EU-Freizügigkeit

Innenminister Friedrich schwingt die große Keule…

... die bei genauerem Hinsehen ganz, ganz klein wird. Denn mit seiner Forderung, Unionsbürger, die in Deutschland Sozialleistungen beziehen, auszuweisen und mit einer Wiedereinreisesperre zu versehen, ignoriert der Bundesinnenminister nicht nur EU-Recht.

Von Claudius Voigt Dienstag, 11.06.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 16.06.2013, 22:26 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Ist die Inanspruchnahme eines verfassungsrechtlich garantierten Menschenrechts ein Akt besonders schwerer Kriminalität? Nach Auffassung von Bundesinnenminister Friedrich: ja. Mit seiner Forderung, Unionsbürger/innen, die in Deutschland „missbräuchlich“ Sozialleistungen beziehen, auszuweisen und mit einer Wiedereinreisesperre zu versehen, ignoriert Bundesinnenminister Friedrich nicht nur die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, sondern auch die Rechtsauffassung seines eigenen Ministeriums.

Seine dreiste Scheinargumentation funktioniert nur durch einen äußerst abstrusen Trick: Er erklärt das Stellen eines Hartz-4-Antrags durch mittellose Unionsbürger/innen in Deutschland gleichsam zu einem staatsgefährdenden Akt, durch den die Öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht sind.

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Lassen wir uns ausgehen von den Fakten:
1. Jede/r Unionsbürger/in – sogar arme Rumän/innen und Bulgar/innen – verfügt in Deutschland nach Ablauf von drei Monaten, auch wenn er oder sie nicht erwerbstätig ist, weiterhin über ein Aufenthaltsrecht zumindest zum Zweck der Arbeitsuche. Dieses besteht unabhängig vom Vorhandensein ausreichender Existenzmittel ohne zeitliche Begrenzung. Es kann jedoch im Einzelfall durch eine formale Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde beendet werden, wenn diese nach einem angemessenen Zeitraum durch einen förmlichen Verwaltungsakt konstatiert, dass nicht ernsthaft Arbeit gesucht oder keine realistischen Aussichten (mehr) bestehen, dass in absehbarer Zeit Arbeit gefunden wird. 1 Eine solche Verlustfeststellung (auch als „administrative Ausweisung“ bezeichnet) hat keine Wiedereinreisesperre zur Folge, sondern der oder die Betroffene genießt nach einer sofort möglichen Neueinreise erneut Freizügigkeit.

2. Jede Person in Deutschland hat ein Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das der Höhe nach den Regelbedarfen des SGB II entspricht. Dies ergibt sich aus den Art. 1 und 20 GG und wurde zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des AsylbLG erneut bekräftigt: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ 2 Die Sozialgerichte sprechen in der letzten Zeit in Eilverfahren den klagenden Unionsbürger/innen in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle vorläufig Leistungen zu, was auch auf eine europarechtliche Debatte zurückzuführen ist, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Für arbeitsuchende Unionsbürger/innen ist die Tatsache der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II allein kein hinreichender Grund für eine Verlustfeststellung oder administrative Ausweisung (siehe Punkt 1).

So formuliert Erwägungsgrund Nr. 16 der Unionsbürgerrichtlinie der EU sehr eindeutig: „In keinem Fall sollte eine Ausweisungsmaßnahme gegen Arbeitnehmer, Selbstständige oder Arbeitssuchende in dem vom Gerichtshof definierten Sinne erlassen werden, außer aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit.“

Womit wir bei Innenminister Friedrichs Logik wären: Wenn arbeitsuchende und erwerbstätige Unionsbürger/innen wegen des Sozialleistungsbezugs nicht ausgewiesen werden dürfen, muss eben ein anderer Grund her. Und den hat er in einem weiteren Ausweisungstatbestand gefunden: Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 1 der Unionsbürgerrichtlinie dürfen auch Unionsbürger/innen ausgewiesen werden, wenn dies „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ geschieht. Aus Friedrichs Sicht hätte diese Form der „Sicherheitsausweisung“ den Vorzug, dass diese anders als die administrative Ausweisung mit einer mehrjährigen Wiedereinreisesperre versehen werden darf – genau das, was der Bundesinnenminister sich für mittellose Unionsbürger/innen aus Süd- und Osteuropa, die zudem oft nur eingeschränkt wirtschaftlich verwertbar sind, vorstellt.

Jetzt jedoch wird Friedrichs Argumentation dünn – um nicht zu sagen haarsträubend. Denn:

1. Bereits im unmittelbar an den soeben zitierten Art. 27 Abs. 1 Satz 1 UnionsRL sich anschließenden Satz 2 heißt es sehr deutlich: „Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.“ Nur: Worum sonst als um wirtschaftliche Zwecke geht es wohl? Friedrich äußert dies auch klar, wenn er auf Kritik des Duisburger OB Sören Link („Mit Ausweisung und mit markigen Sprüchen à la Friedrich werden wir das Problem nicht los”) entgegnet: „Wenn der Duisburger Oberbürgermeister sagt, er will Geld haben, damit er alle auf sozusagen deutschem Sozialhilfeniveau in Duisburg verköstigen kann, dann kommen wir eben irgendwann mal an Grenzen.”

2. Der Begriff der „öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ hat rein gar nichts mit der Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu tun. Die Gewährung von Grundsicherungsleistungen erfolgt vielmehr – wie oben dargestellt – aufgrund der staatlich geschuldeten, in der Verfassung und diversen Menschenrechtsvereinbarungen verankerten Pflicht, ein menschenwürdiges Existenzminimum sicher stellen zu müssen.

In des Innenministers Logik wird das Einfordern dieses Menschenrechts somit gleichsam zu einem Akt schwerster Kriminalität umgedeutet. Denn genau hierfür ist die „Sicherheitsausweisung“ im Unionsrecht insbesondere vorgesehen: Zur ausländer/innenrechtlichen Sanktionierung schwerer Straftaten. In Art. 27 Abs. 2 UnionsRL heißt es dazu, das Fehlverhalten des oder der Unionsbürger/in müsse „eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“

Abgesehen davon, dass das Ausfüllen eines Sozialleistungsantrags und die damit zu Papier gebrachte formale Dokumentation individueller wirtschaftlicher Armut bislang wohl kaum als Straftat einzustufen sein dürfte, wäre noch nicht einmal eine Verurteilung ein hinreichender Ausweisungsgrund: „Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.“ 3

Auch Friedrichs eigenes Haus, das Bundesministerium des Inneren, sieht nur sehr begrenzte Möglichkeiten einer Sicherheitsausweisung: „Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist als Einschränkung des Prinzips der Freizügigkeit grundsätzlich eng auszulegen. (…) Es können vielmehr nur solche Verhaltensweisen den Verlust des Freizügigkeitsrechts rechtfertigen, die eine hinreichend schwerwiegende Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft darstellen. Eine Verletzung der ungeschriebenen Regeln des menschlichen Zusammenlebens, die nicht zugleich eine strafbare Handlung begründet, reicht hierfür grundsätzlich nicht aus. Es müssen zudem besondere Tatbestände der Gefährdung der inneren Sicherheit oder eine anderweitige schwere Beeinträchtigung gewichtiger Rechtsgüter vorliegen.“ 4

  1. Art. 14 Abs. 4 UnionsRL
  2. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 18.7.2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11
  3. § 27 Abs. 2 Satz 2 UnionsRL
  4. BMI: AVwV FreizügG, Rd. Nr. 6.1.1.1
Leitartikel Meinung

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  1. kwer sagt:

    Ich bedanke mich bei dem Autor für seinen strukturierten und argumentativ stichhaltigen Artikel. Leider ist der erwähnte Ausspruch des Innenministers nicht sein einziger Griff in die Wir-wollen-euch-hier-nicht-haben-Tüte. Scheinbar ist das schon Teil eines Wahlkampfs, den ich mit Bangen erwarte und der sich auch den Themen EU-Freizügigkeit bzw. Zuzug von EU-Bürger_innen widmen wird.
    Umso wichtiger ist es, rechtspopulistische Vorstöße dieser Art zu entkräften und als das zu entlarven, was sie sind: Meinungsmache.

  2. Auf einer Welt ohne Ausbeutung gibt es auch keine „Armutsflüchtlinge“.

    Der Mensch egal wo auf der Welt hat das Menschenrecht die Orte auf der Welt aufzusuchen, wo er erhoffen kann sein Existenzminimum zu bekommen.

    Das ist schlich und einfach sein Menschenrecht.

    Dies gilt gerade auch in einer Zeit, wo die Armut bestimmter Länder vor allem auch in dem überbordenden Reichtum und Konsum anderer Länder gründet.

    Es ist auch nicht richtig, dass die Armut in den entsprechenden armen Ländern selbst bekämpft werden muss. Im Gegenteil, die Armut der armen Länder muss in den reichen Ländern bekämpft werden, welche auf Kosten dieser armen Länder leben.

    Josef Özcan (Diplom Psychologe)

  3. Claudia sagt:

    @Josef Özcan (Diplom Psychologe)

    Wer sind denn die reichen Länder und wer sind die armen? Gibt es auch reiche Länder die ihren Wohlstand nicht auf der Ausbeutung armer Länder besteht?
    Welches reiche Land ist denn beispielsweise für die Armut in Rumänien und Bulgarien zuständig? Deutschland und Frankreich wohl nicht, das liegt eher an der UdSSR.

    Ihr Kommentar ist somit leider nur eine inhaltsleere Floskel, die zwar rethorisch gut klingt, aber völlig an der Realität vorbei geht. Es ist egal was die reichen Länder machen, dadurch geht es den ärmeren nicht besser.

    Claudia Riech (Werbung)

  4. Gero sagt:

    @ Josef Occn: „Der Mensch egal wo auf der Welt hat das Menschenrecht die Orte auf der Welt aufzusuchen, wo er erhoffen kann sein Existenzminimum zu bekommen.

    Das ist schlich und einfach sein Menschenrecht.“
    __________

    Ich fürchte, hier verwechseln Sie etwas. Natürlich hat jeder Mensch das Recht, sein Heimatland zu verlassen – jedoch hat kein Land die Pflicht jeden Menschen, der dies begehrt, aufzunehmen.

  5. Saadiya sagt:

    Ausgezeichneter Artikel. Innenminister Friedrich wie er leibt und lebt, badend in seinen Fettnäpfchen. Es könnte dem Bürger zum Lachen verleiten ob der gemachten Aussagen, wenn sie nicht gleichzeitig gegen die Würde des Menschen – oder wie in diesem Fall gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen – gerichtet ist. Traurig, wenn Politiker grundrechtliche Haltungen des Staates auszuhebeln gedenken, den sie inklusiver seiner Bürger eigentlich zu vertreten gewählt wurden. Ich kann nur mit dem Kopf schütteln. Friedrich ist eher ein Ärgerich.

  6. Lionel sagt:

    @ Josef Öczan

    Es existiert wohl ein Menschenrecht auf Auswanderung, allerdings kein Menschenrecht auf Einwanderung in ein bestimmtes Land.

  7. Marie sagt:

    Gero: „jedoch hat kein Land die Pflicht jeden Menschen, der dies begehrt, aufzunehmen.“
    Lionel.
    Es existiert wohl ein Menschenrecht auf Auswanderung, allerdings kein Menschenrecht auf Einwanderung in ein bestimmtes Land.

    Innerhalb der EU sehr wohl, Herr Lionel und Herr Gero – und um die genau geht es hier. Auch dann, wenn der superchristliche Rechtsausleger mit den christlich-kulturellen und allen anderen Kulturen selbstverständlich weit überlegenen „Werten“, der Herr Friedrich, mal wieder versucht, geltendes Recht und die rechtlichen Mindestwerte nach Gutsherrenart mittels Rechtsbruch außer Kraft zu setzen und auch dann, wenn das hier dem einen oder anderen so überhaupt nicht gefällt.

    Lesen Sie einfach mal nach, meine Herren – in der EU hat jeder Einwohner das Recht, sich in einem Land seiner Wahl beliebig lange aufzuhalten, u.a. auch zum Zwecke der Arbeitssuche. Und solange er keine Arbeit gefunden hat, greifen in aller Regel die üblichen Sozialleistungen. Das gilt auch für Szinti und Roma und andere arme Auswanderer und auch dann, wenn das Ihnen und dem Herrn Friedrich so überhaupt nicht zusagt. .

  8. Marie sagt:

    „Ihr Kommentar ist somit leider nur eine inhaltsleere Floskel, die zwar rethorisch gut klingt, aber völlig an der Realität vorbei geht. Es ist egal was die reichen Länder machen, dadurch geht es den ärmeren nicht besser.“

    Ach, was – und das bestimmen Sie, was eine „inhaltsleere Floskel“ ist, die „an der Realität vorbei geht“?? Herr Öczan hat übrigens nicht behauptet, dass die Armut eines bestimmten armen Landes (z.B. Bulgarien) durch den Reichtum eines bestimmten reichen Landes (z.B. der UDSSR) begründet wäre, wie Sie das unzutreffenderweise unterstellen. Vielmehr ist es so, dass kein Mensch, der offenen Auges durch die Welt geht, bestreiten kann, dass der Überfluss und der Reichtum der einen die Ursache der Armut und des Elends der anderen ist. Zwei Seiten derselben Medaille.

    Eine inhaltsleere Floskel ist m.E. Ihre Behauptung: „Es ist egal was die reichen Länder machen, dadurch geht es den ärmeren nicht besser.“ Weil in einer globalisierten Welt alles mit allem zusammenhängt und die Handlungen der Einen selbstverständlich Auswirkungen auf die anderen haben.

  9. Saadiya sagt:

    @ Lionel

    Da haben Sie Recht, aber: Wenn ein Staat oder eine Vereinigung von Staaten (EU) sich dazu entschließt, innerhalb ihrer gemeinsamen Grenzen allen seinen Bürgern Freizügigkeit (im Sinne der Einreise und des Aufenthaltes) zu gewähren, dann muß er dies auch tatsächlich ALLEN Bürgern gewähren und kann nicht im Nachhinein bestimmte Gruppen von Personen ausschließen wollen. Herrn Friedrich liegen keine konkreten Zahlen vor, die gibt es auch gar nicht. Bisher können Bürger aus Rumänien oder Bulgarien hier noch gar keine Sozialleistungen beantragen direkt nach der Einreise. Das wird erst ab Januar 2014 möglich sein. Eine sogenannte „Armutseinwanderung in Sozialsysteme“ ist im Moment noch eine politische Erfindung zur Exklusion von Zuwanderern innerhalb der EU.

    Außerdem halte ich es, wie der Autor des Artikels auch, für ein Unding, wenn Menschen kriminalisiert werden, die staatlich zugesicherte Rechtsansprüche in Notsituationen nutzen (müssen). Dann wäre nämlich auch jeder rein-deutsche Empfänger von Sozialleistungen per se ein Krimineller, den es irgendwie loszuwerden gilt. Mir ist kein Paragraph im StGB bekannt, der das Beantragen von Sozialleistungen zum Straftatbestand erklärt.

    Ich frage mich angesichts der Aussagen von Herrn Friedrich, welches Menschenbild wohl dahinter stehen mag. Jedenfalls keines, dass man wählen sollte!

  10. Lionel sagt:

    @Saadiya

    Städte wie Dortmund oder Duisburg, die schon seit Jahren eine starke Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien besitzen schon in Teilbereichen belastbares Zahlenmaterial.
    So rechnet die Stadtkämmerin von Dortmund pro Zuwanderer und Jahr (aus RU und BUL) mit, 3000 Euro die nur die Kommune aufbringen muss.
    Wenn Sie die genannten Kommune zur Thematik googeln, werden Sie eine Fülle von Artikeln finden.