Kısmet

Tabulose Festwochen

Es ist halb zehn abends. Meine Freundin und ich haben uns für einen gemütlichen Fernsehabend gerüstet, als das Telefon klingelt. Baba ist am anderen Ende der Leitung. Er will eine Liste an Osterpräsenten durchgeben. Nicht etwa für die Familie. Nein, am nächsten Tag steht sein Arztbesuch an und er will etwas für den Doktor, die Assistentin und die Vorzimmerdame. Das gehöre sich so.

Von Florian Schrodt Mittwoch, 03.04.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 05.04.2013, 0:12 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Da er gerade in der Leitung ist, will ich ihm für den Abend einen Filmtipp geben. „Todeszug nach Yuma“ steht an. Er ist doch so ein Westernliebhaber. Er fragt mich gleich, ob eine nächtliche Wiederholung kommt. Heute Abend hat er keine Chance, Anne will ihre türkische Serie gucken. Damit ist die Fernbedienung Sperrzone. Auf die sich anbahnende Diskussion können wir uns nicht einlassen.

Um nicht am nächsten Morgen früh raus zu müssen, wollen wir noch schnell in den Supermarkt und seine Mitbringsel organisieren. Aber seinen Witz müssen wir uns noch anhören. „Ein Mann kommt früher von der Arbeit nach Hause. Den Tag hat er voll Kopfzerbrechen verbracht, da er geträumt hatte, dass seine Frau ihn betrügen würde. Seine Gattin öffnet ihm bei seiner verfrühten Ankunft verlegen die Tür. Sogleich eilt er ins Schlafzimmer an den Kleiderschrank. Dort ist tatsächlich ein Mann versteckt. Tröstend nimmt er seine Ehefrau in den Arm und flüstert ihr eine Entschuldigung ins Ohr, bittet sie um Verzeihung. Das sei nicht der Mann, den er in seinem Traum gesehen habe“. Während meine Freundin und ich uns noch schlapp lachen, erfüllen wir den Auftrag und besorgen die Süßigkeiten.

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Morgens ist vom lustigen Baba nichts mehr wiederzuerkennen. Zum ersten Mal seit zwei Monaten verlässt er seine häusliche Burg und erbringt den Beweis, dass er nicht an seinem Sessel festgewachsen ist. Allerdings unter größter Anstrengung. Noch bevor wir das Auto erreichen, benötigt er eine Pause, um zu verschnaufen. Um auf Nummer sicher zu gehen, lässt er noch seine Sauerstoffflasche holen. Man weiß schließlich nie, wie seine Lunge reagiert. Aus Sorge um seinen Zustand fängt Anne an, Baba Dampf zu machen. Sie ist zwar wahrscheinlich selbst in größter Aufregung ob der bevorstehenden Odyssee, dennoch will sie Baba antreiben, weil er nur allzu oft auf jegliche Bewegung verzichtet. Zum Glück habe ich Anne den Beifahrersitz überlassen, sonst würde sie ihre Aufforderung sicherlich mit ein paar sanften Schlägen auf Babas Hinterkopf Nachdruck verleihen. Dafür sitze ich nun schweigsam in der verbalen Frontlinie.

Beim Arzt gibt es einen Aufzug. Ich wüsste nicht, wie wir andernfalls in Babas körperlicher Verfassung je den zweiten Stock erreichen sollten. Im Wartezimmer angekommen, will Baba, dass ich ihm seinen Rücken kratze. Nebenwirkungen der Medikamente. Anne und meine Freundin stimmen einen Kanon an, dass sich das nicht gehöre. Ich tue es trotzdem und erhalte dafür ein sanftes Tätscheln und erleichtertes Lächeln von Baba. Er hat sich sichtlich akklimatisiert und beginnt zu erzählen.

Ungünstigerweise liegt auf dem Lektürentisch eine Abhandlung zum Zweiten Weltkrieg. Baba fängt an, sein historisches Wissen zu präsentieren. Schon als kleiner Junge war er ein Bücherwurm und hat sich autodidaktisch ein beträchtliches Allgemeinwissen angeeignet. Irgendwie komisch, in einem deutschen Wartezimmer eines Arztes über Hitler zu diskutieren. Und das nicht gerade dezent. Während Baba akustisch lauter wird, werden die umliegenden Anwesenden immer schweigsamer. Für ihn sind es historische Tatsachen, für alle anderen eher Tabuthemen. Annes Kopf ist derart von Röte gezeichnet, dass es aussieht, als ob sie den umstehenden Wasserspender zum Kochen bringen wolle. Meine Freundin versucht zu intervenieren, man könne bei den Deutschen nicht derart „darüber“ sinnieren. „Was denn“, fragt er, „ich mag die Deutschen“ und grinst mich an. Anne stimmt mit ein und lobt mich überschwänglich. Ich sei ihr Goldstück. Baba nimmt dies als Anlass zu betonen, er kenne sich mit den starken Schwankungen des Goldkurses in der Türkei aus, ich solle nicht zu viel Wert darauf legen. Meine Freundin verdreht die Augen. Als sie ihm erfolgreich das Wort entzogen hat, wechselt Baba einfach das Thema. Nun doziert er über das unersetzbare Erbe Atatürks. Er habe der Türkei Wohlstand, eine kulturelle Identität und einen unverzichtbaren Laizismus gebracht. Er redet sich in Rage. Während meine Freundin nach wie vor peinlich berührt ist, stimmt diesmal Anne mit ein. Sie sagt, religiös sein, sei eine private Sache. Baba korrigiert sie verschmitzt und erhält als Dank den sich schon lange abzeichnenden Hieb auf den Hinterkopf. Ich habe das Gefühl, dass sich Erleichterung breitmacht, als alle Familienmitglieder in Richtung Behandlungszimmer entschwinden. Zu früh gefreut. Denn nach dem Check steht noch eine Spritze an, darauf müssen wir jedoch 15 Minuten warten.

Baba, der selbst Illustriertenverbot erhalten hat, schaut seiner Tochter über die Schulter, die in einem Lifestylemagazin blättert. Auf jeder zweiten Seite will er wissen, ob sie dies oder jenes gekauft haben will. Wenn seine Tochter dies wünsche, mache er das gerne. Seinem diskussionsfreudigen Auftritt zum Trotz schleppt er sich nach abgeschlossener Behandlung zum Wagen zurück.

Wir beschließen ein gemeinsames Frühstück. In die Stadt müssen wir ohnehin nochmal, da sie noch geometrische Bilder für eine Passverlängerung brauchen. Ich verzichte auf eine Korrektur, da ich dies auf dem Hinweg schon mehrfach versucht habe. In ein paar Wochen steht dann ein Ausflug zum Konsulat an. Hierfür wird schon an einer Strategie gefeilt. Zum einen logistisch (wegen Babas körperlichem Zustand), zum anderen moralisch. Denn Anne und Baba sind sauer. Das Konsulat verlangt nämlich die persönliche Anwesenheit meiner Schwiegereltern. Alternativen ausgeschlossen, es sei denn, man hole sich eine gerichtliche Bescheinigung, die man auch nur durch persönliche Anwesenheit erhalten kann, wie der Mann am Telefon in Ankara sagte, an dem man nach dutzenden vorherigen Telefonaten verwiesen wurde. Das kann auch nochmal Diskussionen geben. Auf dem Weg zum Frühstück läuft Anne bereits auf Hochtouren. Sie sei 71 Jahre und lebe seit fast 50 Jahren in Deutschland. Was soll also dieser bürokratische Irrsinn? Wir werden sehen, wie man mit ihrem Temperament im Konsulat umgeht.

Babas Schwächephase nimmt allmählich ein Ende, nachdem wir in ein schickes Café eingekehrt sind. Mit jedem Bissen nimmt er scheinbar neue Energie zu sich und blüht in Erinnerungen auf, während er sichtlich bequem in einem Sessel lehnt. Am Ende läuft er wieder zu alter Form auf, scherzt mit der Kellnerin und hält einen Plausch mit den Tischnachbarn. Seine Hochphase sollte auch noch an Ostern halten.

Meine Schwiegereltern fungieren sonntags als Brunchgastgeber. Diese Rolle füllt insbesondere er mit großem Wohlwollen aus. Die Familie um sich, ein voll gedecktes deutsch-türkisches Buffet vor sich, da gibt es keinen Grund zu meckern. Lediglich hinsichtlich der Frikadellen muss er meine Mutter belehren. Zu hart. Nur Rindfleisch ginge nicht, da müsse noch Schwein rein. Und schon ist er wieder bei einer alten Anekdote und erzählt, wie er sein erstes Spießbratenbrötchen in Deutschland aß. Es hat offensichtlich nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Anne, die stets versucht, den Schweinefleischgenuss der Familie in Grenzen zu halten, empfiehlt ihrem Gatten, sich doch gleich ein Hausschwein anzuschaffen. Alle grölen, mein Schwager und ich versuchen insgeheim diesen „Partykracher“ (leihweise) für seinen Geburtstag in ein paar Wochen zu organisieren. Meine Freundin schiebt mir unterdessen ihren restlichen Börek rüber. Ich kann nicht mehr, muss aber trotzdem. Es ist günah (Sünde), Reste zu hinterlassen. Ich brauche einen Schluck Tee aus meiner passenden Weihnachtstasse. Völlig erschöpft vor Völlerei erhalte ich von meiner Mutter eine kleine Massage, Anne umarmt mich ihrerseits und betont, ich sei auch ihr Sohn. „50 Prozent meiner, 50 Prozent deiner“, sagt sie zu meiner Mutter.

Die Feier neigt sich dem Ende zu. Nun geht es für mich und meine Freundin zu meiner Oma. Dort wartet schon das nächste Mahl. Ich werde mich wohl meiner besseren Hälfte anschließen müssen und auch einen „Kümmel“ mit meinem Onkel trinken (wie es bei den beiden mittlerweile Tradition ist). Sonst platze ich. Ich schaue entsprechend gequält. Baba hingegen strahlt wie ein kleiner Junge. Die Gesellschaft tut ihm gut. Im wahrsten Sinne des Wortes Festwochen für ihn. Er begleitet uns zur Tür und nimmt seine Frau in den Arm. „Ein guter Tag, fıstık“ (meine Hübsche), sagt er zu ihr. Sie nennt ihn liebevoll „yavrum“ ( mein Baby). Ein schöner Ausklang. Auf die nächsten Feste! Inşallah (So Gott will). Aktuell Meinung

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  1. Feriah F. sagt:

    Ich liebe ihre Kolumne Herr Schrodt,
    Sie haben eine tolle Familie und so Weltoffen, einfach wunderbar.
    Freu mich jetzt schon auf die Geschichte mit dem Hausschwein :-)

  2. Florian Schrodt sagt:

    Liebe Feriah,
    Ich freue mich sehr, dass Sie Ihr Interesse hier immer so herzlich zum Ausdruck bringen. Vielen Dank dafür. :-) was ich an meiner Familie am meisten schätze, sind die engen Bande und die gegenseitige Fürsorge. Das habe ich hier in einer selten intensiven Form erfahren dürfen. Zudem war der Blick in die Lebensgeschichte von einmaligen Menschen eine enorme Erfahrung. So erfährt man, warum diese Menschen sind, wie sie sind. In diesem Fall einfach toll. Ich werde versuchen, auch vom Hausschwein zu berichten. Bleiben Sie mir gewogen :-)
    Viele Grüße
    Florian