Verschleiert, Vergessen, Versagt

Es wird nicht einfach, das Vertrauen zurückzugewinnen

Die Pannen und Schlampereien bei der Aufarbeitung der NSU Mordserie sorgen weiterhin für Furore. Obwohl der Nachrichtenwert immer mehr abnimmt, kommen immer noch hochgradige Einzelheiten ans Tageslicht: Verfassungsschutz hatte seit 2005 Infos über NSU.

Von Mittwoch, 15.10.2014, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.12.2015, 9:30 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Die meisten Bundesländer, in denen die sogenannten „NSU-Morde“ kaltblütig und professionell vollstreckt wurden, haben Untersuchungsausschüsse eingerichtet oder planen dies zumindest für die Zukunft. Nur in Baden-Württemberg lehnt die Mehrheit des Landtags, obwohl in Heilbronn eine Staatsbeamtin und dazu noch eine Polizistin erschossen worden ist, einen solchen Ausschuss ab. Es scheint so, als ob sonderbare Interessen, die eine ganz andere, tiefe Dimension besitzen, überwiegen. Ermittler, die bereit sind, Rede und Antwort zu stehen, bekommen keine Erlaubnis, Aussagen zu tätigen. Und diejenigen, die reden leiden an Alzheimer oder sind bereits verstorben – auf dubiose Art und Weise.

Einer der Toten, Thomas R., war ein gut bezahlter V-Mann mit dem Codenamen „Corelli”, der im Kreis Paderborn in seiner Wohnung tot aufgefunden worden sein soll. Eine Leiche, die sich im Zeugenschutzprogramm befand, wirft naturgemäß Fragezeichen auf. Offiziell ist der 39-Jährige wegen einer „unerkannten Diabetes” verstorben.

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Brisant ist der Tod aber auch deshalb, weil neuesten Erkenntnissen zufolge Corelli dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) spätestens 2005 eine Daten-CD übergeben haben soll, in der auch von „NSU/NSDAP” die Rede ist. Demnach hatte der Inlandsgeheimdienst bereits vor Auffliegen der rechtsterroristischen Gruppe im Jahr 2011 Hinweise auf den NSU. Bisher wurde immer das Gegenteil beschworen.

Und wer weiß, was noch alles vergessen wurde, geschreddert zu werden. Politiker fordern nun, dass „jeder Stein im BfV umgedreht werden“ müsse. Das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) hat einen Sonderermittler beauftragt, der sich der Sache annehmen soll. Dabei soll auch die Todesursache von Corelli noch einmal überprüft werden.

Ein anderer wichtiger Zeuge, Florian H., soll durch Selbstmord ums Leben gekommen sein. Er soll sich selbst in sein Auto gefesselt und es in Brand gesetzt, sich also freiwillig für die denkbar schmerzhafteste Selbstmordvariante entschieden haben. Grund für den Suizid soll Liebeskummer gewesen sein. Wieso Florian H. kurz vor seiner Vernehmung von Liebeskummer erfasst wurde, ist ungeklärt. Jedenfalls befand er sich auf dem Weg zum LKA Baden-Württemberg zur Zeugenaussage zum NSU-Komplex, ehe er sich kurzerhand das Leben nahm.

Für Experten steht fest: Beide Zeugen, Florian H. und Thomas R., waren sehr wichtige Schlüsselfiguren und hätten sich nicht nur zur NSU äußern können.

Nach bekanntwerden dieser „plötzlichen“ Todesfälle sprach die Süddeutsche Zeitung von einem „Politikum”, die Berliner-Zeitung konstatierte: „Statt Aufklärung gibt es immer neue Fragen”. Und in der TAZ prangte: „Land im Ausnahmezustand. Die Nichtaufklärung der NSU-Morde zeigt, wie der ‚Tiefe Staat‘ in der Bundesrepublik funktioniert – samt seiner Wasserträger im Parlament“. Micha Brumlik und Hajo Funke kommentierten: „Tatsächlich mehren sich seit Längerem die Indizien dafür, dass sich hinter dem mörderischen und rassistischen Kriminalfall NSU eine schleichende Staatskrise verbirgt. … Der deutsche NSU-Skandal macht im Gegensatz zur NSA deutlich, wie eine solche Gefährdung der bürgerlichen Freiheiten im noch analogen Zeitalter vor sich geht: mit Leichen, ängstlichen Volksvertretern sowie verselbstständigten Staatsschutzbehörden jenseits jeder politischen Kontrolle; vor allem aber mit einer Bundesregierung, die zwar immer wieder beteuert, den Inlandsgeheimdienst ‚Verfassungsschutz‘ reformieren zu wollen, diesen Ankündigungen jedoch keinerlei Taten folgen lässt. … Beim Nato-Partnerland Türkei ist treffend von einem ‚tiefen Staat‘ die Rede, einer jenseits der oberflächlich funktionierenden modernen Verwaltung wirkenden Koalition aus Militär, Geheimdienst und Polizei.“

Es wird nicht einfach, das verloren gegangene Vertrauen in Teilen einiger Behörden, der Politik und Justiz wiederherzustellen. Dies ist aber nötig. Genauso nötig wie die vollständige und bedingungslose Aufklärung des NSU-Komplexes. Bundeskanzlerin Merkel hatte dies den Hinterbliebenen der Opfer höchstpersönlich zugesichert. Hoffentlich bleibt es nicht nur bei einem Versprechen. Hoffentlich wird dieser Sumpf bald trockengelegt. Und hoffentlich werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Aktuell Meinung

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  1. Mika sagt:

    Das sind mir zu viele „hoffentlich“-Sätze. Keiner glaubt so richtig dran! Das Vertrauen ist schon lange Weg in diese Bundeskanzlerin…..das ist schlicht und ergreifendinstitutioneller Rassismus gepaart mit Vertuschen/Zerschreddern von wichtigen Fakten. Ach ja, Zeugen werden auch getötet. Hat man daraus irgendwie gelernt oder Lehren daraus gezogen? Ich denke nicht: man hofft auf das Vergessen der Bevölkerung und macht dort weiter, wo man aufgehört hat!