Plädoyer

Rassismus verhindert Willkommenskultur in Deutschland

Deutschland braucht Einwanderer aus dem Ausland. Die werden kommen, wenn eine Willkommenskultur etabliert wird. Das wiederum wird verhindert von rassistischen Strukturen - in der Politik, in den Behörden und in der Gesellschaft. Dabei ist es höchste Zeit, umzudenken.

Von Freitag, 24.05.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.12.2015, 9:28 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Sechs Millionen Arbeitskräfte werden dem deutschen Arbeitsmarkt nach Berechnungen von Arbeitsmarktexperten und der Bundesregierung im Jahr 2025 fehlen. Nach Ansicht von Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), benötigt Deutschland jährlich 120.000 Fachkräfte. Bedingt durch den demografischen Wandel, suboptimaler Vereinbarkeit von Familie und Beruf und nicht zuletzt eines obsoleten deutschen Einwanderungsrechts, darf sich Deutschland auf einen Fachkräftemangel wie in den 1950er und -60er Jahren einstellen, wenn es jetzt nicht nachhaltig gegensteuert. Qualifizierte, ausländische Fachleute machen einen großen Bogen um die Bundesrepublik. Allein der Euro-Krise ist es zu verdanken, dass in letzter Zeit aus Spanien, Italien, Griechenland sowie Bulgarien und Rumänien als Armenhäuser der Europäischen Union (EU), potenzielle Arbeitskräfte nach Deutschland kommen.

Späte Einsicht der Bundesregierung
Wenige Tage vor dem zweiten Demografiegipfel der Bundesregierung am 14. Mai wurden einige, besorgniserregende Zahlen vorab veröffentlicht, die der Deutschland-Chef der Unternehmensberatung „McKinsey“, Frank Mattern, bereits Ende 2007 verkündete. Die Politik hatte also mindestens sechs Jahre Zeit gehabt, Fehlstellungen im Arbeits-, Demografie-, Einwanderungs- und Teilhabepolitik zu korrigieren. Erst vor wenigen Tagen wurde in einem Regierungspapier zugegeben, dass Deutschland sich „noch stärker als attraktiver Arbeits- und Lebensstandort profilieren und seine Bemühungen um eine Willkommenskultur verstärken“ müsse. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Armin Laschet sprach davon, dass Deutschland seine „kollektive Körpersprache“ gegenüber Migranten ändern müsse.

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Die Zeiten, in der ideologisch voreingenommene Politiker und Entscheidungsträger die Ratschläge von Arbeitsmarkt-, Migrations- und Wirtschaftsexperten ignorierten, ändern sich scheinbar, wenn auch nur langsam. Zumal sogar die Bundesregierung von „Bemühungen um eine Willkommenskultur“ spricht, dann ist es nicht fern, dass die Union Deutschland nicht nur als „Integrationsland“ sieht, wie sie es derzeit tut, sondern auch als „Einwanderungsland“ anerkennt.

Äußerungen von einzelnen Mandatsträgern, den Fachkräftemangel aus dem Inland oder nur aus der EU zu kompensieren, kann man getrost als unseriös und unrealistisch abtun. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass nur wenige der Arbeitslosen im Inland für die fehlenden Jobs qualifiziert werden können. Experten raten jedoch auf Einwanderung. Und zwar auch außerhalb der EU. Denn sobald die Euro-Krise beendet ist, werde die Arbeitsmigration wieder schnell zurückgehen und Deutschland wird wieder vor neuen Schwierigkeiten in der Arbeitsmarkt- und Demografiepolitik stehen.

Deutsch-Türkischer Braindrain
Bedauerlicherweise kommen die Rufe nach einer Willkommenskultur für einige Hochschulabsolventen zu spät. Denn qualifizierte Bildungsinländer mit ausländischen Wurzeln wandern schon seit einigen Jahren aus. 2011 sind etwa 33.00 Menschen (2010 waren es 36.000) mit türkischem Pass, in der Regel türkischstämmige Menschen mit Hochschulabschluss von Deutschland in die Türkei ausgewandert. Im gleichen Zeitraum wanderten dagegen etwa 31.000 (2010 waren es 30.000) Türken nach Deutschland ein. Dieser Trend setzt sich schon seit 2006 ungebrochen fort. Ob sich eine Exportnation so einen Talentschwund im „Wettbewerb der Köpfe“ langfristig leisten kann?

Ausgrenzung vs. Gleichberechtigte Teilhabe
Die Zahlen zeigen jedenfalls, dass Deutschland zumindest für türkischstämmige Akademiker ein Auswanderungsland – Wissenschaftler gebrauchen daher schon seit einiger Zeit den Terminus „Postmigrationsland“ – geworden ist.

Immer mehr Unternehmen in Deutschland ändern aufgrund von öffentlich gewordenen Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen in der Einstellungspraxis ihre Bewerbungsformalitäten. Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen in Deutschland aufgrund ihres Namens, Herkunft, Aussehens oder Religion benachteiligt oder nicht eingestellt werden. Aus diesem Grund haben einige Unternehmen die anonymisierte Bewerbung eingeführt.

Wenn gleichberechtigte Teilhabe ernsthaft gewollt wird, dürfen sich staatlich/kommunale Einrichtungen, Wirtschaft und Gesellschaft der Heterogenität nicht verschließen. Nicht nur die Menschen persönlich, auch die Kommunen, Parteien, Behörden und Unternehmen müssen sich den Migranten öffnen und „Vielfalt als Chance“ im internationalen Wettbewerb begreifen. Das Bemühen und Umwerben deutscher Sicherheitsbehörden und -dienste um Menschen mit Migrationsbiografie ist seit Langem nicht zu übersehen und sollte ebenso beispielhaft für andere Bereiche sein. Daran könnten sich auch andere private wie öffentliche Einrichtungen orientieren. Beispielsweise gibt es seit dem Jahr 2006 die so genannte „Charta der Vielfalt“, die von den größten Arbeitgebern in Deutschland wie Daimler, BP, Deutsche Bank und der Deutschen Telekom mit dem Ziel der Förderung der Vielfalt in den Betrieben ins Leben gerufen wurde.

An den Zielen der „Charta der Vielfalt“, die gleichfalls von der Bundesintegrationsbeauftragten Böhmer (CDU) unterstützt wird, könnten sich auch weitere Arbeitgeber in Deutschland orientieren, sodass das Projekt auch auf Landes- und kommunaler Ebene übertragen wird, wo beispielsweise regionale und lokale Arbeitgeber und Behörden sich freiwillig – aber dennoch eigennützig – auf eine Quotenregelung einigen, in der sie z.B. einen bestimmten Teil ihrer Belegschaft aus Personen mit Einwanderungsgeschichte rekrutieren. Dieses Beispiel an positiver Diskriminierung findet in letzter Zeit vor allem bei den Frauen in Deutschland Anwendung und steigert die Teilnahme sowie Teilhabe von ihnen im Beruf. Klassische Einwanderungsländer profitieren seit Jahren von dieser Praxis.

Ausgrenzende Einstellungsmethoden auch im BMI?
Die Bewerber auf dem Jobmarkt dürfen nicht nach Herkunft, Religion oder Parteibuch, sondern müssen nach fachlicher und persönlicher Eignung beurteilt werden. Die jetzt bekannt gewordene Einstellungspraxis im Bundesministerium des Innern (BMI) zeigt ganz deutlich, wie es nicht geht. Nach Medienberichten („Die Welt“ und „Die Zeit“) würden im Ministerium „christliche“ Bewerber „entgegen der nach Fachqualifikation erstellten Bewerberrangliste“ bevorzugt behandelt. Die Tageszeitung „Die Welt“ spricht von „Bevorzugung von CDU-Mitgliedern, Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie von Bewerbern mit organisatorischer Ausrichtung an katholisch-konservative Organisationen“. Bewerberlisten seien auf „weltanschaulich genehme Kandidaten hin durchforstet und umsortiert“ worden. Behinderte Bewerber seien „erheblich benachteiligt“ und „bei Bewerbungsgesprächen manipulativen Fragestellungen ausgesetzt worden sein“. Das BMI und sein Zentralabteilungsleiter Paul Fietz (CDU), so zitiert „Die Zeit“ einen Mitarbeiter des Ministeriums, baue ein „konservativ-katholisches Juristennetzwerk“ auf und „dränge Andersdenkende an den Rand“. Es gebe Menschen in der BMI-Leitungsebene, die christlich-fundamentalistischen Kreisen anhingen und „nicht im islamischen Fundamentalismus, sondern im Islam allgemein eine Gefahr“ sähen. Stellt sich die Frage, ob solche Methoden sich nicht gegen die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ richten. Aktuell Meinung

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  1. Frank sagt:

    @Hasan Eker

    Sehr guter Beitrag,

    Nur so geht es, man muss ganz tief in die gesellschaftlichen Strukturen gehen um den Rassismus aufzubrechen .
    Und bitte nicht nur schwarz weiß denken, sondern auch den Rassismus und widerlichen Antisemitismus der türkisch-arabischen Community ansprechen und bekämpfen.

  2. Marie sagt:

    Das Thema Rassismus muss völlig unabhängig davon, ob Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht Einwanderer braucht, auf die Agenda gesetzt werden und mit wirtschaftlichen Erwägungen oder wirtschaftlichen Notwendigkeiten hat das nichts zu tun, finde ich. Wenn der Alltagsrassismus und der institutionelle Rassismus in diesem Lande nur deshalb ein Problem ist, weil Deutschland auf Einwanderer wirtschaftlich angewiesen ist, na dann gute Nacht,. Rassismus ist auch dann ein gravierendes Problem, wenn die rassistisch Diskriminierten keine dringend benötigten Fachkräfte und Leistungsträger sind und die Verwerflichkeit rassistischer Diskriminierung richtet sich nicht nach dem wirtschaftlichen Nützlichkeitsgrad der rassistisch Diskriminierten.

  3. Mitbuerger sagt:

    Vielen Dank Herr Bas,

    ein sehr informativer und ausgewogener Beitrag. Ich werde ihn weiter empfehlen.

  4. Ron sagt:

    1. Warum Bewerbungsfoto auf Lebenslauf ?
    2. Warum gibt keinen Aufnahmeprüfung / IQ Test für Einstiegspositionen ?
    3. Warum leuten die Europaische Ausländer sind (und kommt unten Eurocentric schönheitsstandard) sind betrachtet als Auslander ?
    4. Warum gibt so wenig Uneuropaer in Deutsche Großunternehmens (in UK / Amerika gibt so viel – bzw. Asiaten und Inder)
    5. Warum Auslanderin ist meistens Ost Asiatische frau, und fast niemals Asiatische man / Inder / Schwarz ?

  5. Gewerkschafterin sagt:

    „Rassismus“ ist eigentlich etwas anderes als der Autor vorgibt zu wissen. Und Hochschulabschlüsse existieren in Deutschland so viele wie Sand am Meer. Das sind alles keine Kriterien für einen Personalchef.
    Die Industrie ist in erster Linie an Leuten interessiert, die „Leistung“ erbringen. Da man bei einer Bewerbung letztlich nicht weiß, um wen es sich wirklich handelt – was ist ein Abschluss heute noch wert? – überprüft man nun mal die „Bonität“. Abitur in Bayern, gut, Abitur in Bremen schlecht. Geschieden schlecht, nicht geschieden prima, denn den kann man erpressen. So geht das.