Kısmet
Ich denke, also bin ich Türke
Manchmal erscheinen mir Anne und Baba so gegensätzlich wie die Türkei. Moderne und Tradition. Während ich darüber nachdenke, nehme ich einen Bissen. Heute gibt es Burger, weil bei der Aufregung über die Demonstrationen am Taksim Platz in Istanbul niemand ans Kochen denkt.
Von Florian Schrodt Mittwoch, 19.06.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 21.06.2013, 4:04 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
„Grüß dich des“, entgegnet Anne 1 aufgeregter als sonst, mit einem Bein im Hausflur, mit beiden Armen mir um den Hals fallend. Dieser Satz ist schon fast so etwas wie Annes Markenzeichen geworden. „Wie geht es mein Sohn?“, dicker Kuss links, dicker Kuss rechts und noch einmal fest umarmen. So viel Zeit muss trotz alle der Aufregung sein.
Einmal in Aufruhe hat Baba 2 auch gleich etwas an ihrem Deutsch auszusetzen. Sie ist pikiert. „Was?! Mein Deutsch ist besser als deins. Dein Deutsch scheiße“. Und Baba erwidert üblicherweise etwas in der Art wie „egal scheiße“. Worauf hin er wiederum von uns korrigiert wird. Aber er gibt nicht nach: „Scheißegal oder egalscheiße, alles scheiße.“ Als wäre es sein Stichwort, deutet er auf die Demonstrationen, die im Fernseher laufen. Mit einer Lautstärke, als wäre der Gezi Park in Istanbul direkt vor der Haustür.
Deutsch werde ich von meinen Schwiegereltern nicht mehr lernen. Wenn ich nicht langsam meinen Hintern hochbekomme, dann wohl auch kein Türkisch mehr. Dafür durfte ich viele andere Dinge durch meine deutsch-türkische Familie kennenlernen, wofür ich so dankbar bin.
Ich möchte gerne die Türkei, dort wo die Wurzeln eines Teils meiner Familie liegen, besser verstehen. Seit sechs Jahren versuche ich, die türkische Seele zu verstehen. Es gelingt mir nicht so recht. Aber ich verstehe zumindest die Entrüstung meiner Familie über die Geschehnisse in der Türkei. Meine Schwiegereltern sind wunderbare Menschen. Sie nahmen mich im Schoß der Familie auf, schenken Geborgenheit, geben mir Denkanstöße, Einblicke in ihren Erfahrungsschatz, in ihre Kultur und öffnen mir Tore in neue Welten. Das war es, was Baba immer wollte. Erleben, Lernen, Staunen. Anne war dabei seine stete Konstante, die ihm Rückhalt und Mahnerin zugleich war, wenn er zu viel Neues wagen wollte.
Manchmal erscheinen mir die beiden so gegensätzlich wie die Türkei selbst. Moderne und Tradition. Während ich darüber nachdenke, nehme ich einen Bissen. Heute gibt es Burger, weil bei der Aufregung niemand ans Kochen denkt. Am Ende darf ich bestimmt wieder Reste verzehren. Sonst ist es Günah 3. Oder wir haben kein Bereket 4. Stattdessen gibt es Wortgefechte. Anne schreit entrüstet, dass ihre Ministerin „Merkel“ sei. Sie nickt jedoch auch heftig, als Baba ergänzt, sie solle Atatürk nicht vergessen. Er habe in kürzester Zeit Unglaubliches geleistet. Uns eine Identität gegeben. Wo wären wir ohne ihn.
Während ich vor mir hinkaue, denke ich an eine Türkei, wie sie mir mein Schwiegervater durch seine Erzählungen lebendig werden lässt. Ein junger Mann im adretten Anzug. Eine stolze Frau an seiner Seite im schicken Kostüm. Aber auch eine gläubige Großmutter im Kopftuch, die sich dennoch an den Spaghettiträger-Kleidchen ihrer Enkelinnen erfreut. An seine Kinogänge. Seinem Traum von einem Cadillac. Vom blühenden Leben am Bosporus. Traurigen, aber hoffnungsvollen Momenten in der nächtlichen Brise bei einem einsamen Çay 5. Rakı mochte er nie so recht, aber alte Geschichten von Hodschas und von Sultanen.
Als Baba geboren wurde, war die türkische Republik noch nicht einmal sieben Jahre alt. Wahrscheinlich ist er deshalb so, wie er ist. Ein Mensch voller Sehnsucht. Babas atatürksches Türkeibild ist gezeichnet von Tradition und Werten, aber eben auch von Bürgerlichkeit, Laizismus und Moderne. Von der Sehnsucht nach einer stolzen Identität. Von der Diskussion, die gegen die Lautstärke des Fernsehens ankämpft, als wären wir direkt auf dem Taksim Platz, bekomme ich nur wenig mit.
Unterbrochen werden meine Gedanken von Babas energischen Tätscheln auf meiner Schulter. „Cogito ergo sum“, sagt er abrupt. Sichtlich stolz auf seinen kleinen Bildungsschatz. Denken sei wichtig, ergänzt er. Die Leute sollen lernen, hinterfragen und Dinge nicht hinnehmen. Wer freies Leben verbietet, verbietet freies Denken, meint er. Natürlich glaube er an Gott. Und an die Propheten. Aber was hat das mit Politik zu tun? Er glaube, aber er müsse zuerst denken… er gerät ins Stocken.
Er müsse an seine Familie denken. An das Leben, das er mit ihnen genießen will. Er will streben. Er ist eben gezeichnet von der atatürkschen Republik. Von einer Zeit, als man erwartungsfroh einer noch jungen Idee von einer Zukunft entgegenstrebte. Die Gegenwart ist Deutschland. Sein Wohnzimmer. Ist sein Türkeibild etwa sentimentale Vergangenheit?
Das Telefon klingelt. Es sind die Verwandten aus Istanbul. Das Schlagen der Töpfe aus der Leitung ist fast synchron mit den Klängen aus dem Fernseher. Hektische Diskussionen. Zu Hause in Istanbul wollen sie gerne demonstrieren, trauen sich aber nicht. Zu groß ist die Angst vor der Omnipräsenz des Staatsapparates. Sie beklagen dieselben Dinge wie Baba und Anne.
Baba fällt in seinen philosophischen Gedanken zurück. Wer nicht frei seine Meinung äußern könne, könne auch nicht frei denken. Dafür habe Atatürk gekämpft. Um eine stolze, moderne und freie Türkei aufzubauen. Dieses Erbe müsse man bewahren. Als gerade Erdogan ins Bild tritt und verkündet, dass vor ihm die richtige Türkei zu sehen sei, schüttelt Baba nur den Kopf. Anne hetzt inzwischen zur Tür. „Grüß dich des“, hört man aus dem Flur. Es ist meine Schwägerin. Sie eilt zu uns und steigt gleich in die Diskussion ein. In voller Aufgeregtheit fragt sie mich: „Verstehst du denn nicht, was das zu bedeuten hat?“ Ich verstehe es in der Tat nicht ganz. Aber ich denke, dass ich Baba verstehe. Währenddessen werden mir die restlichen Pommes vorgesetzt. Ich solle essen, man könne doch keine Reste lassen. Ich höre nur halb zu, weil ich noch am Grübeln bin. Insgeheim hoffe ich, dass der Schlüssel zur türkischen Seele in Babas Erzählungen steckt. Er ist ein guter Mann. Maşallah 6.
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„Zu Hause in Istanbul wollen sie gerne demonstrieren, trauen sich aber nicht. “
Das stimmt so nicht. Wer zivilisiert protestiert, keine Steine und Molotowcocktails wirft, den Verkehr nicht blockiert und eine Demo-Erlaubnis hat, darf protestieren. Vor der AKP wäre bei einer solchen Demo längst die Armee einmarschiert, manchmal denke ich die Leute sind einfach undankbar was die AKP geleistet hat. Ich würde gerne ihren netten Schwiegervater fragen, ob sein geliebter Atatürk jemals so einen Aufstand geduldet hätte und da war doch was mit dem Dersim Aufstand, der mit Befehl Atatürks brutal niedergeschlagen wurde, die Heldin dieses Massakers (Sabiha Gökcen=Flughafen in Istanbul) wird immer von den Kemalisten gefeiert, aber eine Brücke mit dem Namen Yavuz Selim ist ein Skandal. Tut mir Leid, aber es gibt einige Ungereimtheiten im Denken der Atatürk-Anhänger. Trotzdem scheint mir ihr Schwiegervater ein Netter zu sein.
Selamlar
Nun, was Atatürk betrifft kommt es vor allem darauf an was aus seinen guten Ansätzen gemacht wurde und weiter gemacht werden kann.
Wer Gewaltfreiheit im Umgang mit politischen und religiös orientierten Gegnern vertritt kann sich natürlich nicht auf Atatürk berufen … aber er kann sich zum Beispiel auf Atatürk berufen, wenn es um die Stabilisierung und weitere Entfaltung von Frauenrechten geht … oder wenn es darum geht den repressiven Einfluss von Religion aus der Staatsführung rauszuhalten und auf vieles mehr …
Atatürk bietet Anlass zur Kritik genauso wie Anlass zur Bewunderung letzteres vor allem für seinen Modernisierungskurs, der im Kern ein Kurs für mehr Freiheitsrechte und überhaupt für eine angemessene Rechtsprechung war, trotz aller Unzulänglichkeiten, die es sicher auch diesbezüglich gab und gibt …
Josef Özcan (Diplom Psychologe)
In der politik läuft nicht alles gerecht, aber was Erdogan macht auch nicht…er verdreht alles. Alles was nicht passt wird passend gemacht… ich Frage mich: er kam aus armen Verhältnissen, wie Reich ist er den aufeinmal geworden??
Ich kann ihren Schwiegervater sehr gut verstehen… Man kann nur Kopf schütteln, wenn der Herr Ministerpräsident Erdogan anfängt zu reden. Mag sein das er viel gutes getan hat, aber das entschuldigt und rechtfertigt nicht seine Art und Weise wie er mit der Bevölkerung umgeht, die nicht seiner Meinung und Vorstellung, der neuen jetzigen wahren Türkei (wie Erdogan so schön in seiner rede sagt) sind oder teilen. Alle einsperren, es sind Terroristen, Gesindel ect. Ja ja nur der Herr Erdogan hat recht!
Es lebe die Demokratie!
Es lebe Atatürk in unserem Herzen und Gedanken.
Man darf nicht außer Acht lassen, dass Erdogan eine Menge für die Minderheiten in der Türkei geleistet hat: angefangen mit den Kurden bis hin zu Entschädigungszahlungen an Armenier auf Grund der Zwangsenteignungen während des 1. Weltkrieges. Keine Regierung vor ihm hat das bislang getan!
Wasserwerfer und Tränengas werden auch hierzulande bei eskalierenden Demonstrationen eingesetzt. Aber sich auf einem Podest stellen und mit dem Finger auf die Türkei zu zeigen, ist ziemlich heuchlerisch!
@Wolfsburg Danke für ihre doch recht differenzierte Betrachtung, auch wenn ich diese inhaltlich nur bedingt teile. Es ist doch so eine Definitionssache, was friedliche Demonstration (und angemeldet) bedeutet, wenn die staatlichen Institutionen ihrerseits mit Gewalt und „Brandmarkung“ der Beteiligeten reagieren. Darüber lässt sich sicherlich sehr eingehend diskutieren. In Bezug auf Atatürk möchte ich mich gerne @Joseph anschließen, besser kann ich es ad hoc auch nicht zusammenfassen.
@Selim sicher hat er auch politisch etwas geleistet. Die Leistungen erhalten aber dann einen Beigeschmack, wenn man sich in autokratischer Weise auf ein Podest/Podium stellt und per se anders Denkende die staatliche Zugehörigkeit abspricht. Demokratischer Erfolg hängt immer auch von Selbstreflexion, Empathie sowie der Anerkennung für die verschiedenen Meinungen innerhalb eines Landes ab. Das vermisse ich doch sehr.
Grüße
Florian
@Selim ps: als heuchlerisch und opportunistisch empfinde ich, wenn der gewählte Repräsentant eines gesamten Staates sich nur um eigene Befindlichkeiten und die seiner Klientel bemüht.