher, der gemeinsam mit seinen Freunden als die »jungen Türken« bezeichnet wird. Außerdem wird »Asyl« mit »Ausländerkriminalität« verbunden. Die als Drogenverkaufsplatz identifizierte Hasenheide sei »fest in schwarzafrikanischer Hand«. Um den Zusammenhang von »Asyl« und »Ausländerkriminalität« zu illustrieren, wird Neukölln anschließend als »›Untertauchgebiet‹ für Schwarzarbeiter, abgelehnte Asylanten und Prostituierte ohne Aufenthaltserlaubnis« problematisiert.

Hier wird Kriminalität mit Einwanderung bzw. der vermeintlichen oder tatsächlichen Herkunft verknüpft. Effekt dieser Verknüpfung ist eine Ethnisierung von Kriminalität: Wird über Kriminalität berichtet, wird reflexartig eine Verbindung zur vermeintlichen oder tatsächlichen Herkunft der Täter hergestellt. Durch diese Verknüpfung wird suggeriert, die Herkunft sei ursächlich für Kriminalität. Die Ethnisierung von Kriminalität führt etwa dazu, dass rassistische Vorstellungen mit Begriffen wie »Drogendealer« oder »Organisierte Kriminalität« verbunden werden. Nach der bereits 1998 erschienenen und nach wie vor sehr lesenswerten Studie »Von deutschen Einzeltätern und ausländischen Banden des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) werden bei der Berichterstattung über Kriminalität in der Tendenz Straftaten von (Post-) Migranten in Zusammenhang zu organisierter Kriminalität und »Bandenkriminalität« gesetzt, während Straftaten von Deutschen als Einzelfälle behandelt werden.

Der Tenor von »Endstation Neukölln« prägt fortan die Berichterstattung, wenngleich die Beiträge längst nicht so dramatisierend sind wie dieser. Bestimmend bis 2006 ist die Problematisierung von Neukölln, obschon die diagnostizierten Problemfelder sich ausdifferenzieren: Armut, die Existenz einer nutzlosen »Unterschicht« und vermehrt − nicht erst seit dem 11.9.2001 − »Islamismus« sowie »Ausländerkriminalität«. Zugleich werden kaum Handlungsmöglichkeiten thematisiert. Vor diesem Hintergrund erscheint der Titel des Beitrags »Endstation Neukölln« in einem besonderen Licht. Das Bild der »Endstation« lässt den Glauben an Entwicklungsmöglichkeiten nicht zu – es kann im Grunde nichts mehr getan werden. In Neukölln ist Fortschritt unmöglich, es liegt am Rand, in der Peripherie, wo die Bahnlinie endet und der einzige Ausweg ein Ticket zurück ins Zentrum ist.

Bombenalarm in der verlorenen Welt

Im weiteren Verlauf rückt Neukölln allerdings nicht als abgeschriebener Bezirk ins Zentrum, sondern als Bezirk, in dem etwas getan werden muss. Diese Verschiebung hat sogar geografische Konsequenzen für Neukölln. 2011 schrieb der gleiche Spiegel-Redakteur, der 1997 die »Endstation Neukölln« schuf, über ein Neukölln, das zwar heute noch zentral als sozialer Brennpunkt wahrgenommen werden würde, wo sich allerdings auch viel geändert habe. Mehr noch: Heute blickten viele ehemalige Neuköllner »mit Wehmut auf den berüchtigten Bezirk.

Denn das Elend zieht um, und viele Probleme der Stadt verlagern sich in die Peripherie, in neue Ghettos, die nun dem gefürchteten Beispiel der Pariser Banlieue ähnlicher werden« 3. In diesem Beitrag wird Neukölln nicht mehr als Randbezirk, sondern im »Zentrum« der Stadt verortet. Dieser veränderten – wenngleich auch keinesfalls dominanten – Vorstellung von Neukölln ging ein lange Phase voraus, in der zwar weiterhin in dramatisierender Weise Neukölln problematisiert wurde, in der aber zugleich (meist) repressive Handlungsvorschläge gemacht wurden.

Ein einschneidendes Ereignis für den Diskurs über Neukölln ist in diesem Zusammenhang die Debatte um den Inhalt eines Briefs des Kollegiums der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln Ende März 2006. Die Lehrer beklagten die Situation an ihrer Schule. Nicht zu vergessen ist der Kontext der »Rütlidebatte«, der häufig übersehen wurde. Die Debatte um den Brief der Rütli-Lehrer reiht sich ein in eine intensive öffentliche Diskussion um »Gewalt an Schulen«. Ereignisse, bei denen Lehrer und Schüler durch Schüler getötet wurden, verstärkten die bereits vorher etablierte Wahrnehmung, dass die Gewalt an Schulen ständig steige. Im April 1999 kam es zu einem Amoklauf an der Columbine High School in der US-amerikanischen Stadt Littleton, der auch in Deutschland für Aufsehen sorgte. Zentrales Ereignis war allerdings der Amoklauf eines 19-Jährigen im April 2002 an einem Gymnasium in Erfurt, bei dem insgesamt 17 Menschen starben. Etwa ein Jahr später schoss ein 16-Jähriger in einer Realschule auf eine Lehrerin, nahm eine Schülerin als Geisel und tötete sich anschließend selbst. Die Ereignisse zogen jeweils Debatten um Themen wie Jugendgewalt, »Killerspiele« und das scheinbare Versagen »antiautoritärer Pädagogik« nach sich. Das Thema Einwanderung wurde bei den genannten Diskussionen nicht themasiert, auch weil die Täter nicht in rassistischer Weise markiert wurden.

Vor diesem Hintergrund stellt die »Rütlidebatte« nicht nur für den Neuköllndiskurs ein einschneidendes Ereignis dar, sondern auch für die Themenkomplexe Jugendgewalt und Schule, da diese im Verlauf der Debatte mit der Deutung von »Integrationsmissständen« verbunden werden, was sich beispielhaft am Titel-Beitrag des Spiegel kurz nach der Veröffentlichung des Briefes der Lehrer der Rütli-Schule darstellen lässt. Der zwölfseitige Beitrag »Die verlorene Welt«, der am 03.04.2006 erschien 4, markiert eine Wende im Neuköllndiskurs, da zum einen bereits etablierte Vorstellungen bedient und zugleich neue Erklärungen für die diagnostizierten Probleme ausgemacht werden sowie mögliche Handlungsoptionen im Zentrum stehen. Sowohl der Inhalt als auch die Problemdeutung werden bereits im Teaser präsentiert:

»Es sind Brandbriefe, Bankrotterklärungen und Hilferufe: Die Lehrer mehrerer Berliner Hauptschulen klagen über die Unmöglichkeit ihrer Aufgabe«. Zwar finden sich im Text sehr widersprüchliche Erklärungsmuster, dennoch wird überwiegend ein Zusammenhang zwischen der Gewaltbereitschaft und der (sozialen und »ethnischen«) Herkunft der Schüler hergestellt. An einer Stelle zur Problemdeutung heißt es: »Das Problem ist ein soziales: Die da oben haben die dort unten längst abgehängt. Reich wird reicher, arm wird ärmer, klug wird klüger, dumm wird dümmer, das ist die Welt, wie sie die Schüler von der Rütli-Schule sehen«. Diese Aussage wird direkt verbunden mit einem Absatz, der Gewalt mit der Herkunft begründet:

»Natürlich, manchmal und viel zu oft geht es um Schulen mit hohem Ausländeranteil. Dass es gerade dort Probleme gibt, hat mit Integration zu tun oder ihrem Scheitern. Integration, gebaut auf Selbstbewusstsein und Toleranz, findet kaum statt, von beiden Seiten aus nicht. ›Rational wissen wir, dass unsere Gesellschaft Zuwanderung braucht, emotional aber sind wir davon überzeugt, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gibt‹, so der Berliner Schriftsteller Zafer Senocak«.

Das Versagen der Integration sei auf fehlendes Selbstbewusstsein und Toleranz »auf beiden Seiten« zurückzuführen. Diese rhetorisch als ausgewogen getarnte Aussage wird durch das unkommentierte Zitat eines Berliner Schriftstellers, der aufgrund seines Namens migrantisch markiert ist, in den Schatten gestellt. Der Sprechende spricht im Namen des kollektiven »Wir«, weil eine solche Aussage eine andere Bedeutung hat, wenn sie etwa von einem weißen Jugendamtsmitarbeiter getätigt wird. Von der Sprechendenposition losgelöst dient die Aussage aber dazu, Rassismus auf Ängste und Emotionen zurückzuführen und zum anderen dazu, Einwanderung als (rational) notwendiges Übel zu erklären. Dieses Fragment ist sinnbildlich für die Erklärungsmuster im gesamten Beitrag: Es werden verschiedene Erklärungen angeboten (ohne sie zu vertiefen); es dominiert allerdings das Erklärungsmuster, wonach die (vermeintliche) Herkunft ursächlich für das diagnostizierte Problem der Gewalt an Schulen ist.

Anhand der Beschreibung des Alltags einer Lehrerin zeigt sich, dass insbesondere männliche Migranten als zentrale Problemgruppe ausgemacht werden. Wenn die Lehrerin in einer Klasse eine Vertretungsstunde machen muss, sitzen da »alles Mustafas und Alis, und alle sprechen sie an mit Ey Alte – wenn sie höflich sind«. Zuvor wird der Kriminologe Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) zitiert, der von einer »Macho-Kultur« spricht und meint, dass diese »besonders Migranten präge«. An anderen Stellen wird diese Deutung auf den vermeintlichen muslimischen Glauben zurückgeführt. Hier deutet sich eine Ethnisierung von Sexismus an, die die sexistischen Effekte des gesamtgesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses als Phänomen von (muslimischen) Migranten fokussiert.

Zusätzlich werden die aufgeworfenen Probleme in dramatisierender Weise mit dem Stadtteil erklärt. Betrachte man die Rütli-Schule, die für viele andere Schulen in Berlin und im Bundesgebiet stehe, sehe es so aus »wie einstmals in der Bronx« oder wie Städte, »die nicht mehr zu kontrollieren, nicht mehr zu regieren« sind. Auf das Ghetto-Symbol wird quer durch den Beitrag Bezug genommen. Mehrmals wird darauf verwiesen, Bewohner würden Neukölln selbst »zum härtesten Ghetto der Stadt, des Landes, der Welt« stilisieren. An keiner Stelle finden sich allerdings selbstkritische Positionen zur Verantwortung von Medien, die dieses Bild zumindest allzu gerne bereitwillig aufnehmen − oder gar mit hervorbringen.

Am Vergleich mit dem Amoklauf von Erfurt im April 2002 wird der Unterschied der Problemdeutung deutlich: »Immer wieder mal sind in den vergangenen Jahren Schulen ins Blickfeld gerückt, Schulen wie das Erfurter Gutenberg-Gymnasium, das war nach Verbrechen, nach Katastrophen − dass der ganz normale Irrsinn des Alltags zur öffentlichen Kapitulation eines Kollegiums führt, das war neu«. Der Unterschied zwischen dem Gutenberg-Gymnasium und der Rütli-Schule liegt darin, dass der Amoklauf in ersterer als ein Ausnahmefall markiert wird, die an der Rütli-Schule diagnostizierten Zustände hingegen den alltäglichen Ausnahmezustand darstellen. Zudem verweist der Begriff der »Katastrophe« auf Unvorhersehbarkeit und Verschulden der Natur, der Begriff der »Kapitulation« auf die bewusste Aufgabe von Subjekten. Handelnde oder zumindest handlungswillige Subjekte sind hier allerdings in erster Linie Sozialarbeiter, Lehrer und Verwaltungsangestellte, die machtlos erscheinen. Eher als Objekte erscheinen die Eltern der Schüler der Rütli-Schule, die hauptsächlich als jene beschrieben werden, die sich nicht um ihre Kinder kümmern würden.

Zur Beseitigung der Probleme werden insbesondere autoritäre Interventionen vorgeschlagen. So werden etwa die Vorschläge von Lehrern einer anderen Schule referiert, die neben einer Diskussion über das dreigliedrige Schulsystem fordern: »die Präsenz eines Polizisten, der Schülerkonflikte deeskaliert und Ansprechpartner für Lehrer ist; die zügige, konsequente Durchsetzung von Strafen bei Regelverstößen; Eltern für die Vernachlässigung ihrer Erziehungspflicht zur Verantwortung ziehen zu können; den Einsatz aller juristischen Möglichkeiten zum verschärften Umgang mit jugendlichen Gewaltstraftätern; und die bessere Absicherung des Schulgebäudes, die schulfremde Personen fernhält«.

Auch der Einsatz zweier zentraler Symbole im Beitrag verstärkt sowohl die ethnisierende Problemdeutung als auch die Notwendigkeit harten Durchgreifens: Erstens werden die Deutungen von »Parallelgesellschaften « im »Problembezirk« Neukölln durch das Symbol der »[anderen] Welt« verstärkt. Zweitens wird der als notwendig begriffene erhöhte Handlungsbedarf einer stärkeren Kontrolle und Repression durch militärische Metaphern gestützt.

Das bereits im Titel verwendete Symbol einer abgeschotteten Welt wird im Beitrag häufig wiederholt und ist schon rein quantitativ auffällig: Insgesamt 14mal wird der Begriff »Welt« im Sinne der Welt der Schüler, und einer Welt, in der die Rütli-Schule sich befindet, verwendet.

Das Symbol »Welt« steht hier für ein geschlossenes System. So wird als Welt wahlweise die Hauptschule bezeichnet, die Welt der »männlichen Migranten«, die »Ghetto-Welt« insgesamt oder der Stadtteil. Nicht nur die Welt der Anderen wird markiert, auch die Welt des Eigenen, so etwa die »Welt der Deutschen« oder, gleichbedeutend, die »Welt jenseits des Ghettos«. Die konkrete Position der anderen Welt wird nicht verdeutlicht. So ist wahlweise vom »Nebenplanet« und von der »Unterwelt« die Rede. Dass die »Welt« allerdings näher ist als gewollt und daher eine direktere Gefahr darstellt, zeigt folgendes Fragment: »Das Ganze [hier gemeint: die Rütli-Schule] ist eine Welt, die sieben Kilometer vom Bundestag entfernt ist und drei Kilometer vom Hotel ›Estrel‹, aus dem ›Wetten, dass …?‹ und der ›Echo‹ übertragen werden«. Das Eigene wird hier repräsentiert durch den Bundestag und das Hotel Estrel, aus dem die Leitmotive deutscher Alltagskultur übertragen werden.

Durch die Existenz der »Welt« von Rütli und Neukölln mitten unter der »Welt der Deutschen« besteht erhöhter Handlungsbedarf. Das wird an der militärischen Sprache deutlich. Bereits im Teaser wird der Brief der Rütli-Lehrer als »Brandbrief« bezeichnet, womit »die Bombe platzt[e]«. An anderer Stelle ist von der »Terrorschule« und von einem »Zermürbungskrieg« zwischen Lehrern und Schülern die Rede. Der »Brandbrief« der Lehrer sei eine öffentliche »Kapitulation« und hätte »Sprengkraft«. Wenn die Lehrer vor einer Klasse stünden, gehe es um nichts anderes als darum, »zu überleben«. Anhand dieser Bezeichnungen werden implizit staatliche Institutionen angerufen, sich dieser kriegerischen Welt anzunehmen.

In Anschluss an die Rütli-Debatte werden proportional häufiger Zukunfts- und Handlungskonzepte thematisiert, wobei zumeist autoritäre Lösungsstrategien im Zentrum stehen. Die von Heinz Buschkowsky geforderte Kita-Pflicht (vor allem für Kinder »mit Migrationshintergrund«) oder das schnellere Durchgreifen gegen delinquente Jugendliche durch Jugendrichterin Kirsten Heisig zeigen beispielhaft die Popularisierung von Maßnahmen der Disziplinierung und Kontrolle von (Post-) Migranten und sozial Marginalisierten.

Hinzu kommt, dass spätestens seit der Rütli-Debatte Neukölln als zentraler Repräsentant eines »Problembezirks« im gesamtgesellschaftlichen Diskurs etabliert wurde. Diese Deutung wirkt bis heute nach. Zwar wird − wie im erwähnten Beitrag, in dem sich Neukölln vom Randbezirk zum Innenstadtbezirk entwickelt − vermehrt auch darauf hingewiesen, dass Neukölln mittlerweile hipp sei und dort viele Künstler und Studenten wohnten, allerdings frischten die »Sarrazin-debatte« 2010 und die Debatte um das Buch von Heinz Buschkowsky (»Neukölln ist überall«) das Bild von Neukölln als »Problembezirk« wieder auf. Die Hauptthemen bleiben: Kriminalität, Migration und soziale Ungleichheit.

Mit der richtigen Mischung gegen Rassismus und Armut

Die Analyse des Neuköllndiskurses zeigt insgesamt, dass Strukturen sozialer Ungleichheit bzw. Klassenverhältnisse in eine Art mediale Blackbox verschoben werden. Strukturelle Ursachen, wie die veränderte Produktionsweise im aktuellen neoliberalen Kapitalismus, der Umbau des Sozialstaats zum Workfare-Staat, Deregulierungen, Privatisierungen usw. werden kaum bis gar nicht thematisiert. Diese Deutungen spiegeln sich in den postulierten Lösungsvorschlägen wider. Deutlich wird das bei der zentralen Problembeschreibung der »sozialen Ballung« bzw. der Forderung nach »Entmischung«. Die Vorstellung: Konzentrierten sich zu viele Arme an einen Ort, verfestigt sich eine »Unterschichtenkultur«. Ein Stadtteil mit zu vielen Armen drohe dann »immer weiter abzurutschen«.

Aus dieser Beschreibung folgt die Forderung nach einer ausgewogenen »sozialen Mischung«. Wissenschaftlich fundiert wurde diese Vorstellung in der der deutschen Stadtsoziologie in den 1990er Jahren. Einige führende Stadtsoziologen warnen seither vor wachsenden städtischen Segregationstendenzen oder gar vor latentem Bürgerkrieg. Auch in der Politik hat diese Perspektive schon lange großen Einfluss, wie die unzähligen Quartiersmanagements zeigen. Finanziert werden sie vor allem durch »Soziale-Stadt«-Programme, denen es um die »Revitalisierung« der Stadtteile und die Durchbrechung der »Abwärtsspirale« geht. Andrej Holm kritisierte bereits im Jahr 2009 in einem Beitrag in der Zeitschrift »Forum Wissenschaft« den Mythos der sozialen Mischung. Der Stadtsoziologe zeigte auf, dass es keinen wissenschaftlichen Beweis für die Annahme gibt, dass soziale Mischung die Lösung für soziale Probleme darstelle. In einer jüngst erschienenen Studie »Quartierseffekte in der Stadtforschung und in der sozialen Stadtpolitik« weist auch Anne Volkmann darauf hin, dass für viele Menschen das Wohnumfeld keineswegs mit dem Sozialraum zusammenfällt, womit die zentralen Annahmen der Quartierspolitik in Frage gestellt werden.

Das Argument der sozialen Mischung ist aber nicht nur aufgrund der praktischen Wirkungslosigkeit zu kritisieren. Zu kritisieren sind vor allem seine ideologische Funktion und seine praktische Konsequenz: die Verdrängung von Menschen.

Sowohl im Spiegel als auch in den Richtlinien des aktuellen rot-schwarzen Berliner Senats heißt es in Bezug auf Mietenpolitik, das politische Ziel sei die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung der »Berliner Mischung«. Damit ist die Stadtplanung Mitte des 19. Jahrhunderts gemeint, der die Annahme zu Grunde liegt, Arme und Reiche im Kiez würden sich gegenseitig wunderbar ergänzen und stützen.

Der »Trick« des Entmischungsarguments liegt darin, dass es soziale Ungleichheit zwar thematisiert, allerdings in einer kulturalisierenden Weise. Weder nimmt es gesellschaftliche Ursachen von Armut in den Blick noch stellt es die Frage nach Verteilung von Ressourcen. Hinzu kommt, dass die Rede von der Entmischung mit der integrationspolitischen Figur der »Parallelgesellschaften« verknüpft ist. »Parallelgesellschaften« sind − wie schon aufgezeigt − im herrschenden Verständnis geprägt durch »Ausländerkriminalität«, »soziale Verwahrlosung« und »islamischen Fundamentalismus«. Doch nicht nur eine Ethnisierung von Kriminalität findet statt, auch eine Ethnisierung der Unterschicht ist festzustellen. Wie beim entsprechenden Diskurs um »faule Arbeitslose« soll auch die »migrantische Unterschicht« wegen eigener Versäumnisse selbst schuld sein an Armut und Erwerbslosigkeit. Doch diese Beschreibung verbindet sich mit rassistischen Begründungen, etwa wenn ein angeblich mangelndes Leistungsverständnis bei Muslimen mit der Kultur des Islams begründet oder gar die Leistungsfähigkeit aufgrund genetischer Disposition generell in Frage gestellt wird (so wie es Thilo Sarrazin notorisch tut). All diese Positionen produzieren und stützen Rassismus und haben zur Folge, dass struktureller Rassismus als eine mögliche Erklärung für die soziale Marginalisierung von Migranten und ihren Kindern ausscheidet.

Dass es eigentlich gar nicht um »soziale Mischung« geht, zeigt sich an der Auswahl der Stadtteile, über die überhaupt gesprochen wird. So sind zwar Berlin-Neukölln, Duisburg-Marxloh und andere »Problembezirke« Thema, nicht aber jene Stadtteile, in denen sich die bürgerliche Klasse in eine Parallelgesellschaft abschottet, wie etwa Berlin-Zehlendorf oder Hamburg-Blankenese. Ob die sich abschottende Klasse an einer Mischung mit sozial Marginalisierten interessiert ist, darf angesichts der vielen gut situierten Eltern in zunehmend attraktiven, aber noch teilweise »problematischen« Bezirken wie Berlin Kreuzberg oder Neukölln, die ihre Kinder auf Schulen in bürgerlichen Stadtteilen schicken, bezweifelt werden. Die Forderung nach sozialer Mischung wird offensichtlich selektiv erhoben, und das verweist auf ihre repressive bzw. kontrollierende Funktion.

Ein Beispiel dafür, wie Ausbeutung und Unterdrückung sowie der Zusammenhang von Rassismus und Klassenverhältnissen umfassend thematisiert werden kann, sind die Proteste gegen Mieterhöhungen am Kottbusser Tor, das zwar nicht in Berlin-Neukölln liegt, aber in einem Bezirk, der ebenfalls traditionell als »Problembezirk« gilt. Auch die Mieter des Protest-Gecekondus mussten sich von Anfang an mit dem Mischungsargument auseinandersetzen, weil von Seiten des Senats immer wieder mehr soziale Mischung am Kottbusser Tor gefordert wurde, womit effektiv Mieterhöhungen und Privatisierungen gemeint sind. Auf einer Veranstaltung Ende Oktober 2012 unter dem Titel »Miete Mischung Mehrwert« meinte eine Aktivistin des Gecekondu dazu treffend und knapp: »Wir haben kein Problem mit der Mischung, sondern mit der Miete.« Seit Mai 2012 tragen die Aktivisten am Kottbusser Tor mit ihrer sichtbaren Präsenz dazu bei, die Kritik an herrschenden Wohnverhältnissen, Rassismus und Klassenverhältnissen medial und politisch zu verankern. Das Gecekondu entwickelte sich nach kurzer Zeit zu einer Art sozialem Zentrum, in dem nicht nur die von steigenden Mieten betroffenen Anwohner sich begegnen, sondern ebenso Unterstützer aus anderen Kiezen. Das Gecekondu ist ein eindrückliches Beispiel für alltägliche Kämpfe, durch die spaltende Diskurse unterlaufen werden.

  1. Der Spiegel 47/1990
  2. Der Spiegel 43/1997
  3. Der Spiegel 9/2011
  4. Der Spiegel 14/2006